RECORD: Darwin, C. R. 1871. Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl. Translated by J. V. Carus. 2d edition. Stuttgart: Schweizerbart. Volume 1

REVISION HISTORY: Images courtesy Biodiversity Heritage Library. http://www.biodiversitylibrary.org. OCRed by John van Wyhe 5.2008. RN1

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Abstammung des Menschen

und

die geschlechtliche Zuchtwahl.

Erster Band.

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In der E. Sclnveizcrbart'sehen Verlagshandlung (E. Koch) in Stuttgart sind ferner erschienen:

Charles Darwin

über die

Entstehung der Arten

durch natürliche Zuchtwahl

oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe mn's Dasein.

Aus dem .Englischen übersetzt von H. G. Broun.

Nach der 5. englischen sehr vermehrten Auflage durchgesehen u. berichtigt

von J. Victor Carus.

Vierte Auflage.

Mit dem Portrait des Verfassers.

Preis broch. . 3. — oder f£. 5. 15, in Leimv. geb. &g. 3. 10. /£. 5. 51.

Das Variiren der Thiere und Pflanzen

im Zustande der Domcstication

von Charles Darwin.

Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus. Zwei Bande mit 43 Holzschnitten. Preis Rthlr. 6. 10 oder fl. 11. — Obiges Werk enthält einen Schatz von Thatsachen und Untersuchungen als

weitere Ausführung der in der „Entstehung der Arten" aufgestellten Lehrsätze.

und ist es als solches den Käufern dieses Werkes beinahe unentbehrlich.

lieber die Einrichtungen zur Befruchtung

britischer und ausländischer Orchideen

durch Insecten und über die günstigen Erfolge der Weeiiselbefruchtuiig

von

Charles Darwin.

MU34 Holzschnitten.

Aus dem Englischen übersetzt von Dr. H. G. Bronn.

Preis Rthlr. 1. 12 oder fl. 2. 20.

Kurze Darstellung der Lehre Darwin's

über die

" Entstehung der Arten fler Organismen.

Mit erläuternden Bemerkungen und 38 Holzschnitten

von

Dr. Julius Dub,

Professor in Kerlin.

Preis Rthlr. 2. — fl. 3. 30.

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Die

Abstammung des Menschen

und die geschlechtliche Zuchtwahl

von

Charles Darwin.

Aus dem Englischen übersetzt

von

J. Victor Carus.

In zwei Banden.

I. Band.

Mit fll n Cunilzwanzig Holzschnitten. Zweite nach der letzten Ausgabe des Originals berichtigte Auflage.

STUTTGART.

E. Schweizfti'bavt'sclie VorbigshaudluNg (E. Kocn). 1871.

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Druck \on Fr. Schweizer bar t in Stuttgart.

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Inhalt.

Einleitung..................b. I.

Erster Tlieil: Die Abstammung des Menschen.

Erstes Capitel.

Thatsachen, welche für die Abstammung des Menschen von einer niederen Form zeugen.

Natur der Beweise für den Ursprung des Menschen. — Homologe Bildungen beim Menschen und den niederen Thieren. — Verschiedene Punkte der Ueberein-stimmung. — Entwickelung. — Rudimentäre Bildungen, Muskeln, Sinnesorgane, Haare, Knochen, Reproductionsorgane u. s. w. — Die Tragweite dieser drei grossen Classen vou Thatsachen in Bezug auf die Entstehung des Menschen......................S. 7.

Zweites Capitel.

Vergleichung der Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Thiere.

Die Verschiedenlieit in den geistigen Kräften zwischen dem höchsten Affen und dem niedersten Wilden ist ungeheuer. — Gewisso Instincte sind gemeinsam.

—  Gemüthshewegungen. — Neugierde. — Nachahmung. — Aufmerksamkeit.

—  Gedächtniss. — Einbildung. — Verstand. — Progressive Vervollkommnung. — Von Thieren gebrauchte Werkzeuge und Waft'en. — Sprache. — Selbstbewusstsein. — Gefühl für Schönheit. — Glaube an Gott, spirituelle Kräfte; Aberglaube..................S. 28.

Drittes Capitel.

Vergleichung der Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Thiere (Fortsetzung).

Das moralische Gefühl. — Fundamentalsatz. — Die Eigenschaften socialer Thiere

—  Ursprung der Fähigkeit zum Geselligleben. — Kampf zwischen entgegengesetzten Instincten. — Der Mensch ein sociales Thior. — Die ausdauernden socialen Instincte überwinden andere weniger beständige Tnstincte. — Sociale Tugenden von Wilden allein geachtet. — Tugenden, die das Individuum bctref-

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VI

fcn, erst auf späterer Entwicklungsstufe erlangt. — Bedeutung der Urthcile über das Benehmen von Mitgliedern derselben Gesellschaft. — Ueberliefe-rnng moralischer Neigungen. — Zusammenfassung.......S. 59.

Viertes Capitel.

Ueber die Art der Entwiekelung des Menschen aus einer niederen Form.

Variabilität des Körpers und Geistes beim Menschen. — Vererbung. — Ursachen der Variabilität. — Gesetze der Abänderung sind dieselben beim Menschen und den niederen Thieren. — Directe Wirkung der Lebensbedingungen. — Wirkungen des vermehrten Gebrauchs und des Nichtgebrauchs von Theilen. — Entwickelungshemrnungen. — Rückschlag. — Correlative Abänderung. — Verhältniss der Zunahme. — Hindernisse der Zunahme. — Natürliche Zuchtwahl. — Der Mensch das herrschendste Thier auf der Erde. — Bedeutung seines Körperbaues. — Ursachen, welche zu seiner aufrechten Stellung führten. — Von dieser abhängende Aenderungen des Baues. — Grössenab-nahme der Eckzähne. — Grössenzunahme und veränderte Gestalt des Schädels. — Nacktheit. — Fehlen eines Schwanzes. — Vertheidignngslosor Zustand des Menschen.................S. 92.

Fünftes Capitel.

Ueber die Entwiekelung der intelleetuellen und moralischen Fähigkeiten während der Urzeit und der civilisirten Zeiten.

Fortschritt der intelleetuellen Kräfte durch natürliche Zuchtwahl. — Bedeutung der Nachahmung. — Sociale und moralische Fähigkeiten. — Ihre Entwiekelung innerhalb der Grenzen eines und desselben Stammes. — Natürliche Zuchtwahl in ihrem Einflüsse auf civilisirte Nationen. — Beweise, dass civi-Hsirte Nationen einst barbarisch waren...........S. 137.

Sechstes Capitel.

Ueber die Verwandtschaften und die Genealogie des Menschen.

Stellung des Menschen in der Thierreihe. — Das natürliche System ist genealogisch. — Adaptive Charactere von geringer Bedeutung. — Verschiedene kleine Punkte der Uebereinstimmung zwischen dem Menschen und den Qua-drumanen. — Rang des Menschen in dem natürlichen Systeme. — Gebnrts-stelle und Alter des Menschen. — Fehlen von fossilen Uebergangsgliedern. — Niedere Stufen in der Genealogie des Menschen, wie sie sich erstens aus seinen Verwandtschaften und zweitens ans seinem Baue ergeben. — Früher hermaphroditer Zustand der Wirbelthiere. — Schluss.....S. 161.

Siebentes Capitel.

Ueber die Rassen des Menschen.

Die Beschaffenheit und der Werth specifischer Merkmale. — Anwendung auf die Menschenrassen. — Argumente, welche der Betrachtung der sogenannten

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VII

Menschenrassen als distincter Species günstig und entgegengesetzt sind. — Subspecies. — Monogenisten und Polygenisten. — Convergenz des Cha-racters. — Zahlreiche Punkte der Uobereinstimmung an Körper und Geist zwischen den verschiedensten Menschenrassen. — Der Zustand des Menschen, als er sich zuerst über die Erde verbreitete. — Jede Rasse stammt nicht von einem einzelnen Paare ab. — Das Aussterben von Rassen. — Die Wirkung der Kreuzung. — Geringer Einfluss der directen Wirkung der Lebensbedingungen. — Geringer oder kein Einfluss der natürlichen Zuchtwahl. — Geschlechtliche Zuchtwahl...............S. 188.

Zweiter Theil: Geschlechtliche Zuchtwahl.

Achtes Capitel.

Grundsätze der geschlechtlichen Zuchtwahl.

Secundäre Sexnalcharactere. — Geschlechtliche Zuchtwahl. — Art und Weise der Wirkung. — Ueberwiegen der Männchen. — Polygamie. — Allgemein ist nur das Männchen durch geschlechtliche Zuchtwahl modificirt. — Begierde des Männchens. — Variabilität des Männchens. — Wahl vom Weibchen ausgeübt. — Geschlechtliche Zuchtwahl verglichen mit der natürlichen. — Vererbung zn entsprechenden Leben sperioileii, zu entsprechenden Jahreszeiten und durch das Geschlecht beschränkt. — Beziehungen zwischen den verschiedenen Formen der Vererbung. — Ursachen, weshalb das eine Geschlecht und die Jungen nicht durch geschlechtliche Zuchtwahl modificirt werden.— Anhang: über die proportionalen Zahlen der beiden Geschlechter durch das ganze Thierreich. — Ueber die Beschränkung der Zahlen der beiden Geschlechter durch geschlechtliche Zuchtwahl..........S. 223.

Neuntes Capilel.

Secundäre Sexualcharactere in den niederen Classen des Thierreichs.

Derartige Charactere fehlen in den niedersten Classen. — Glänzende Farben. — Mollusken. — Anneliden. — Crustaceen, secundäre Sexnalcharactere hier stark entwickelt; Dimorphismus; Farbe; Charactere, welche nicht vor der Reife erlangt werden. — Spinnen, Geschlechtsfarben derselben; Stridulation der Männchen. — Myriapoden .............S. 288.

Zehntes Capilel. Secundäre Sexualcharactere der Insecten.

Verschiedenartige Bildungen, welche die Männchen zum Ergreifen der Weibchen besitzen. — Verschiedenheiten zwischen den Geschlechtern, deren Bedeutung nicht einzusehen ist. — Verschiedenheit zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Grösse. — Thymniint. — Diptera. — Ilemiptera. — Homo-pterci; Vermögen, Töne hervorzubringen, nur im Besitze der Männchen. — Or-ilwptera; Stimmorgane der Männchen, verschiedenartig in ihrer Structur;

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VIII

Kampfsucht; Färbung. — Neuroptera; sexuelle Verschiedenheiten in der Färbung. — Hymenoptera; Kampfsucht und Färbung. — Coleoptera; Färbung; mit grossen Hörnern versehen, wie es scheint, zur Zierde; Kämpfe; Stridulationsorgane allgemein beiden Geschlechtern eigen . . . . S. 305.

Elftes Capitel.

Insecten. (Fortsetzung.) Ordnung Lepidoptera.

Geschlechtliche Werbung der Schmetterlinge. — Kämpfe. — Klopfende Geräusche. — Farben beiden Geschlechtern gemeinsam oder brillanter bei den Männchen. — Beispiele. — Sind nicht Folge der directen Wirkung der Lebensbedingungen. — Farben als Schutzmittel angepasst. — Färbungen der Motten. — Entfaltung. — Wahrnehmungsvermögen der Lepidoptern. — Variabilität. — Ursachen der Verschiedenheiten in der Färbung zwischen den Männchen und Weibchen. — Helle Farben der Raupen. — Zusammenfassung und Schlussbemerkungen über die seciindären Sexualcharactere der Insecten. — Vögel und Insecten mit einander verglichen.......S. 344.

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Einleitung.

Die Natur des vorliegenden Buches wird am besten verstanden werden, wenn ich kurz angebe, wie ich dazu kam, es zu schreiben. Viele Jahre hindurch habe ich Notizen über den Ursprung oder die Abstammung des Menschen gesammelt, ohne einen mir etwa vorschwebenden Plan, über den Gegenstand einmal zu schreiben, vielmehr mit dem Entschluss, dies nicht zn thnn, da ich glaubte, dass ich dadurch nur die Vorurtheile gegen meine Ansichten verstärken würde. Es schien mir hinreichend, in der ersten Ausgabe meiner „Entstehung der Arten" darauf hinzuweisen, dass durch dieses Buch auch Licht auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte geworfen worden würde, und diese Andeutung schloss doch den Gedanken ein, dass der Mensch bei jedem allgemeinen Schluss in Bezug auf die Art der Erscheinung aller andern organischen Wesen auf der Erde mit inbegriffen sein müsse. Gegenwärtig trägt die Sache ein vollständig verschiedenes Ansehen. Wenn ein Naturforscher wie Carl Vogt in seiner Eröffnungsrede als Präsident des Nationalinstitnfcs von Genf (1869) sagen darf: »personne, en Europe an moins, n'ose plus soulenir la ereation independante et de toutes pieces, des csperes," so niuss doch offenbar wenigstens eine grosse Zahl Naturforscher der Annahme zugethan sein, dass Arten die modificirfen Nachkommen anderer Arten sind; und vorzüglich gilt dies für die jüngeren und aufstrebenden Naturforscher. Die grössere Zahl nimmt die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl an, obschon Einige, ob mit Recht, niuss die Zukunft entscheiden, hervorheben, dass ich deren Wirksamkeit bedeutend überschätzt habe. Von den älteren und angeseheneren Häuptern der Naturwissenschaft sind unglücklicherweise noch viele gegen eine Entwickelung in jeglicher Form.

In Folge der von den meisten Naturforschern, denen schliesslich, wie in jedem andern Falle, noch andere folgen werden, jetzt angenommenen Ansichten bin ich darauf geführt worden, meine Notizen zusammenzustellen, um zu sehen, wie weit sich die allgemeinen Schluss-

Darwis, Abstammung. I. Zwpite Auflage.                                                     1

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Einleitung.

folgerungen, zu denen ich in meinen früheren Schriften gekommen war, auf den Menschen anwenden lassen. Dies schien um so wünschens-werther, als ich diese Ansichten noch niemals mit Absicht auf eine Art einzeln genommen angewendet hatte. Beschränken wir unsere Aufmerksamkeit auf irgend eine Form, so entbehren wir die gewichtigen Beweismittel, die aus der Natur der Verwandtschaft, welche grosse Gruppen von Organismen unter einander verbindet, ans ihrer geographischen Vertheilung in der Gegenwart und in vergangenen Zeiten und aus ihrer geologischen Aufeinanderfolge fliessen. Es müssen ferner noch die homologen Bildungen, die embrj'Oiiale Entwickehing und die rudimentären -' Organe einer Art, mag dies nun der Mensch oder irgend ein anderes Thicr, auf welches sich unsere Aufmerksamkeit richtet, sein, noch betrachtet werden. Diese grossen Classen von Thatsachen bieten allerdings , wie es mir scheint, umfassende und endgültige Zeugnisse zu Gunsten des Princips einer stufenweise« Entwickehing dar; indessen sollte man die kräftige Unterstützung anderer Argumente deshalb doch immer vor Augen halten.

Die einzige Aufgabe dieses Werks ist erstens, zu betrachten, ob der Mensch, wie jede andere Species, von irgend einer früher existiren-den Form abstammt, zweitens, die Art seiner Entwickehing, und drittens, den Werth der Verschiedenheiten zwischen den sogenannten Menschenrassen zu untersuchen. Da ich mich auf diese Fnnkte beschränken werde, so wird es nicht nothwend'ig sein, im Einzelnen die Verschiedenheiten zwischen den verschiedenen Rassen zu beschreiben; es ist dies ein äusserst umfangreicher Gegenstand, welcher in vielen werthvollen Werken ausführlich erörtert worden ist. Das hohe Alter des Menschen ist in der neueren Zeit durch die Bemühungen einer Menge ausgezeichneter Männer nachgewiesen worden, zuerst von Bouchek de Perthes; und dies ist die unentbehrliche Grundlage zum Verständniss seines Ursprungs. Ich werde daher diesen Beweis für erbracht annehmen und darf wohl meine Leser auf die vorzüglichen Schriften von Sir Charles Lyell, Sir John Lub-bock und Anderen verweisen. Auch werde ich kaum Veranlassung haben mehr zu thun, als auf die Grösse der Verschiedenheiten zwischen dem Menschen und den anthropomorphen Affen hinzuweisen; denn nach der Ansicht der competentesten Beurtheiler hat Professor Huxley überzeugend nachgewiesen, dass der Mensch in jedem einzelnen sichtbaren Merkmale weniger von den höheren Affen abweicht, als diese von den niederen Gliedern derselben Ordnung der Primaten abweichen.

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Einleitung.                                                   3

Das vorliegende Werk enthält kaum irgend welche originelle That-sachen in Bezug auf den Menschen ; da aber die Folgerungen, zu welchen ich nach Vollendung einer flüchtigen Skizze gelangte, mir interessant zu sein schienen, so glaubte ich, dass sie auch Andere interessiren dürften. Es ist oft und mit Nachdruck behauptet worden, dass der Ursprung des Menschen nie zu enträthseln sei. Aber Unwissenheit erzeugt viel häufiger Sicherheit, als es das Wissen thut. Es sind immer Diejenigen, welche wenig wissen, und nicht Die welche viel wissen, welche positiv behaupten, dass dieses oder jenes Problem nie von der Wissenschaft werde gelöst werden. Die Schlussfolgevung, dass der Mensch, in gleicher Weise wie andere Arten, ein Nachkomme von irgend welchen anderen niedrigeren und ausgestorbenen Formen sei, ist durchaus nicht neu. Lamarck kam schon vor langer Zeit zu dieser Folgerung, welche neuerdings von mehreren ausgezeichneten Naturforschern und Philosophen zu der ihrigen gemacht worden ist, z. 13. von Wallace, Huxley, Lyell, Vogt, Lubbouk, Büchnkr, Rolle etc. ' und besonders von Häckel. Der letztgenannte Naturforscher hat ausser seinem grossen Werke: Generelle Morphologie (1866) noch neuerdings (1868 und in zweiter Autlage 1870) seine „Natürliche Schöpfungsgeschichte" herausgegeben, in welcher er die Genealogie des Menschen eingehend erörtert. Wäre dieses Buch erschienen, ehe meine Arbeit niedergeschrieben war, würde ich sie wahrscheinlich nie zu Ende geführt haben; fast alle die Folgerungen, zu denen ich gekommen bin, finde ich durch diesen Forscher bestätigt, dessen Kenntnisse in vielen Pnnkten viel reicher sind als meine. Wo ich irgend eine Thatsache oder Ansicht aus Pro-

1 Da die Werke der erstgenannten Schriftsteller in England allgemein bekannt sind, hat der Verfasser deshalb ihre Titel nicht speeiell anzuführen für nöthig gehalten; doch glaubt der Uebersetzer auch diese hier mit aufnehmen zu sollen: A. R. Wallace, Contributions to tbe theory of natural selection. London, 1870 (Cap. IX. n. X); Huxley, Zeugnisse für die Stellung des Menschen iu der Natur. Uebers. Braunschweig, 1863. Sir Ch. Lyell, Das Alter des Menschengeschlechts auf der Erde. Uebers. Leipzig, 18GL L. Büchner, Sechs Vorlesungen über die Darwin'sche Theorie. 2. Aufl. 18GS. Rolle, der Meusch im Lichte der Darwinschen Theorie. Frankfurt, 1865. Verf. fährt fort: Ich will hier nicht den Versuch machen, alle Schriftsteller zu citiren, welche dieselbe Ansicht vertreten. So hat G. Canestrini eine interessante Abhandlung über rudimentäre Charactere und deren Beziehung auf die Frage nach dem Ursprung des Menschen veröffentlicht (Annuario della Soc. d. Nat. Modena, 1807, p. 81). Ein anderes Werk hat Dr. Barrago Francesco herausgegeben unter dem Titel (italienisch, 1869): „Der Mensch geschaffen zum Ebenbilde Gottes, auch geschaffen als Ebenbild des Affen."

1 *

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4                                                  Einleitung.

fessor Häckel's Schriften hinzugefügt .habe, gebe ich seine Gewähr im Text, andere Angaben lasse ich so, .wie sie ursprünglich in meinem Manuscript standen, und füge dann gelegentlich in den Anmerkungen Hinweise auf seine Schriften hinzu, als eine Bestätigung der zweifelhafteren oder interessanteren Punkte.

Viele Jahre hindurch ist es mir äusserst wahrscheinlich erschienen, dass geschlechtliche Zuchtwahl eine bedeutende Eolle bei der Differenzi-rung der Menschenrassen gespielt habe; in meiner ,Entstehung der Arten" (Erste Ausgabe, S. 209) begnügte ich mich aber, nur auf diese Ansicht hinzuweisen. Als ich nun dazu kam, diese Gesichtspunkte auf den Menschen anzuwenden, fand ich es für unumgänglich, den ganzen Gegenstand in ausführlichem Detail zu behandeln -. In Folge dessen ist der zweite Theil des vorliegenden Werks, welcher von der geschlechtlichen Zuchtwahl handelt, zu einer ungehörigen Länge, wenn mit dem ersten Theile verglichen, angewachsen; dies liess sich indessen nicht vermeiden.

Ich hatte beabsichtigt, den vorliegenden Bänden einen Versuch über den Ausdruck der verschiedenen Gemüthsbewegungen bei dem Menschen und den niederen Thieren hinzuzufügen. Sir Charles Bell's wundervolles Buch hatte meine Aufmerksamkeit vor vielen Jahren schon auf diesen Gegenstand gelenkt. Dieser berühmte Anatom behauptet, dass der Mensch mit gewissen Muskeln ausgerüstet sei, ausschliesslich zu dem Zwecke, seine Gemüthsbewegungen auszudrücken. Da diese Ansicht offenbar mit dem Glauben in AViderspruch steht, dass der Mensch von irgend einer anderen und niedereren Form abstammt, so wurde es für mich nothwendig, dieselbe eingehender zu betrachten. Ich wünschte gleichermaassen festzustellen, in wie weit die Gemüthsbewegungen in derselben Weise von den verschiedenen Menschenrassen ausgedrückt werden; aber wegen des Umfangs des vorliegenden Werks hielt ich es für besser, diesen Versuch, der zum Theil schon vollendet ist, für eine solbstständige Veröffentlichung vorzubehalten.

2 Prof. Iläokel ist der einzige Schriftsteller, welcher seit dem Erscheinen der „Entstehung der Arten" in seinen verschiedenen Arbeiten den Gegenstand der geschlechtlichen Zuchtwahl in sehr unisichtiger Weise erörtert und die volle Bedeutung desselben ergriffen hat.

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Erster Theil. Die Abstammung des Mensolieii.

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Erstes Oapitel.

Thatsachen, welche für die Abstammung des Menschen von einer niederen Form zeugen.

Natur dar Beweise für den Ursprung des Menschen. — Homologe Bildungen beim Menschen und den niederen Thieren. — Verschiedene Punkte der Ueberein-stimmung. — Entwicklung. — Rudimentäre Bildungen; Muskeln, Sinnesorgane, Haare, Knochen, Reproductiousorgane u. s. w. — Die Tragweite dieser drei grossen Classen von Thatsachen in Bezug auf den Ursprung des Menschen.

Ein Jeder, welcher zu entscheiden wünscht, ob der Mensch der modificirte Nachkomme irgend einer früher existirenden Form sei, würde wahrscheinlich zuerst untersuchen, ob der Mensch in einem wie geringen Grade auch immer seiner körperlichen Structur nach und in seinen geistigen Fähigkeiten variirt, und wenn dies der Fall ist, ob diese Abänderungen seinen Nachkommen in TJebereinstinimung mit den bei niederen Thieren geltenden Gesetzen überliefert werden, wie z. B. nach dem Gesetze der Ueberlieferung von Characteren in demselben Alter oder auf dasselbe Geschlecht; ferner, ob die Abänderungen, soweit es unsere Unwissenheit zu beurtheilen gestattet, die Resultate derselben allgemeinen Ursachen sind und ob sie von denselben allgemeinen Gesetzen beherrscht werden wie bei anderen Organismen, z. B. von der Correlation, den vererbten Wirkungen des Gebrauchs und Nichtgebrauchs u. s. w. Ist ferner der Mensch ähnlichen Missbildungen unterworfen, in Folge von Bildungshemmungen, von Verdoppelung von Theilen u. s. w., und bietet er in irgendwelchen seiner Missbildungen einen Rückschlag auf einen früheren und älteren Bildungstypus dar ? Natürlich liesse sich auch untersuchen, ob der Mensch, wie so viele anderen Thiere, Varietäten und Unterrassen habe entstehen lassen, die nur unbedeutend von einander abweichen, oder Kassen, welche so verschieden von einander sind, dass. sie als zweifelhafte Species zu classificiren sind. Wie sind derartige Rassen über die Erde verbreitet und wie wirken sie bei einer Kreuzung auf einander, sowohl in der ersten Generation, als

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Körperbau des Menschen.

I. Theil.

in den folgenden? Und so Hessen sich noch über viele andere Punkte Fragen aufstellen.

Bei dieser Untersuchung würde man dann zunächst zu der wichtigen Frage kommen, ob der Mensch zu einer im Verhältniss so rapiden Zunahme neigt, dass hierdurch gelegentlich heftige Kämpfe um das Dasein und in Folge dessen wohlthätige Abänderungen veranlasst werden, gleichviel ob am Körper oder am Geiste, welche dann bewahrt bleiben, während die nachtheiligen beseitigt werden. Greifen die Kassen oder Arten, gleichviel welcher Ausdruck hier angewandt wird, über einander über und ersetzen einander, so dass einige schliesslich unterdrückt werden? Wir werden sehen, dass alle diese Fragen, wie es in der That in Bezug auf die meisten derselben auf der Hand liegt, bejahend beantwortet werden müssen, in derselben Weise wie bei den niederen Thieren. Die verschiedenartigen, hier angedeuteten Betrachtungen können aber füglich eine. Zeit lang noch zurückgestellt werden, und wir wollen zuerst nachsehen, in wie weit die körperliche Bildung des Menschen mehr oder weniger deutliche Spuren seiner Abstammung von irgend einer niederen Form zeigt. In den beiden folgenden Gapiteln werden die geistigen Fähigkeiten des Menschen im Vergleich mit denen der niederen Thiere betrachtet werden.

Die körperliche Bildung des Meu sehen. — Es ist notorisch, dass der Mensch nach demselben allgemeinen Typris oder Modell wie die anderen Sängethiere gebildet ist. Alle Knochen seines Skelets können mit entsprechenden Knochen eines Afi'en oder einer Fledermaus oder Robbe verglichen werden; dasselbe gilt für seine Muskeln, Nerven, Blutgefässe und Eingeweide. Das Gehirn, dieses bedeutungsvollste aller Organe, folgt denselben Bildungsgesetzen, wie Huxley und andere Anatomen gezeigt haben. Bisohoff l, welcher zu den Reihen der Gegner gehört, gibt zu, dass jede wesentliche Spalte und Falte in dem Gehirn des Menschen ihr Analogon in dem Gehirn des Orang findet; er fügt aber hinzu, dass auf^keiner Entwickelungsperiode die Gehirne beider vollständig unter einander übereinstimmen. Dies konnte man auch nicht erwarten, denn sonst würden ihre geistigen Fähigkeiten dieselben gewesen sein; VuLPlAN - bemerkt: »Lest di/ferences reelles, qui existent

' Grosshirmvindnngen fies Menschen. 1868, p. 96.

2 Lecons sur la Physiol. 1866, p. 890, nach dem Citat bei Daily, L'ordre des Primates et le Transformisme. 1868, p. 29.

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Cap. 1.                                 Homologe Bildungen.                                      9

entrc l'encepliale de l'hoinme et cchü des singes superieurs, sont bien mitiimes. II >ie faul pas sc faire d'illiisions ä cet egard. L'homme est bien plus pres des singes anthropomorphes par les caracteres ana-tnmiques de son cerceau, que ceux-ci ne le sont non seulement des autres mammifercs, mais meine de certains quadrumanes, des gitcnons et des »uicaques.« Es wäre aber'überflüssig, hier noch weitere Ein-zelnheiteu in Betreff der Uebereinstimmnng zwischen dem Menschen und den höheren Säugethieren in der Bildung des Gehirns und aller anderen Theile des Körpers anzuführen.

Es dürffte indessen der Mühe wsrth sein, einige wenige Punkte, welche nicht direct oder offenbar in Verbindung mit dem Körperbau stehen, speciell anzuführen, aus denen diese Uebereinstimmnng oder Verwandtschaft deutlich hervorgeht.

Der Mensch ist fähig, von den anderen Thieren gewisse Krankheiten aufzunehmen oder sie ihnen mitzutheilen, wie AVasserscheu, Pocken, Kotz u. s. w., und diese Thatsache beweist die grosse Aehnlichkeit ihrer Gewebe und ihres Blutes, sowohl in ihrem feineren Bau, als in der Zusammensetzung, und zwar viel deutlicher, als es durch deren Verglei-chung unter dem besten Mikroskop oder mit Hülfe der sorgfältigsten chemischen Analyse nachgewiesen werden kann. Die Affen sind vielen nicht contagiösen Krankheiten ausgesetzt, und zwar denselben wie wir. So fand Kengoer3, welcher eine Zeit lang den Cebvs Az-arae in seinem Vaterlande sorgfältig beobachtete, dass er Katarrh bekam, mit den gewöhnlichen Symptomen, welcher bei häufigem Rückfall zu Schwindsucht führte. Diese Affen litten an Schlagfluss, Entzündung der Eingeweide und grauem Staar am Auge. Die jüngeren starben oft am Fieber während der Periode, in der sie ihre Milchzähne verloren ; Arzneien haben dieselbe Wirkung auf sie wie auf uns. Viele Arten von Affen haben eine starke Vorliebe für Thee, Kaffc und spirituöse Getränke; sie können auch, wie ich selbst gesehen habe, mit Vergnügen Tabak rauchen. Bkkhm behauptet, dass die Eingeborenen von Nordafrika die wilden Paviane dadurch fangen, dass sie Gefässe mit starkem Bier hinstellen, in welchem sich die Affen betrinken. Er hat mehrere dieser Thiere, die er in Gefangenschaft hielt, in diesem Zustande gesehen und gibt einen höchst komischen Bericht ihres Benehmens und ihrer wunderbaren Grimassen. Am folgenden Morgen waren sie sehr verstimmt und unaufgelegt, sie hielten ihren schmerzenden Kopf mit beiden Händen nnd 3 Naturgeschichte der Säugethiere von Paraguay. 1830, S. 50.

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Körperbau des Menschen.

[. Theil.

boten ein äusserst erbarmungswürdiges Ansehen dar. Wurde ihnen Bier oder Wein angeboten, so wandten sie sich mit Widerwillen ab, labten sich dagegen an Citronensaft4. Ein amerikanischer Affe, ein Ateles, wollte, nachdem er einmal von Branntwein betrunken geworden war, nie mehr solchen anrühren und war daher weiser als viele Menschen. Diese unbedeutenden Tkatsachen beweisen, wie ähnlich die Geschmacksnerven bei den Affen und den Menschen sein müssen und in wie ähnlicher Weise ihr ganzes Nervensystem afficirt wird.

Der Mensch wird von inneren Parasiten geplagt, welche zuweilen tödtliche Wirkungen hervorbringen, in gleicher Weise auch von äusseren, und alle diese Schmarotzer gehören zu denselben Gattungen oder Familien wie die, welche andere Säiigethiere bewohnen. Der Mensch ist in gleicher Weise wie andere Säiigethiere, Vögel und selbst Insecten, jenem geheimnissvollen Gesetz unterworfen, welches gewisse normale Vorgänge, wie die Trächtigkeit, ebenso wie die Reife und die Dauer gewisser Krankheiten den Mondperioden zu folgen veranlasst5. Seine Wunden werden durch denselben Heilungsprocess wieder hergestellt und die nach der Amputation seiner Gliedmaassen gelassenen Stumpfe besitzen gelegentlich, besonders während der früheren embryonalen Periode, eine gewisse Fähigkeit der Regeneration wie bei den niedersten Thieren «.

Der ganze Process jener bedeutungsvollen Verrichtung der Fortpflanzung der Art ist bei den Säiigethioren in auffallender Weise derselbe, von dem ersten Acte der Werbung des Männchens7 an bis zu der

4  Brehm, Thierleben. Bd. 1. S. 75, 86. Feher den Ateles S. 195. Wegen anderer analoger Angaben s. S. 25, 107.

5  In Bezug auf Insecten s. Dr. Laycock, On a gcneral law of vital perio-dicity. Britisb Associat. 1842. Maccnlocli sah einen Hund an dreitägigem Wechselfieber leiden. Silliman's Aiaeric. Jonrn. of Science. XVII, 305.

6  Die Beweise hiefür habe ich gegeben in der Schrift: .,lieber das Variiren der Thiero und Pflanzen im Zustande der Domestication" Bd. 2. S. 20 d. Teliers.

7  „Mares e diversis generibns Qnadnimanornm sine dubio dignosennt feminas lmmanas a maribns. I'rimnm, credo, odoratn, postea aspeetn. Mr. Youatt, qni diu in Hortis Zoologicis (Bestiariis) mediens animalinm erat, vir in rebus obser-vandis cantus et sagax, hoc mihi certissime probavit, et curatores ejusdem loci et alii e ministris confirmaverunt. Sir Andrew Smith et Brehm notabant idem in Cynoccphalo. Ilhistrissimus Cnvier etiam narrat mitlta de hac re, qua ut opinor nihil tttrpius potest indicari inter omnia hominibus et Quadrnmanis com-mnnia. Narrat enim Cynocephalnm quendam in fnrorem incirlere aspectu femi-narum aliqnarum, sed nequaquam accendi tanto furore ab omnibus. Seniper eli-gebat juniores et dignoscebat in turba et advocabat voce gestuqne".

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Cap. 1.                               Embryonale Entwicklung.                                     11

Geburt und der Ernährung des Jungen. Die Affen werden in einem fast genau so hülflosen Zustande geboren wie unsere eigenen Kinder, und in gewissen Gattungen weichen die Jungen in ihrem Aussehen von den Erwachsenen genau so viel ab, als menschliche Kinder von ihren erwachsenen Eltern8. Einige Schriftsteller haben als einen wichtigen Unterschied hervorgehoben, dass beim Menschen die Jungen in einem viel späteren Alter zur Reife gelangen, als bei irgend einem anderen Tliiere. Wenn wir aber einen Blick auf die Menschenrassen werfen, welche tropische Länder bewohnen, so ist der Unterschied nicht gross. Denn der Orang wird, wie man glaubt, nicht vor einem Alter von 10 bis 15 Jahren reif9. Der Mann weicht von der Frau in der grossen Körperkraft, in dem Behaartsein u. s. w., ebenso wie in Bezug auf den Geist, in derselben Weise ab, wie die beiden Geschlechter vieler Säuge-thiere von einander abweichen. Es ist überhaupt kaum möglich, die enge Uebereinstinimung im allgemeinen Bau, in der feinen Strnctur der Gewebe, in der chemischen Zusammensetzung und in der Constitution zwischen dem Menschen und den höheren Thieren, besonders den an-thropomorphen Allen, zu übertreiben.

Embryonale Entwicklung. Der Mensch entwickelt sich aus einem Eichen von ungefähr V125 Zoll im Durchmesser, welches in keiner Hinsicht von den Eichen anderer Thiere abweicht. Der Embryo selbst kann auf einer frühen Stufe kaum von dem anderer Glieder des Wirbelthierreichs unterschieden werden. Auf dieser Periode verlaufen die Halsarterien in bogenförmigen Aesten, als wenn sie das Blut zu Kiemen brächten, welche bei den höheren Wirbelthieren nicht vorhanden sind, obschon die Spalten an den Seiten des Halses noch übrig sind und deren frühere Stellung angeben. Auf einer etwas späteren Periode, wenn sich die Gliedmaassen entwickeln, entstehen, wie der berühmte v. Baer bemerkt, die Füsse von Eidechsen und Säugethieren, die Flügel und Füsse der Vögel und ebenso die Hände und Füsse des Menschen sämmtlich aus derselben Grundform. „Erst auf späteren Entwickelungs-stufen", sagt Professor Huxley 10, „bietet das junge menschliche Wesen deutliche Verschiedenheiten von dem jungen Affen dar, welcher letztere

f Diese Bemerkung machen in Beijug auf Cynocephalus und die anthropo-morphen Affen Geoffroy St. Hilaire^Tmdt' r. Cnvier, Hist. natur. des Mammiferes. Tom. I. 1824.

9  Huxley, Stellung des Menschen in der Natur. S. 38 (Uebers.)

10  Huxley, Stellung des Menschen in der Natur. S. 75.

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12                                     Körperbau des Menschen.                              I. Theil.

ebenso weit vom Hunde in seiner Entwickehiug abweicht, als es der Mensch thut. So anftallend diese letztere Behauptung zu sein scheint, so ist sie doch nachweisbar richtig.

Da manche meiner Leser vielleicht noch niemals die Zeichnung eines Embryo gesehen haben,, habe ich hier eine solche von einem Menschen und eine andere vom Hunde von ungefähr derselben Entwickeluugs-

Fig. 1. Die obere Figur ist ein menschlicher Embryo nach Ecker, die untere d*r eines Hunden

nach Bischoff. a) Vorderhirn, Gros>>liirnhemispharen etc. b) Mittelhirn, Vierhügel, cj llinterhirn, Kleinhirn, verlängertes Mark, dj Auge, e) Ohr. f) Erster Viseeralbogen. g) Zweiter Visceral bogen. H) Wirbelsäule und Muskehnassc. i) Vordere Gliedmaassen. K) Hintere GUedniaassen. L) Schwanz oder

Coccyx.

stufe gegeben, beides Copien nach zwei Werken von zweifelloser Genauigkeit n.

11 Der menschliche Embryo (obere Figur) ist nach Ecker, Icones physiol.

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4

Cap. 1.                               Embryonale Entwickelung.                                      13

Nach den vorstehenden, auf Grund bedeutender Autoritäten mit-getheilten Angaben würde es meinerseits überflüssig sein, noch eine Anzahl entlehnter Einzelnheiten zu geben, um zu zeigen,' dass der Embryo des Menschen streng dem anderer Säugethiere gleicht. Es mag indess noch hinzugefügt werden, dass der menschliche Embryo in verschiedenen Punkten seiner Bildung gleichfalls gewissen niederen Formen in deren erwachsenem Zustande ähnlich ist. So ist z. B. das Herz zuerst einfach ein pulsirendes Gefiiss, die Excremente werden durch eine Kloake entleert und das Schwanzbein springt wie ein wahrer Schwanz vor, indem es sich beträchtlich „jenseits der rudimentären Beine" verlängert12. Bei den Embryonen aller luftathmenden Wirbelthiere entsprechen gewisse Drüsen, die sogenannten WolfTschen Körper, den Nieren erwachsener Fische und wirken auch wie diese vi. Selbst in einer späteren embryonalen Periode lassen sich einige auffallende Ueberein-stimmungen zwischen dem Menschen und den niederen Thieren beobachten. Bischoff sagt, dass die Gehirnwindungen eines menschlichen Fötus vom Ende des siebeuten Monats ungefähr die Entwicklungsstufe erreichen, welche ein erwachsener Pavian zeigt M. Wie Professor Owen bemerkt'5, „ist die grosse Zehe, welche beim Stehen oder Gehen den Stützpunkt bildet, vielleicht die characteristischste Eigentümlichkeit des menschlichen Bau's". Aber bei einem Embryo von ungefähr einem Zoll Länge fand Professor Wyman '6, „dass die grosse Zehe kürzer als die anderen und, statt diesen parallel zu sein, unter einem Winkel von dem Fussrande vorsprang und daher mit dem bleibenden Zustande dieses Theils bei den Äffen übereinstimmteL. Ich will mit der Anführung einer Stelle von Huxley schliessen 17, welcher fragt, ob der Mensch in

Tal). XXX. Fig. 2. Dieser Embryo war zehn Linien lang, so dass die Zeich-uuug sehr vergrössert ist. Der Hundcenibiyo ist nach Bisehoff, Entwickelungs-gesebiebte des Hunde-Eies. 1845. Taf. XI, Fig. 42 B. Die Zeichnung ist fünfmal Yergrössert; der Embryo war 25 Tage alt. Die inneren Eingeweide sind weggelassen und die Uterinanhänge in beiden Figuren entfernt worden. Mich führte Prof. Huxley auf diese Abbildungen, dessen Werke, „Stellung des Menschen in der Natur" die Idee, sie hier zu geben, entnommen ist. Auch Hacke 1 bat analoge Figuren in seiner Schöpfungsgeschichte gegeben.

12  Prof. Wyman, in: Troceed. Americ. Acad. of Sciences. Vol. IV. 1SGO, p. 17.

13  Owen, Anatomy of Vertebrates. Vol. I, p. 533.

14  Die Grosshirnwindungen des Menschen. 18G8. S. 95.

15  Anatomy of Vertebrates. Vol. II, p. 553.

16  Prnceed. Soc. Nat. Eist. Boston, 1863. Vol. IX, p. 185. 11 Stellung des Menschen in der Natur, S. 74.

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14

Körperbau des Menschen.

I. Theil.

einer vom Hund, Vogel, Frosch oder Fisch verschiedenen "Weise entsteht, und dann sagt: „die Antwort kann nicht einen Augenblick zweifelhaft sein, die Ursprungsweise und die frühen Entwicklungsstufen des „Menschen sind mit denen der in dem Thierreiche unmittelbar unter „ihm stehenden Formen identisch. Ohne allen Zweifel steht er in diesen „Beziehungen den Affen viel näher, als die Affen dem Hunde stehen.-

Rudimente. — Obgleich dieser Gegenstand seinem inneren Wesen nach nicht von grösserer Bedeutung ist als die beiden letzterwähnten, so soll er doch aus mehreren Gründen hier mit grösserer Ausführlichkeit behandelt werden 1S. Es lässt sich nicht eines der höheren Thiere anführen, welches nicht irgend einen Theil in einem rudimentären Zustande besässe, und der Mensch bietet keine Ausnahme von dieser Regel dar. Rudimentäre Organe müssen von solchen unterschieden werden, welche auf dem Wege der Bildung sind, obschon in manchen Fällen die Unterscheidung nicht leicht ist. Die ersteren sind entweder absolut nutzlos, wie die Zitzen der männlichen Säugethiere oder die oberen Schneidezähne von Wiederkäuern, welche niemals das Zahnfleisch durchschneiden, oder sie sind von so untergeordnetem Nutzen für ihre jetzigen Besitzer, dass wir nicht annehmen können, sie hätten sich unter den jetzt existirenden Bedingungen entwickelt. Organe in diesem letzteren Zustand sind nicht streng genommen rudimentär, sie neigen nach dieser Richtung hin. Andererseits sind Organe in der Bildung, wenn auch noch uicht völlig entwickelt, für ihre Besitzer von grossem Nutzen und weiterer Entwickelung fähig. Rudimentäre Organe sind äusserst variabel, und dies lässt sich zum Theil daraus verstehen, dass sie nutzlos oder nahezu nutzlos sind und in Folge dessen nicht länger mehr der natürlichen Zuchtwahl unterliegen. Sie werden oft vollständig unterdrückt. Wenn dies eintritt, können sie nichtsdestoweniger gelegentlich durch Rückschlag wiedererscheinen, und dies ist ein der Aufmerksamkeit wohl werther Umstand.

Nichtgebrauch während der Lebensperiode, in welcher ein Organ hauptsächlich gebraucht wird, und dies ist meist während der Reifezeit

18 Ich hatte eine Skizze dieses Capitels niedergeschrieben, ehe ich eine werthvolle Abhandlung von G. Canestrini gelesen hatte, welcher ich beträchtlich zu danken habe: Caratteri rudimentali in »rdine all' origine del uomo, in: Amiuario della Soc. d. Jfat Modena, 18(57, p. 81. Häckel hat ganz vorzügliche Erörterungen über diesen ganzen Gegenstand unter dem Titel Dysteleologie in seiner „Generellen Morphologie" und seiner „Schöpfungsgeschichte" angestellt-

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Oap. 1.                                          Riulimente.                                                 15

der Fall, in Verbindung mit Vererbung auf einem entsprechenden Lebensalter scheinen die hauptsächlichsten Kräfte gewesen zu sein, welche das Rudimentärwerden der Organe veranlasst. Der Ausdruck „Nichtgebrauch* bezieht sich nicht bloss auf die verringerte Thätigkeit der Muskeln, sondern umfasst auch einen verminderten Zufiuss von Blut nach einem Theile oder Organe hin, weil dasselbe weniger Aenderungen von Druck ausgesetzt ist, oder weil es in irgendwelcher Weise weniger gewohnheitsgemäss thätig ist. Es können indessen Kudimente von Theilen in dem einen Geschlecht auftreten, welche im anderen Geschlecht normal vorhanden sind; und solche Kudimente sind, wie wir später sehen werden, oft in einer verschiedenen Art entstanden. In manchen Fällen sind Organe durch natürliche Zuchtwahl verkümmert, weil sie der Art und der veränderten Lebensweise nachtheilig geworden sind. Der Process der Verkümmerung wird wahrscheinlich oft durch die beiden Principe der Compensation und Oekoiiomie des Wachsthums unterstützt; aber die letzten^ Stufen der Verkümmerung, — wenn nämlich der Nichtgebrauch Alles, was ihm einigermaasseu zugeschrieben werden kann, vollbracht hat, und sobald die durch die Oekoiiomie des Wachsthums bewirkte Ersparniss sehr klein sein würde 19 —, sind nur schwer zu erklären. Die endliche und vollständige Unterdrückung eines Theils, welcher bereits nutzlos und in der Grösse sehr verkümmert ist, in weichein Falle "weder Compensation noch Oekoiiomie des Wachsthums in's Spiel kommen können, lässt sich vielleicht mit Hülfe der Hypothese der Pan-genesis verstehen und, wie es scheint, auf keine andere Weise. Da in-dcss der ganze Gegenstand der rudimentären Organe in einem früheren Werke20 ausführlich erläutert und erörtert worden ist, brauche ich hier über dieses Capitel nichts mehr im Allgemeinen zu sagen.

In vielen Theilen des menschlichen Körpers hat man Kudimente verschiedener Muskeln beobachtet21; und nicht wenige Muskeln, welche

19 Einige gute kritische Bemerkungen über diesen Gegenstand haben Murie und 3Iivart gegeben, in: Transaet. Zool. Soc. Vol. VII, p, 92.

'i0 Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 2. S. 418 und 520. s. auch Entstehung der Arten. 4. (deutsche) Aufl. S. 475.

21 So z. B. beschreibt Richard (Amial. d. science. natur. 3. Ser. Zool. T. XVII, p. 18) und bildet ab Rudimente des von ihm sogenannten „muscle pedieux de la main", welcher, wie er sagt, zuweilen „infinement petit" sei. Ein anderer, „Tibial posterieur" genannter Muskel ist meist an der Hand gar nicht vorhanden, erscheint aber von Zeit zu Zeit in einem mehr oder weniger rudimentären Zustande.

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16                                      Körperbau des Menschen.                              I. Theü.

in einigen niederen filieren regelmässig vorhanden sind, können gelegentlich beim Menschen in einer beträchtlich verkümmerten Form nachgewiesen werden. Jedermann muss die Kraft beobachtet haben, mit welcher viele Thiere, besonders Pferde, ihre Haut bewegen oder erzittern machen, und dies wird durch den Panniculus carnosus bewirkt. Ueberbleibsel dieses Muskels in einem noch wirksamen Zustande werden an verschiedenen Theilen unseres Körpers gefunden, z. B. an der Stirn, wo sie die Augenbrauen erheben. Das Platysma myoides, welches am Halse entwickelt ist, gehört 7.11 diesem System, kann aber nicht willkürlich in Thätigkeit gebracht werden. Wie mir Professor Turner von Edinburg mittheilt, hat er gelegentlich Muskelfasern an fünf verschiedenen Stellen entdeckt, nämlich in den Achselhöhlen, in der Nähe der Schulterblätter u. s. w., welche alle auf das System des grossen Haut-muskels bezogen werden müssen. Er hat auch gezeigt2-, dass der Musculus stemalis brutorum, welcher nicht etwa eine Verlängerung des Roctus abdominalis, sondern eng mit dem Panniculus verwandt ist, in dem Verhältniss von ungefähr 3°/o unter mehr als 600 Leichnamen vorkam. Er fügte hinzu, dass dieser Muskel „eine vorzügliche Erläuterung der Angabe darbiete, dass gelegentlich auftretende und rudimentäre Bildungen besonders einer Abänderung in der Anordnung ausgesetzt sind."

Einige wenige Personen haben die Fähigkeit, die oberflächlichen Muskeln ihrer Kopfhaut zusammenzuziehen, und diese Muskeln befinden sich in einem variabeln und zum Theil rudimentären Zustand. Herr A. De Candolle hat mir ein merkwürdiges Beispiel der lange fortgesetzten Dauer oder Vererbung dieser Fähigkeit ebenso wie ihrer ungewöhnlichen Entwicklung mitgetheilt. Er kennt eine Familie, von welcher ein Glied, das gegenwärtige Haupt der Familie, als junger Mann schwere Bücher von seinem Kopfe schleudern konnte, allein durch die Bewegung seiner Kopfhaut, und er gewann durch Ausführung dieses Kunststücks Wetten. Sein Vater, Onkel, Grossvater und alle seine drei Kinder besitzen dieselbe Fähigkeit in demselben ungewöhnlichen Grade. Vor acht Generationen wurde diese Familie in zwei Zweige getheilt, so dass das Haupt des oben genannten Zweigs Vetter im siebenten Grade zu dem Haupte des andern Zweigs ist. Dieser entfernte Verwandte wohnt in einem anderen Theile von Frankreich; und als er gefragt

22 Prof. W. Turner, Proc. Roy. Soc. Edinburgh, 186G-G7, p. 05.

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Cap. 1.                                          Rudimente.                                                 -)7

wurde, ob er diese selbe Fähigkeit besasse. producirte er sofort seine Kraft. Dieser Fall bietet eine nette Erläuterung dafür dar, wie zäh eine absolut nutzlose Fähigkeit überliefert werden kann.

Die äusseren Muskeln, welche dazu dienen, das ganze äussere Ohr zu bewegen, und die inneren Muskeln, welche dessen verschiedene Tlieile bewegen (welche alle zu dem System des Hautnmskels gehören), finden ' sich bei dem Menschen in einem rudimentären Zustande; sie sind auch in ihrer Entwicklung, oder wenigstens in ihren Functionen, variabel. Ich habe einen Mann gesehen, welcher seine Ohren vorwärts, und einen anderen, welcher sie rückwärts ziehen konnte23; nnd nacli dem, was mir eine dieser Personen sagt, ist es wahrscheinlich, dass die Meisten von uns dadurch, dass wir oft unsere Ohren berühren und hierdurch unsere Aufmerksamkeit auf sie lenken, nach wiederholten Versuchen etwas Bewegnngskraft wiedererlangen können. Die Fähigkeit, die Ohren aufzurichten und sie nach verschiedenen Richtungen hinzuwenden, ist ohne Zweifel für viele Thiere von dem höchsten Nutzen, da diese hierdurch den Ort der Gefahr erkennen; ich habe aber nie von einem Menschen gehört, welcher auch nur die geringste Fähigkeit, die Ohren aufzurichten, besessen hätte, die einzige Bewegung, welche für ihn von Nutzen sein könnte. Die ganze äussere Ohrmuschel könnte man als Rudiment betrachten, zusammen mit den verschiedenen Falten und Vorsprüngen (Helix und Antilielix, Tragus und Antitragus u. s. w.), welche bei den niederen Thieren das Ohr kräftigen und stützen, wenn es aufgerichtet ist, ohne sein Gewicht sehr zu vermehren. Manche Autoren vermuthen indess, dass der Knorpel der Ohrmuschel dazu dient, die Schallschwingungen dem Hörnerven zu übermitteln. Mr. ToTNBEE^kommt aber 24, nachdem er alle bekannten Erfahrungen über diesen Punkt gesammelt hat, zu dem Schluss, dass die äussere Ohrmuschel von keinem bestimmten Nutzen ist. Die Ohren des Schimpanse und Orang sind denen des Menschen merkwürdig ähnlieh, und mir haben die Wärter in den zoologischen Gärten versichert, dass diese Thiere sie nie bewegen oder aufrichten, so dass also dieselben in einem gleichermaassen rudimentären Znstande sind, soweit es die Function betrifft, wie beim Menschen. Warum diese Thiere, ebenso wie die Voreltern des Menschen, die Fähigkeit, ihre Ohren aufzurichten, verloren haben, können wir nicht

23 Canestrini citirt für ähnliche Thatsachan Ilyrtl (Anuario della Soc. dei Natural. Modena, 1867, p. 97).

M The Diseases of the Kar by J. Toynbee. London, 18GO, p. 12. Darwin, Abstammung. I. Zweite Aultage.                                                            2

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18

Körperbau des Menschen.

I. Theil.

sagen. Es könnte sein, doch bin ich nicht völlig von dieser Ansicht zufriedengestellt, dass sie in Folge ihres Lebens auf Bäumen und wegen ihrer grossen Kraft nur wenigen Gefahren ausgesetzt waren und deshalb während einer langen Zeit ihre Ohren nur wenig bewegten und dadurch allmählich das Vermögen, sie zu bewegen, verloren. Dies würde ein paralleler Fall mit dem jener grossen und schweren Vögel sein, welche das Vermögen, ihre Flügel zum Fluge zu gebrauchen, in Folge des Umstands verloren haben, dass sie oceanische Inseln bewohnen und daher den Angriffen von Eanbthieren nicht ausgesetzt, gewesen sind.

Der berühmte Bildhauer Mr. Woolner theilt mir eine kleine Eigentümlichkeit am äusseren Ohre mit, welche er oft sowohl bei Männern wie bei Frauen beobachtet und deren volle Bedeutung er erfasst hat. Seine Aufmerksamkeit wurde zuerst auf den Gegenstand gerichtet, als er seine Statue des „Puck" arbeitete, welchem er spitze Ohren gegeben hatte. Er wurde hierdurch veranlasst, die Ohren verschiedener Affen und später noch sorgfältiger die des Menschen zu untersuchen. Die Eigentliümlichkeit besteht in einem kleinen stumpfen, von dem inneren Kande der äusseren Falte oder des Helix vorspringenden Punkte. Mr. Woolner hat ein sorgfältiges Modell eines solchen Falles gemacht und mir die beistehende Zeichnung (Fig. 2) übersandt. Dieser Punkt springt nicht bloss nach innen, sondern oft etwas nach aussen vor, so dass er sichtbar wird, wenn der Kopf dircct von vorn oder von hinten betrachtet wird. Er ist in der Grösse und auch etwas in der Stellung variabel, indem er entweder etwas höher oder tiefer steht; zuweilen kommt er auch nur an dem einen Ohr und nicht gleichzeitig am andern vor. Meiner Meinung nach ist nun die Bedeutung dieser Vorsprünge nicht zweifelhaft; man könnte aber glauben, dass, da sie einen so unbedeutenden Character darbieten, sie Figi 2                 kaum der Bemerkung werth wären. Dieser

Menschliches Ohr, gezeichnet und modellirt von Mr. Woolner. a) der vorspringende Punkt.

Glaube ist indess ebenso falsch als natürlich. Jedes Merkmal, so unbedeutend es auch sein mag, muss das Kesultat irgend einer bestimmten Ursache sein. Der Helix besteht offenbar aus dem nach innen gefalteten äusseren Rande des Ohrs und diese Faltung scheint in irgend einer Weise damit zusammenzuhängen, dass das ganze äussere Ohr beständig

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Cap. 1.                                          Rudimente.                                                  19

nach rückwärts gedrückt wird. Bei vielen Affen, Welche nicht liocli in der ganzen Ordnung stellen, wie bei den Pavianen und manchen Arten von Macacus '25, ist der obere Tlieil des Ohrs leicht zugespitzt und der Rand ist durchaus nicht nach innen gefaltet. Wäre aber der Rand in dieser Weise gefaltet, so würde nothwendig eine kleine Spitze nach innen und wahrscheinlich auch etwas nach aussen vorspringen. Dies konnte man thatsächlich an einein Exemplar des Aleles Beeteebuth im zoologischen Garten beobachten; und wir können ruhig schliessen, dass es eine ähnliche Bildung, nämlich eine Spur früher gespitzter Ohren ist, welche gelegentlich beim Menschen wieder erscheint.

Die Nickhaut, oder das dritte Augenlid, mit ihren accessorischen Muskeln und anderen Gebilden ist besonders wohl entwickelt bei den Vögeln und ist für diese von höherer functioneller Bedeutung, da sie sehr schnell über den ganzen Augapfel gezogen werden kann. Sie findet sich auch bei manchen Reptilien und Amphibien und bei gewissen Fischen, wie z. B. bei Haifischen. Sie ist ziemlich gut entwickelt in den beiden unteren Abtheilungen der Säugethiere, nämlich bei den Monotraumen und Marsupialien und in einigen wenigen unter den höheren Säugethieren, wie beim Walross. Beim Menschen und den Quadru-manen dagegen, wie bei den meisten übrigen Säugethieren existirt sie, wie alle Anatomen annehmen, nur als blosses Rudiment, als die sogenannte halbmondförmige Falte 26.

Der Geruchssinn ist für die grössere Zahl der Säugethiere von der höchsten Wichtigkeit, für einige, wie die Wiederkäuer, dadurch, dass er dieselben vor Gefahren warnt, für andere, wie die Carnivoren, dass er sie die Beute finden lässt, für noch andere, wie den wilden Eber, zu beiden Zwecken. Der Geruchssinn ist aber von äusserst untergeordnetem Nutzen, wenn überhaupt von irgendwelchem, selbst für Wilde, bei denen er allgemein noch höher entwickelt ist als bei den civilisirten Rassen; er warnt sie weder vor Gefahren, noch leitet er sie zur Nahrung; auch verhindert er nicht, dass die Eskimo's in der übelriechend-

25  s. auch die Bemerkungen und die Abbildungen der Lemuridenohrei) in der vortrefflichen Abhandlung von Mnrie und Mivart in der Transact. Zool. Soc. Vol. VII. 1869, p. C und 90.

26  .1. Müller, Handbuch der Physiologie. 4. Aufl. B. 2. S. 312. Owen, Anatoni}' of Vertebrates. Vol. III, p. 2G0; derselbe über das Walross: Proceed. Zool. Soc. 8. Novbr. 1864. s. auch 11. Knox, Great Artists and Anatomists, p. 106. Dies Rudiment ist, wie es scheint, bei Negern und Australiern etwas grösser als bei Europäern, s. C.Vogt, Vorlesungen über den Menschen. Bd. 1,S. 102.

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20

Körporbau des Menschen.

I. Theil.

sten Atmosphäre schlafen, oder dass viele Wilde halbfanles Fleisch essen. Wer an das Princip einer stufenweisen Entwickelung glaubt, wird nicht leicht zugeben, dass dieser Sinn in seinem jetzigen Zustande ursprünglich vom Menschen, wie er jetzt existirt, erlangt wurde. Ohne Zweifel ererbte er die Fähigkeit in einem abgeschwächten und insofern rudimentären Zustande von irgend einem früheren Vorfahren,' dem sie äusserst nutzbar war und von dem sie beständig gebraucht wurde. Es lässt sich vielleicht hierdurch verstehen, woher es kommt. dass, wie Dr. Maudrley richtig bemerkt hat 27, der Geruchssinn beim Menschen „in einer merkwürdig wirksamen Weise Ideen und Bilder bereits vergessener Scenen und Orte wieder erweckt"; denn bei den Thieren, welche diesen Sinn in hoher Entwickelung besitzen, wie bei Hunden und Pferden, sehen wir, dass alte Erinnerungen an Personen und Orte entschieden mit ihrem Geruchssinn vergesellschaftet sind.

Der Mensch weicht auffallend von allen übrigen Primaten darin ab, dass er fast nackt ist. Doch finden sich wenige kurze steife Haare über den grösseren Theil des Körpers beim männlichen Geschlecht und feine dunenartige an dem des weiblichen. Bei Individuen, welche zu derselben Rasse gehören, sind diese Haare äusserst variabel, nicht bloss in der Menge, sondern auch in der Stellung. So sind bei manchen Europäern die Schultern völlig nackt, während sie bei anderen dicke Haarbüschsel tragen28. Es lässt sich wohl kaum bezweifeln, dass die in dieser Weise über den Körper zerstreuten Haare die Ueberbleibsel des gleichförmigen Haarkleids der niederen Tliicre sind. Diese Ansicht wird dadnreh um so wahrscheinlicher, dass, wie bekannt ist, feine, kurze und hellgefärbte Haare an den Gliedmaassen und anderen Theilen des Körpers sich gelegentlich zu dicht stehenden langen und im Ganzen groben dunklen Haaren entwickeln, wenn sie in der Nähe alter, entzündeter Oberflächen abnorm ernährt werden 29.

Mr. Paget theilt mir mit, dass Personen, welche zu einer und derselben Familie gehören, oft in ihren Augenbrauen einzelne wenige Haare haben, die viel länger als die übrigen sind, so dass diese unbedeutende Eigenthümlichkeit vererbt zu werden scheint. Diese Haare repräsen-

" The Physiology and Pathology of Mind. 2. Edit. 1808, p. 134.

18 Eschricht, Uelier die Richtung der Haare am menschlichen Körper, in: Müller's Archiv für Anat. und l'hys. 1837. >S. 47. Ich werde mich oft auf diese sehr interessante Arbeit zu bezichen haben.

'"' Paget, Leetures on Rtirgical Pathology. 1853. Vol. I, p. 71.

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Cap. 1.                                          Rudimente.                                                 21

tiren offenbar die Tasthaare, welche von vielen der niederen Thiere als Tastorgane gebraucht werden. An einem jungen Schimpanse beobachtete ich, dass ein paar aufrechte, etwas lange Haare oberhalb der Augen vorsprangen, wo die eigentlichen Augenbrauen, wenn sie vorhanden wären, gestanden haben würden.

Das feine, wollähnliche Haar oder der sogenannte Lanugo, mit welchem der menschliche Fötus während des sechsten Monats dicht bedeckt ist, bietet einen noch merkwürdigeren Fall dar. Er entwickelt sich zuerst während des fünften Monats an den Augenbrauen und dem Gesicht und besonders um den Mund, wo er viel langer als der auf dem Kopfe ist. Eiu Schnurrbart dieser Art wurde von EschkiCht 3" au einem weiblichen Fötus beobachtet. Doch ist dies kein so auffallender Umstand, als er auf den ersten Blick scheinen mag, denn die beiden Geschlechter gleichen einander in allen äusseren Merkmalen während der früheren YVachsthumsperioden sehr. Die Richtung und Anordnung der Haare auf alleu Theilen des Embryonalkörpers sind dieselben wie beim erwachsenen Körper, unterliegen aber bedeutender Variabilität. So ist die ganzp Oberfläche, selbst mit Einschluss der Stirn und der Ohren, dicht bekleidet; es ist aber eine bezeichnende Thatsache, dass die Handflächen und Fusssohlen völlig nackt sind, wie es die unteren Flächen aller vier Extremitäten der niederen Thiere sind. Da dies eine zufällige Uebereinstimmung sein kann, so müssen wir die wollige Bedeckung des Fötus für den rudimentären Repräsentanten des ersten bleibenden Haarkleids derjenigen Säugethiere ansehen, welche behaart geboren werden. Diese Stellvertretung ist viel vollständiger in Uebereinstimmung mit dem gewöhnlich befolgten Gesetz der embryonalen Entwickelung, als jene'einzelnen Fälle zerstreut stehender Haare auf dem Körper des Erwachsenen.

Es scheint, als wenn der hinterste Backzahn, der sogenannte Weisheitszahn , bei den civilisirten Menschenrassen rudimentär zu werden strebte. Diese Zähne sind meisteus kleiner als die anderen Backzähne, wie es gleichfalls der Fall mit den entsprechenden Zähnen beim Schimpanse und Oraug ist; auch haben sie nur zwei getrennte AVurzeln. Sie durchbrechen das Zahnfleisch nicht eher als im siebenzehnteu Jahre ungefähr, und Zahnärzte haben mir versichert, dass sie viel mehr der Zerstörung ausgesetzt sind und früher verloren werden, als die anderen

Eschriclit, a. a. 0. ö. -iO, 47.

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22

Körperbau des Menseben.

l.Theil.

Zähne. Es ist auch merkwürdig, dass sie viel mehr, sowohl in ihrer Bildung, als in der Zeit ihrer Entwickehing, zu variiren geneigt sind als die anderen Zähne Ä\ Bei den schwarzen Kassen sind dagegen die Weisheitszähne gewöhnlich mit drei getrennten Wurzeln versehen und meist gesund; auch weichen sie von den anderen Backzähnen nicht so in der Grösse ab, wie bei den kaukasischen Kassen 32. Professor Schaaff-hausen erklärt diese Verschiedenheit zwischen den Kassen dadurch, dass „der hintere zahntragende Abschnitt der Kiefer" bei den civilisirten Rassen33 ,immer verkürzt" ist; und ich meine, diese Verkürzung kann man ruhig dem Umstände zuschreiben, dass civilisirte Menschen sich gewöhnlich von weichen, gekochten Speisen ernähren und daher ihre Kinnladen weniger gebrauchen. Mr. Bract: theilt mir mit, dass es in den Vereinigten Staaten eine durchaus gewöhnliche Operation werde, bei Kindern einige Backzähne zu entfernen, da die Kinnladen nicht gross genug wachsen für die vollständige Entwickehing der normalen Zahl.

In Bezug auf den Verdamnigskanal ist mir mir ein einziger Bericht von einem Rudimente vorgekommen, nämlich dem wnrmfönnigen Anhange des Blinddarms. Der Blinddarm ist eine Abzweigung oder ein Divertikel des Darms, welcher mit einem Blindsack endigt, und bei vielen niedrigeren ptlanzenfrcssendcn Säugethieren ist er ausserordentlich lang, bei dem marsupialen Koala ist er factisch über dreimal so lang als der ganze Körper34. Zuweilen ist er in einen langen, sich allmählich zuspitzenden Fortsatz ausgezogen und zuweilen in xVbtheilungen abgeschnürt. Es scheint, als wenn in Folge veränderter Ernährung oder Lebensweise der Blindsack bei verschiedenen Thieren sehr verkürzt worden sei, wo dann der wurmförmige Anhang als Rudiment des verkürzten Theils übrig bleibt. Dass dieser Anhang ein Rudiment ist, können wir aus seiner unbedeutenden Grösse und aus den Beweisen für seine Veränderlichkeit beim Menschen schliessen, welche Professor Caxestrini 35 gesammelt hat. Er fehlt gelegentlich vollständig oder ist wiederum bedeutend entwickelt; seine Höhle ist zuweilen vollständig für die Hälfte

'" Dr. Webh, Teeth in Ma.11 and the Anthropoid Apes. Citirt von C. Carter Blake in Anthropolog. Review. Juiy, 1867, p. 290.

" Owen, Anatomy of Vertebrates. Vol. III, p. 320, 321, 325.

3! lieber die primitive Form des Schädels. Uebers. in Anthropolog. Review. Oct. 186«, p. 426.

" Owen, Anatomy of Vertebrates. Vol. III, p. 41», 434, 441.

35 Annuario della Soc. ilei Natur. Modena, 1867, p. 04.

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Cap. 1.                                         Rudimente.                                                  23

oder zwei Drittel seiner Länge verschlossen, wobei dann der Endtheil ans einer abgeplatteten, soliden Ausbreitung besteht. Beim Orang ist dieser Anhang lang und gewunden; beim Menschen entspringt er vom Ende des kurzen Blindsacks und ist gewöhnlich 4—5 Zoll lang, während er nur ein Drittel Zoll im Durchmesser hat. Er ist nicht bloss nutzlos, sondern wird zuweilen die Todesursache, von welcher Thatsache mir vor Kurzem zwei Fälle bekannt geworden sind. Es rührt dies daher, dass kleine, harte Körper in den Kanal eindringen und dadurch Entzündung verursachen 36.

Bei einigen Vierhändern, bei den Lemuriden und besonders bei den Carnivoren findet sich in der Nähe des unteren Endes des Oberarmbeins ein Kanal, das sogenannte supracondyloide Loch, durch welches der grosse Nerv der vorderen Glied maassen und zuweilen auch die grosse Arterie hindurchtritt. Nun findet sich, wie Dr. Struthers S7 und Andere gezeigt haben, am Oberarmbein des Menschen gewöhnlich eine Spur dieses Kanals; und zuweilen ist er ziemlich vollständig entwickelt, indem er von einem überhängenden hakenförmigen Knochen-fortsatze gebildet wird, welcher sich dann durch einen Bandstreifen zu einem Loche vervollständigt. Ist er vorhanden, so tritt unveränderlich der grosse Armnerv durch ihn hindurch, und dies beweist deutlich, dass er das FTomologon und Rudiment des supracondyloiden Lochs der niederen Säugethiere ist. Nach einer Schätzung von Professor Turner kommt er, wie mir derselbe mittheilte, an ungefähr einem Procent neuerer Skelette vor. Dieses Vorkommen bietet aber nicht so grosses Interesse dar, da das Foramen nicht regelmässig bei den höheren Qua-drumanen vorhanden ist. Es ist daher zweifelhaft, wie Mr. Busk gegen mich geäussert hat, ob seine gelegentliche Anwesenheit beim Menschen einem Beibehalten einer ursprünglichen Bildungseigenthümlichkeit oder einem Rückschlage auf eine solche zugeschrieben werden kann.

Es rindet sich am Oberarmbein noch ein anderes Loch, welches das intercondyloide genannt werden kann. Dieses kommt bei verschiedenen anthropomorphen und andern Affen 38, aber gleichfalls bei vielen

:i6 Ch. Martins (De l'unite organique, in: Revue des Deux Mondes. 15. Juin, 1802, p. 16) und Iläckel (Generelle Morphologie. Bd. 2, S. 278) haben beide bemerkt, dass dies eigenthümliche Rudiment zuweilen den Tod verursacht.

:" „The Lancet". Jan. 24, 1863, p. 83. R. Knox, Great Artists and Ana-tomists, p. 63, s. auch einen wichtigen Aufsatz von Grub er im Bulletin de l'Acad. Imp. de St. Petershg. Tom. XII, 1867, p. 448.

38 Mr. St. George Mivart, in: Philosoph. Transact. 1867, p. 310.

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24                                     Körperbau des Menschen.                               I. Theil.

der niederen Säugethiere und gelegentlich beim Menschen vor. Es ist merkwürdig, dass dies Loch während alter Zeiten viel häufiger vorhanden gewesen zu sein scheint, als in neuerer Zeit. Mr. Busk 39 hat über diesen Gegenstand die folgenden Beweisstücke gesammelt: Professor Broca „beobachtete die Durchbohrung an 4'/2ü'<> der von ihm auf der „Cimetiere du sud in Paris gesammelten Armknochen, und in der Höhle „von Orrony, deren Inhalt der Bronzeperiode zugeschrieben wird, fand sie „sich selbst an acht Oberarmbeinen unter zwei und dreissig. Dieses ausserordentliche Verhältniss glaubt er aber dem Umstände zuschreiben zu „müssen, dass die Höhle vielleicht eine Art ,Familiengruft' gewesen ist. „Ferner fand Mr. Düpost 3()°'o durchbohrter Armknochen in den Höhlen „des Lesse-Thals, welche der Keuthierperiode angehören, während Mr. „Leguay in einer Art von Dolmen in Argeuteuil 25°/0 perforirt fand, .und Pruwk-Bey fand von den Knochen von Vaureal 26°i> in diesem „Zustande. Auch darf man nicht unbeachtet lassen, dass Pruner-Bey „angibt, dieser Zustand sei bei Guanchenskeletten der gewöhnliche". Die Thatsache, dass alte Kassen in diesem Falle wie in mehreren anderen häufiger als neuere Kassen Bildungen darbieten, welche denen niederer Thiere gleichen, ist interessant. Eine hauptsächliche Ursache hiervon scheint die zu sein, dass ältere Rassen in der langen Descendenzreihe-ihren entfernten, thierähnlichen Urerzeugern etwas näher stehen als moderne Kassen.

Obgleich das Schwanzbein beim Menschen als Schwanz keine Function hat, so wiederholt es doch offenbar diesen Theil anderer Wirbel-thiere. Auf einer früheren Embryonalperiode ist es frei und springt, wie wir gesehen haben, über die unteren Extremitäten vor. In gewissen seltenen und anomalen Fällen hat man nach den Angaben von Isidore Geoffkoy St. Hilaire und anderen 40 gefunden, dass es ein kleines äusseres Kudiment eines Schwanzes bildet. Das Schwanzbein ist kurz und enthält gewöhnlich nur vier Wirbel, und diese sind in einem rudimentären Zustande, denn sie bestehen mit Ausnahme des obersten nur aus dem Wirbelkörper 4I. Sie sind mit einigen kleinen Muskeln versehen, von denen, wie mir Professor Turner mittheilt, der eine ausdrücklich von Tiieile als eine rudimentäre Wiederholung des Extensor

39  On the Caves of Gibraltar, in Transact. Internat. Congress of prehist. Arcli. Third Session. 18G9, p. 54.

40  Quatrefages bat neuerdings die Beweise über diesen Punkt gesammelt. Kerne des Cours Scientifiques. 18R7—1868, p. G25.

41  Owen, On the nature of Limbs. 184Ü, p. 114.

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Cap. 1.                                          Rudimente.                                                 25

des Schwanzes beschrieben worden ist, welcher bei vielen Säugethieren so kräftig entwickelt ist.

Das Rückenmark erstreckt sich beim Menschen nur bis zum letzten Rücken- oder Lendenwirbel nach abwärts; doch läuft ein fadenartiges Gebilde (das filum terminale) in der Achse des Kreuztheils des Eiickenmarkskaiials und selbst dem Kücken der Schwanzwirbel entlang noch hinab. Der obere Theil dieses Gebildes ist, wie mir Professor Turner mittheilt, unzweifelhaft mit dem Rückenmark homolog, der untere Theil bestellt aber offenbar nur aus der pia mater oder der ge-fässreichen Hüllnieinbran. Selbst in diesem Fall kann man sagen, dass das Schwanzbem eine Spur eines so wichtigen Gebildes wie des Rückenmarks trägt, wenngleich es nicht mehr in einen knöchernen Kanal eingeschlossen ist. Die folgende Thatsache, für deren Mittheilung ich gleichfalls Professor Turnek zu Dank verpflichtet bin, zeigt, wie genau das Schwanzbein dem wirklichen Schwanz bei niederen Thieren entspricht: Luschka hat nämlich neuerdings an der Spitze der Schwanzknochen einen sehr cigenthümlich gewundenen Körper entdeckt, welcher mit der mittleren Kreiizbeiuarterie in Zusammenhang steht, und diese Entdeckung veranlasste Krause und Meyer , den Schwanz eines Allen (Macams) und einer Katze zu untersuchen; bei Beiden fanden sie, wenn auch nicht gerade an der Spitze, einen ähnlich gewundenen Körper.

Die Fortpflanzimgsorgane bieten verschiedene rudimentäre Bildungen dar; diese weichen aber in einer bedeutungsvollen Hinsicht von den vorstehenden Fällen ab. Wir haben es hier nicht mit dem Ueberbleibsel eines Theiles zu thun, welcher der Art nicht mehr in einem funetions-fähigen Zustande angehört, vielmehr mit einem Theile, welcher beständig bei dem einen Geschlecht vorhanden und in Function ist, während er in dem anderen von einem blosen Rudiment vertreten wird. Nichtsdestoweniger ist das Vorkommen solcher Rudimente ebenso schwer unter zu Grundelegung des Glaubens an die besondere Schöpfung jeder einzelnen Species zu erklären, als die vorhin erörterten Fälle von Rudimenten. Ich werde später auf diese Rudimente zurückzukommen haben und werde zeigen, dass ihr Vorhandensein allgemein nur auf Erblichkeit beruht, insofern nämlich, als das eine Geschlecht Theile erlangt hat, welche zum Theil auch dem anderen überliefert worden sind. An dieser Stelle will ich nur einige Beispiele solcher Rudimente anführen. Es ist allgemein bekannt, dass bei den Männehen aller Säugethiere, mit Einschluss des Menschen, rudimentäre Brustdrüsen vorhanden sind; diese

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Körperbau des Menschen.

I. Theil.

haben sich in mehreren Fällen vollständig entwickelt und eine reichliche Menge von Milch gegeben. Ihre wesentliche Identität in den beiden Geschlechtern zeigt sich gleichfalls durch ihre sympathische Vergrößerung bei beiden während der Masern. Die sogenannte Vesicula prostatica, welche in vielen männlichen Säugethieren beobachtet worden ist, ist jetzt ganz allgemein für das Homologon des weiblichen Uterus in Verbindung mit dem zuführenden Kanal anerkannt worden. Man kann unmöglich Leuckabt's klare Beschreibung des Organs und seine Betrachtungen darüber lesen, ohne die Richtigkeit seiner Folgerungen zuzugeben. Dies ist besonders der Fall bei denjenigen Säugetliieren, in welchen der weibliche Uterus sich gabelförmig tlieilt; denn bei den Männchen derselben ist die Vesicula prostatica in gleicher Weise ge-theilt 42. Es Hessen sich noch andere rudimentäre Bildungen, die zu dem Fortpflanznngssystem gehören, hier anführen 4:i.

Die Tragweite der drei grossen, jetzt mitgetheilten Classen von Thatsachen ist nicht miszudenten. Es würde aber überflüssig sein, hier die ganzen Folgerungen, welche ich im Einzelnen in meiner ,Entstehung der Arten" gegeben habe, zu wiederholen. Die homologe Bildung des ganzen Körpers bei den Gliedern einer und derselben Classe ist sofort verständlich, wenn wir ihre Abstammung von einem gemeinsamen Ur-erzeuger und gleichzeitig ihre spätere Anpassung an verschieden gewordene Bedingungen annehmen. Nach jeder anderen Ansicht ist die Aehnlichkeit der Form zwischen der Hand eines Menschen oder eines Affen und dem Fusse eines Pferdes, der Flosse einer Robbe, dem Flügel 'einer Fledermaus u. s. w. völlig unerklärlich. Es ist keine wissenschaftliche Erklärung, wenn man sagt, dass sie alle nach demselben ideellen Plane gebaut sind. Tn Bezug auf die Entwickehmg können wir nach dem Princip, dass Variationen auf einer im Ganzen späteren embryonalen Periode und zu entsprechenden Altern vererbt werden, deutlich verstehen, woher es kommt, dass die Embryonen sehr verschiedener Formen doch mehr oder weniger vollkommen den Bau ihres gemeinsamen Urerzengers beibehalten. Von keinem anderen Standpunkte aus ist je eine Erklärung der wunderbaren Tliatsache gegeben worden, dass

4-Leuckart, in Todd's Cyclopaedia of Anatomy. 1849—52. Vol. IV, p. 1415. Beim Menschen ist dies Organ mir von drei bis sechs Linien lang, ist aber, wie so viele anderen rudimentären Organe, in Bezug auf seine Entwicke-lung, wie auf andere Merkmale, variabel.

*' s. hierüber Owen, Anatomy of Vertebrates. Vol. III, p. 675, 676, 706.

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Cap. 1.

Rudimente.

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die Embryonen eines Menschen, Hundes, einer Robbe, Fledermaus, eines Reptils u. s. w. anfangs kaum von einander unterschieden werden können. Um das Vorhandensein rudimentärer Organe zu verstehen, haben wir nur anzunehmen, dass ein früherer Vorfahre die in Frage stehenden Theile in vollkommenem Znstande besessen hat und dass dieselben unter veränderten Lebensgewolmheiten bedeutend reducirt wurden, und zwar entweder in Folge einfachen Nichtgebrauchs oder mittelst der natürlichen Zuchtwahl derjenigen Individuen, welche am wenigsten mit überflüssigen Organen belastet waren, und dies mit Unterstützung der früher angegebenen Vorgänge.

Wir können hierdurch verstehen, woher es gekommen ist, dass der Mensch und alle übrigen Wirbelthiere nach demselben allgemeinen Plane gebaut sind, warum sie die gleichen Stufen früherer Entwickelung durchlaufen und warum sie gewisse Rudimente gemeinsam beibehalten haben. In Folge hiervon sollten wir offen die Gemeinsamkeit ihrer Abstammung zugeben: irgend eine andere Ansicht sich zu bilden, hiesse annehmen, dass unser eigener Bau und der sämmtlicher Thiere um uns her nur eine Falle sei, um unser Urtheil gefangen zu nehmen. Diese Folgerung wird noch bedeutend verstärkt, wenn wir die Glieder der ganzen Thier-reihe und die Thatsachen ihrer Verwandtschaft oder Classification, ihrer geographischen Verbreitung und geologischen Aufeinanderfolge betrachten. Es ist nur unser natürliches Vorurtheil und jene Anmassmig, die unsere Vorfahren erklären hiess, dass sie von Halbgöttern abstammten, welche uns gegen diese Schlussfolgerung einnehmen. Es wird aber nicht lange dauern, und die Zeit wird da sein, wo man sich darüber wundern wird, dass Naturforscher, welche mit dem Bau und der Entwickelung des Menschen und anderer Säugethiere in Folge eingehender Vergleichungen bekannt sind, haben glauben können, dass jedes derselben die Folge eines besonderen Schöpfungsactes gewesen sei.

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Zweites Capitel.

Yergleichnug der Geisteskräfte des Menschen mit denen der

niederen Thiere.

Die Verschiedenheit in den geistigen Kräften zwischen dem höchsten Affen mid dem niedersten Wilden ist ungeheuer. — Gewisse Instincte sind gemeinsam.

—  Gemüthsbewegungeii. — Neugierde. — Nachahmung. — Aufmerksamkeit.

—  Gedächtniss. — Einbildung. — Verstand. — Progressive Vervollkommnung. — Von Thieren gebrauchte "Werkzeuge und Waffen. — Sprache. — Sclbstbcwnsstsein. — Gefühl für Schönheit. — Glaube an Gott, spirituelle Kräfte; Aberglaube.

Wir haben im letzten Capitel gesellen, dass der Mensch in dem Bau seines Körpers deutliclic Spuren seiner Abstammung von irgend einer niederen Form darbietet; man könnte aber behaupten, dass sich bei diesem Schlnss irgend ein Irrthum eingeschlichen haben müsse, da der Mensch in seinen Geisteskräften so bedeutend von allen anderen Thieren abweicht. Die Verschiedenheit in dieser Hinsicht ist ohne Zweifel enorm, selbst wenn man die Seele eines der niedrigsten Wildeu, welcher kein Wort besitzt, eine höhere Zahl als vier auszudrücken, und welcher keine abstracten Bezeichnungen für die gewöhnlichsten Gegenstände oder Af-fectel gebraucht, mit der des höchstorganisirten Affen vergleicht. Ohne Zweifel würde der Unterschied immer noch ungeheuer bleiben, selbst wenn einer der höheren Affen so weit veredelt oder civilisirt wäre, wie es ein Hund ist im Vergleich mit seiner Stammform, dem Wolfe oder Schakal. Die Feuerländer gehören zu den niedrigsten Barbaren: ich habe mich aber fortwährend darüber verwundern müssen, wie genau die drei an Bord des Bcagle befindlichen Feuerländer, welche einige Jahre in England lebten und etwas Englisch sprechen konnten, uns in ihrer ganzen Anlage und in den meisten geistigen Fähigkeiten glichen. Wenn kein organisches Wesen ausser dem Menschen irgendwelche geistige Fähigkeit besessen hätte, oder wenu seine Fähigkeiten von einer völlig

1 s. die Beweise hierfür in Sir J. Lubbock, Prehistoric Times, p. 354 und flgde.

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Cap. 2.

Verschiedenheiten der Geisteskräfte.

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verschiedenen Natur wären im Vergleich zu denen der niederen Thiere, so würden wir nie im Stande gewesen sein, uns zu überzeugen, dass unsere hohen Fähigkeiten allmählich entwickelt worden sind. Es lässt sich aber deutlich nachweisen, dass kein fundamentaler Unterschied dieser Art besteht. Wir müssen auch zugeben, dass ein viel weiterer Abstand in den geistigen Fähigkeiten zwischen einem der niedrigsten Fische, wie der Fricke oder einem Amphioxus, und dem der höheren Affen besteht, als zwischen dem Affen und dem Menschen: und doch wird diese Lücke durch zahllose Abstufungen ausgefüllt.

Auch ist iu den moralischen Anlagen der Unterschied zwischen einem Barbaren, wie dem von dem alten Seefahrer Byron beschriebenen Mann, welcher sein Kind an den Felsen zerschlug, weil es einen Korb mit Seeigeln hatte fallen lassen, und einem Howard oder Clerkson nicht gering, ebensowenig wie der Unterschied in Bezug auf den Verstand zwischen einem Wilden, der keine abstracten Ausdrücke gebraucht, und einem Newton oder Shakespeare. Verschiedenheiten dieser Art zwischen den grössten Männern der höchsten Bässen und den niedrigsten Wilden werden durch die feinsten Abstufungen mit einander verbunden. Es ist aber möglich, dass sie in einander übergehen und aus einander sich entwickeln können.

Ich beabsichtige in diesem Capitel nur zu zeigen, dass zwischen dem Menschen nnd den höheren Säugethieren kein fundamentaler Unterschied in Bezug auf ihre geistigen Fähigkeiten besteht. Jeder Abschnitt dieses Gegenstandes hätte sich in eine besondere Abhandlung ausdehnen lassen, muss aber hier nur kurz behandelt werden. Da keine Eintheilung der geistigen Fähigkeiten ganz allgemein angenommen worden ist, werde ich meine Bemerkungen in einer meinen Zwecken am meisten dienenden Weise anordnen und werde diejenigen Thatsachen auswählen, welche mich am meisten frappirt haben, in der Hoffnung, dass sie auch auf den Leser ihre Wirkung äussern werden.

In Bezug auf die sehr tief auf der Stufenleiter stehenden Thiere werde ich noch einige weitere Thatsachen in dem Abschnitt über geschlechtliche Zuchtwahl zu geben haben, welche zeigen werden, dass ihre geistigen Fähigkeiten bedeutender sind, als man hätte erwarten können. Die Veränderlichkeit dieser Fähigkeiten bei Individuen einer nnd derselben Art ist ein bedeutungsvoller Punkt für uns, und einige wenige Erläuterungen hierüber mögen hier gegeben werden. Es würde aber überflüssig sein, hier auf viele Einzelnheiten über diesen Gegenstand einzu-

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Geisteskräfte.

I. Theil.

gehen; denn nach häufigen Erkundigungen habe ich gefunden, dass alle Diejenigen, welche lange Zeit Thiere vieler Arten, mit Einschhiss der Vögel, aufmerksam beobachtet haben, der Meinung sind, dass die Individuen in jedem geistigen Characterzuge bedeutend von einander abweichen. Zu untersuchen, in welcher Weise die geistigen Fähigkeiten zuerst in den niedrigsten Organismen sich entwickelt haben, ist eine ebenso hoffnungslose Untersuchung als die, wie das Leben zuerst entstand. Dies sind Probleme für eine ferne Zukunft, wenn sie überhaupt je von Menschen gelöst werden können.

Da der Mensch dieselben Sinne wie die niederen Thiere besitzt, so müssen seine fundamentalen Eindrücke dieselben sein. Der Mensch hat auch einige wenige Instincte mit den Thiereu gemeinsam, wie den der Selbsterhaltung, der geschlechtlichen Liebe, der Liebe der Mutter für ihr Neugeborenes, die Fähigkeit des Letzteren zu saugen u. s. w. Doch hat vielleicht der Mensch etwas weniger Instiucte als diejenigen Thiere besitzen, welche zunächst in der Stufenreihe auf ihn folgen. Der Orang auf den indischen Inseln und der Schimpanse in Afrika bauen Plattformen, auf denen sie schlafen, und da beide Arten dieselbe Gewohnheit haben, so könnte man schliessen, dass dies die Folge eines Instincts sei; wir sind aber nicht sicher, ob es nicht das Kesnltut des Umstan-des ist, dass beide Thiere ähnliche Bedürfnisse und die gleiche Fähigkeit der Ueberlegung haben. Wir können annehmen, dass diese ^ Affen die vielen giftigen Früchte der Tropeu vermeiden, und der Mensch besitzt diese Kenntnisse nicht. Da aber unsere Hausthiere, wenn sie in fremde Länder gebracht und zuerst im Frühjahr hinausgetrieben werden, oft giftige Pflanzen fressen, welche sie später vermeiden, so sind wir nicht sicher, ob die Affen nicht nach ihrer eigenen Erfahrung od^r nach der ihrer Eltern lernen, welche Früchte sie zu wählen haben. Indessen ist es gewiss, wie wir sofort sehen werden, dass die Affen eine instinctive Furcht vor Schlangen und wahrscheinlich auch vor anderen gefährlichen Thieren habeu.

Die geringe Zahl und vergleichsweise Einfachheit der Instincte bei den höheren Thieren ist merkwürdig contrastirend mit denen der niederen Thiere. Covier behauptet, dass Instinct und Intelligenz in umgekehrtem Verhältniss zu einander stehen, und manche Schriftsteller haben gemeint, dass die intellectuellen Fähigkeiten der höheren Thiere sich allmählich aus deren Instincten entwickelt haben. Es hat aber

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Cap. 2.                                 Instinct und Intelligenz.                                        31

Pouchet in einem interessanten Aufsatze2 gezeigt, dass ein derartiges umgekehrtes Verhältniss factisch nicht besteht. Diejenigen Iusecten, welche die wunderbarsten Instincte besitzen, sind sicher auch die intelligentesten. Unter den Wirbelthieren besitzen die am wenigsten intelligenten Glieder, nämlich die Fische und Amphibien, keine complexen Instincte; und unter den Säugethieren ist das Thier, welches wegen seiner Instincte merkwürdig ist, nämlich der Biber, sehr intelligent, was Jeder zugeben wird, welcher Morgan's ausgezeichnete Beschreibung dieses Thieres3 gelesen hat.

Obgleich sich die ersten Spuren der .Intelligenz nach Herbebt Spencer 4 durch die Vervielfältigung und Coordinatiou von Reflexwirkungen entwickelt haben, und obschon viele der einfacheren Instincte in Wirkungen dieser Art übergehen und kaum von ihnen unterschieden werden können, wie bei dem Saugen junger Thiere, so scheinen doch die complicirten Instincte unabhängig von irgend einer Intelligenz entstanden zu sein. Ich möchte aber durchaus nicht läugnen, dass in-stinctive Thätigkeiten ihren fixirten und nicht angelernten Character verlieren und durch andere Thätigkeiten ersetzt werden können, welche durch Hülfe des freien Willens ausgeführt werden. Andererseits werden aber Handlungen des Verstandes, wie z. B. wenn Vögel auf oceanischen Inseln zuerst sich vor Menschen zu fürchten lernen, in Instincte umgewandelt und werden vererbt, wenn sie viele Generationen hindurch ausgeführt worden sind. Man kann dann von ihnen sagen, dass sie im Character verderbt sind, denn sie werden nun nicht mehr durch den Verstand oder nach der Erfahrung ausgeführt. Dagegen scheint die grössere Zahl der complicirten Instincte in einer völlig verschiedenen Weise erlangt worden zu seiu, nämlich durch die natürliche Zuchtwahl von Variationen einfacher instinctiver Handlungen. Derartige Variationen scheinen aus denselben unbekannten Ursachen, welche hier auf die Organisation des Gehirns wirken, zu entstehen, wie solche unbedeutende Abänderungen oft individuelle Verschiedenheiten in anderen Theilen des Körpers hervorrufen; und in Folge unserer Unwissenheit sagt man dann häufig, dass diese Variationen spontan auftreten. Ich glaube, wir können auch mit Bezug auf den Ursprung der complicir-teren Instincte zu keinem anderen Schlüsse gelangen, wenn wir an die

1 L'instinct chez les Insectes, in: Revue des Deux Mondes. Febr. 1870, p. 690.

3 The American Beaver and his Works. 1S68.

1 The Principles of Psychology. 2. edit. 1870, p. 41S—443.

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Geisteskräfte.

I. Theil.

wunderbaren Instincte steriler Arbeiterameisen und Bienen uns erinnern, welche keine Nachkommen hinterlassen, denen sie die Wirkungen der Erfahrung und veränderten Lebensweise überliefern könnten.

Obsclion ein hoher Grad von Intelligenz mit dem Vorhandensein complicirter Instincte verträglich ist, wie wir bei den eben genannten Insecten und beim Biber gesehen haben, so ist es doch nicht unwahrscheinlich, dass sie in einer gewissen Ausdehnung ihre gegenseitige Entwickelung stören. Heber die Functionen des Gehirns ist nur wenig-bekannt ; aber wir beobachten, dass in dem Maasse, wie die intellectu-ellen Fähigkeiten höher entwickelt werden, auch die verschiedenen Theile des Gehirns durch die feinst verwobenen Kanäle gegenseitigen Austausches mit einander in Verbindung gebracht werden müssen; und als Folge hiervon würde jeder einzelne Theil vermuthlich weniger geschickt werden, besondere Empfindungen oder Associationen in einer bestimmten und gleichförmigen, das ist instinetiven, AVeise zu entwickeln.

Ich hielt es für der Mühe werth, diese Abschweifung hier einzuschalten, weil wir die geistigen Fähigkeiten der höheren Thiere und besonders des Menschen leicht unterscliätzen können, wenn wir ihre auf die Erinnerung vergangener Ereignisse, auf Vorsicht, Nachdenken und Einbildungskraft gegründeten Handlungen mit den vollständig ähnlichen Handlungen vergleichen, welche von niederen Thieren instinetiv ausgeführt werden. In diesem letzteren Falle ist die Fälligkeit zur Ausführung solcher Handlungen Schritt für Schritt durch Variabilität der psychischen Organe und natürliche Zuchtwahl erreicht worden, ohne dass eine bewusste Intelligenz seitens des Thieres während einer jeden der aufeinanderfolgenden Generationen dazu gekommen wäre. Ohne Zweifel ist viel von der Verstandesarbeit, die der Mensch ausführt, auf Nachahmung und nicht auf Ucberlegung zu schieben, wie Mr. Wallace bemerkt hat3; aber zwischen seinen Handlungen und vielen der von niederen Thieren ausgeführten besteht der grosse Unterschied, dass der Mensch beim ersten Versuche nicht im Stande ist z. B. ein steinernes Beil oder ein Boot nur durch die Fähigkeit der Nachahmung zu fertigen. Er hat seine Arbeit durch Uebung zu erlernen. Ein Biber dagegen kann seinen Kanal und ein Vogel sein Nest genau so oder nahezu so gut das erste Mal, wo er's versucht, bauen, als wenn er alt und erfahren ist.

Doch kehren wir zu unserem vorliegenden Gegenstände zurück.

5 Contribution to the Theory of Natural Selection. 1870, p. 2i2.

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Cap. 2.                                   Gemüthsliewegimgeu.                                         33

Die niederen Thiere empfinden offenbar wie der Mensch Freude und Schmerz, Glück und Elend. Das Glück zeigt sich nirgends besser als bei jungen Thieren, wie bei jungen Hunden, Katzen, Lämmern u. s. w., wenn sie zusammen spielen wie unsere eigenen Kinder. Reibst Insecten spielen zusammen, wie jener ausgezeichnete Beobachter P. Hi'ber beschrieben hat 6, welcher .sah, wie Ameisen sich jagten und einander zu beissen vorgaben, als wenn es junge Hunde gewesen wären.

Die Thatsache, dass die niederen Thiere durch dieselben Erregungen betroffen werden wie wir, ist so sicher festgestellt, dass es nicht nötliig ist, den Leser durch viele Einzelnheiten zu ermüden. Der Schreck wirkt auf sie iu derselben Weise wie auf uns, er macht ihre Muskeln erzittern, ihr Herz schlagen, die Scliliessmuskeln erschlaffen und das Haar sich aufrichten. Verdacht, das Kind der Gefahr, ist äusserst cha-racteristisch für viele wilde Thiere. Muth und Furchtsamkeit sind bei Individuen einer und derselben Species äusserst veränderliche Eigenschaften, wie wir bei unseren Hunden deutlich sehen. Manche Hunde und Pferde sind schlechten Temperaments und werden leicht bös, andere sind guten Temperaments, und diese Eigenschaften werden sicher vererbt. Jedermann weiss, wie leicht die Thiere wüthend werden und wie deutlich sie es zeigen. Viele und wahrscheinlich wahre Anekdoten hat man von der lange verschobenen und überlegten Rache verschiedener Thiere veröffentlicht. Der zuverlässige Rengger und Brehm 7 geben an, dass die amerikanischen und afrikanischen Affen, welche sie zahm besassen, sich sicher rächten. Die Liebe eines Hundes für seinen Herrn ist eine notorische Thatsache, im Todeskampfe hat er seinen Herrn noch geliebkost, und Alle haben davon gehört, wie ein Hund, an dem man die Vivisection ausführte, die Hand seines Operateurs leckte. Wenn nicht dieser Mann ein Herz von Stein hatte, so muss er bis zur letzten Stunde seines Lebens Gewissensbisse gefühlt haben. Whewell 8 hat bemerkt: »Wer nur die rührenden Beispiele mütterlicher Liebe liest, „die so oft von Frauen aller Nationen und von den Weibchen aller ,Thiere erzählt worden sind, kann der wohl zweifeln, dass das Princip »der Thätigkeit in beiden Fällen dasselbe ist?"

6  Recherches sur les moeurs des Fourmis. 1810, p. 173.

7  Alle die folgenden Angaben, welche nach der Autorität dieser beiden Naturforscher gemacht sind, sind entnommen aus Rengger, Naturgesch. der Säu-gethiere von Paraguay. 1830. S. 41—57 und aus Brehm's Thierleben. Bd. 1, S. 10—87.

8  Bridgewater-Treatise, p. 263.

Darwin, Abstammung. 1. Zweite Aullage.                                                       3

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Geisteskräfte.

I. Theil.

Wir sehen mütterliche Zuneigung in den unbedeutendsten Zügen sich äussern; so beobachtete Kengger einen amerikanischen Affen (einen Cebus), welcher sorgfältig die Fliegen verscheuchte, die sein Junges peinigten, und Duvaucel sah einen Hylobates, welcher seinen Jungen in einem Flusse die Gesichter wusch. Der Kummer weiblicher Affen um den Verlust ihrer Jungen war so intensiv, dass er ohne Ausnahme den Tod gewisser Arten verursachte, welche Brehm in Nordafrika in Gefangenschaft hielt. Verwaiste Affen wurden stets von den anderen Affen, sowohl Männchen als Weibchen, adoptirt und sorgfältig bewacht. Ein weiblicher Pavian hatte ein so weites Herz, dass er nicht bloss junge Affen anderer Arten adoptirte, sondern auch noch junge Hunde und Katzen stahl, welche er beständig mit sich herumführte. Doch gieng seine Liebe nicht so weit, mit seinen adoptirten Nachkommen die Nahrung zu theilen, worüber sich Brehm deshalb verwundert, weil seine Affen stets Alles gewissenhaft mit ihren eigenen Jungen theilten. Ein adoptirtes Kätzchen kratzte den ebenerwähnten liebevollen Pavian, welcher sicher einen feinen Verstand besass; denn er war sehr erstaunt, gekratzt zu werden, untersuchte sofort die Füsse des Kätzchens und hiss ihm, ohne sich viel zu besinnen, die Krallen ab. Im zoologischen Garten hörte ich von einem Wärter, dass ein alter Pavian (C. Chacma) einen ßAesws-Affen adoptirt hatte; als aber ein junger Drill und Man-drill in den Käfig gethan wurden, schien er zu bemerken, dass diese Affen, trotzdem sie verschiedenen Arten angehörten, doch noch näher mit ihm verwandt wären, denn er verstiess sofort den Khesus und adoptirte jene Beiden. Ich sah dann, dass der junge Khesus sehr unzufrieden damit war, in dieser Weise Verstössen zu werden; er neckte undatta-kirte den jungen Drill und Mandrill, wie ein ungezogenes Kind, so oft er es mit Sicherheit thun konnte, welches Betragen bei dem alten Pavian grosse Indignation erregte. Nach Brehm vertheidigen auch Affen ihre Herren, wenn diese von irgend Jemand angegriffen werden, ebensogut wie sie Hunde, denen sie zngethan sind, gegen die Angriffe anderer Hunde vertheidigen. Wir berühren aber hiermit den Gegenstand der Sympathie, auf welchen ich noch zurückkommen werde. Einige von Brehm's Affen amüsirten sich damit, einen gewissen alten Hund, den sie nicht leiden konnten, und ebenso andere Thiere in verschiedenen ingeniösen Weisen zu necken.

Die meisten der complicirteren Gemüthsbewegungen sind den höheren Thieren und uns gemeinsam. Jedermann hat gesehen, wie eifer-

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Cap. 2.                                 Intellectuelle Regungen.                                       35

süchtig ein Hund auf die Liebe seines Herrn ist, wenn diese auch irgend einein anderen Wesen erwiesen wird, und ich habe dieselbe Thatsacbe bei Affen beobachtet. Dies zeigt, dass die Thiere nicht bloss Liebe, sondern auch die Sehnsucht haben, geliebt zu werden. Die Thiere haben offenbar Ehrgeiz; sie lieben Anerkennung und Lob, und ein Hund, welcher seinem Herrn einen Korb trägt, zeigt Selbstgefälligkeit und Stolz in hohem Grade. Ich glaube, es kann kein Zweifel sein, dass ein Hund Schamgefühl, und zwar verschieden von Furcht, besitzt, ebenso Etwas von Bescheidenheit, wenn er zu oft um Nahrung bettelt. Ein grosser Hund verachtet das Knurren eines kleinen Hundes, und dies könnte man Grossmuth nennen. Mehrere Beobachter haben angegeben, dass Affen es sicher nicht leiden können, ausgelacht zu werden, und sie erfinden zuweilen eingebildete Beleidigungen. Im zoologischen Garten sah ich einen Pavian, der jedesmal in grenzenlose Wuth gerieth, wenn sein Wärter einen Brief oder ein Buch herausholte und ihm laut vorlas; und diese Wuth war so heftig, dass er bei einer Gelegenheit, bei Avelcher ich selbst zugegen war, sein eigenes Bein biss, bis das Blut kam.

Wir wollen uns nun den intellectuelleren Erregungen und Fähigkeiten zuwenden, welche von grosser Bedeutung sind, da sie die Grundlage zur Entwickelung der höheren geistigen Kräfte bilden. Die Thiere freuen sich offenbar der Anregung und leiden unter der Langeweile, wie man bei Hunden und, nach fiENGöEK, bei Affen sehen kann. Alle Thiere empfinden Verwunderung und viele zeigen Neugierde. Von dieser letzteren Eigenschaft haben sie zuweilen zu leiden, so wenn der Jäger Grimassen schneidet und sie dadurch anlockt. Ich habe dies beim Beb selbst gesehen, und dasselbe gilt für die behutsamen Gemsen und manche Arten von wilden Enten. Brehm theilt eine merkwürdige Erzählung von der instinetiven Furcht mit, welche seine Affen vor Schlangen zeigten; ihre Neugierde war aber so gross, dass sie sich nicht enthalten konnten, gelegentlich ihre Neugierde in einer äusserst menschlichen Art und Weise zu befriedigen, dadurch, dass sie den Deckel des Kastens, in dem die Schlangen gebalten wurden, aufhoben. Mich wunderte diese Erzählung so, dass ich eine ausgestopfte und zusammengerollte Schlange in das Affenhaus im zoologischen Garten mitnahm, und die dadurch verursachte Aufregung war eines der merkwürdigsten Schauspiele , was ich jemals zu Gesicht bekommen habe. Drei Arten von Cercoptihecus waren am meisten beunruhigt, sie flogen in ihrem Käfig

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Geisteskräfte.

I. Theil.

herum und stiessen scharfe Warnungsrufe aus, welche von den anderen Affen verstanden wurden. Nur wenige junge Affen und ein alter Anubis-Pavian nahmen von der Schlange keine Notiz. Ich legte dann das ausgestopfte Exemplar in einein der grösseren Behälter auf den Boden. Nach einiger Zeit hatten sich alle Affen rings um dasselbe in weitem Kreise versammelt und boten, dasselbe anstierend, einen äusserst lächerlichen Anblick dar. Sie wurden äusserst nervös, und als z. B. eine hölzerne Kugel, welche ein ihnen vollständig vertrautes Spielzeug war, zufällig im Stroh, unter dem sie theilweise verhüllt war, bewegt wurde, stoben sie sofort auseinander. Diese Affen benahmen sich sehr verschieden, wenn ein todter Fisch, eine Maus oder irgend andere neue Gegenstände in ihre Käfige gebracht wurden. Denn obwohl sie zuerst erschreckt waren, näherten sie sich doch bald, nahmen dieselben in die Hände und untersuchten sie. Ich brachte dann eine lebendige Schlange in einem Papiersack, dessen Oefmung lose verschlossen war, in einen der grösseren Behälter. Einer der Affen näherte sich sofort, öffnete vorsichtig den Sack ein wenig, guckte hinein und prallte sofort zurück. Dann beobachtete ich, was Brehm beschrieben hat; denn einer von den Affen nach dem anderen, mit hocherhobenem und auf die Seite gewandtem Kopf, konnte der Versuchung nicht widerstehen, von Zeit zu Zeit einen kurzen Blick in den aufrechtstehenden Sack und auf den schreckenerregenden Gegenstand, der ruhig auf seinem Boden lag, zu werfen. Es möchte fast scheinen, als wenn die Affen irgend eine Vorstellung von zoologischer Verwandtschaft hätten, denn diejenigen, welche Brehm hielt, zeigten eine merkwürdige und doch nicht miszudeutende instinctive Furcht vor uuschuldigeu Eidechsen und Fröschen. Auch ist beobachtet worden, dass ein Orang von dem ersten Anblick einer Schildkröte sehr beunruhigt wurde 9.

Das Princip der Nachahmung ist beim Menschen sehr stark und besonders beim Menschen in einem barbarischen Zustande. Desor 10 hat bemerkt, dass kein Thier willkürlich eine vom Menschen verrichtete Handlung nachahmt, bis wir, in der Stufenleiter aufsteigend, zu den Affen kommen, von denen ja sehr bekannt ist, dass sie in lächerlicher Weise nachahmen. Thiere ahmen aber zuweilen ihre Handlungen unter einander nach: so lernten zwei Arten vou Wölfen, welche von Hunden aufgezogen worden waren, zu bellen, wie es zuweilen auch der

a W. C. L. Martin, Natur. Hist. of Mammalia. 1841, p. 405.

10 Angeführt von C. Vogt, Memoires sur les Microcephales. 1867, p. 168.

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Cap. 2.                        Aufmerksamkeit. — Gedächtniss.                                 37

Schakal thnt n. Ob dies indessen eine willkürliche Nachahmung genannt werden kann, ist eine andere Frage. Einer Angabe zufolge, welche ich gelesen habe, haben wir Grund zu glauben, dass junge von Katzen gesäugte Hunde zuweilen lernen, ihre Füsse zu lecken und sich damit ihr Gesicht zu reinigen. Es ist wenigstens gewiss, dass, wie ich von einem völlig glaubwürdigen Freunde höre, manche Hunde sich in dieser Weise benehmen. Vögel ahmen den Gesang ihrer Eltern nach und zuweilen auch den anderer Vögel, und von Papageien ist es notorisch, dass sie jeden Laut, welchen sie oft hören, nachahmen.

Kaum irgend eine Fähigkeit ist für den intellectuellen Fortschritt des Menschen von grösserer Bedeutung als die Fähigkeit der Aufmerksamkeit. Thiere zeigen diese Fähigkeit offenbar, so wenn eine Katze vor einer Höhle wartet und sich vorbereitet, auf ihre Beute zu springen. Wilde Thiere werden zuweilen hierdurch so befangen, dass man sich ihnen leicht annähern kann. Mr. Bartlett hat mir einen merkwürdigen Fall mitgetheilt, wie variabel diese Fähigkeit bei den Affen ist. Ein Mann, welcher Affen abrichtete, pflegte die gewöhnlichen Arten von der zoologischen Gesellschaft zum Preise von 5 Pfund (Sterling) das Stück zu kaufen; er erbot sich aber, die doppelte Summe zu zahlen, wenn ihm erlaubt sei, drei oder vier derselben ein paar Tage lang bei sich zu halten, um einen auszirwählen. Als er gefragt wurde, wie es möglich sei, dass er so bald schon sehe', ob ein besonderer Affe sich als ein guter Schüler herausstellen würde, antwortete er, dass Alles von ihrer Fähigkeit, aufzumerken, abhänge. Würde die Aufmerksamkeit des Affen, während er mit ihm spräche und ihm irgend etwas erklärte, leicht abgezogen, sei es durch eine Fliege an der Wand oder irgend einen anderen unbedeutenden Gegenstand, so sei der Fall hoffnungslos. Versuche er einen unaufmerksamen Affen durch Strafe heranzuziehen, so werde er böse. Andererseits meinte er, dass ein Affe, welcher aufmerksam auf ihn merkte, immer abgerichtet werden könne.

Es ist fast überflüssig, noch zu erwähnen, dass Thiere ein ausgezeichnetes Gedächtniss für Personen und Orte haben. Mir hat Sir Andrew Smith mitgetheilt, dass ihn ein Pavian am Cap der guten Hoffnung voller Freude nach einer Abwesenheit von neun Monaten wiedererkannt habe. Ich hatte einen Hund, welcher wild und unwirsch gegen alle Fremden war, und versuchte absichtlich sein Gedächtniss

11 Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 1, S. 33.

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38

Geisteskräfte.

I. Theil.

nach ekier Abwesenheit von fünf Jahren und zwei Tagen. Ich gieng zu dem Stall, wo er war, und rief ihn an in meiner alten Weise; er zeigte keine Freude, aber folgte mir augenblicklich, kam heraus und gehorchte mir so genau, als wenn ich ihn erst vor einer halben Stunde verlassen hätte. Ein Strom alter Ideenverbindungen, welche fünf Jahre lang geschlummert hatten, war hierdurch in seiner Seele augenblicklieh erweckt worden. Selbst Ameisen erkannten, wie P. Huber 12 entschieden nachgewiesen hat, ihre Genossen, die demselben Haufen angehörten, nach einer Trennung von vier Monaten wieder. Tliiere können sicher durch irgend welche Mittel die Zeitintervallc zwischen wiederkehrenden Ereignissen beurtheilen.

Die Einbildungskraft ist eine der höchsten Prärogativen des Menschen. Durch dieses Vermögen verbindet er unabhängig vom AVillen frühere Eindrücke und Ideen und erzeugt damit glänzende und neue Resultate. Jean Paul Friedrich Richter bemerkt13: „ein Dichter, , welcher erst überlegen muss, ob er einen seiner Charactere Ja oder „Nein sagen lassen soll — zum Teufel mit ihm. Er ist nur ein seelenloser Körper." Das Träumen gibt uns die beste Idee von dieser Fähigkeit, wie ebenfalls Jean Paul sagt: „Der Traum ist eine unwillkürliche Kunst der Dichtung." Der Werth der Producte unserer Einbildungskraft hängt natürlich von der Zahl, Genauigkeit und Klarheit unserer Eindrücke ab, ferner von dem Urtheil und dem Geschmack bei der Auswahl und dem Zurückweisen der unwillkürlich sich darbietenden Combinationen und in einer gewissen Ausdehnung von unserer Fähigkeit, sie willkürlich zu combiniren. Da Hunde, Katzen, Pferde und wahrscheinlich alle höhereu Thiere, selbst Vögel, wie nach gewichtigen Autoritäten u angeführt wird, lebhafte Träume haben und sich dies durch ihre Bewegungen und ihre Stimme zeigt, so müssen wir auch zugeben, dass sie eine gewisse Einbildungskraft haben.

Unter allen Fähigkeiten des menschlichen Geistes steht, wie wohl allgemein zugegeben wird, der Verstand obenan. Es bestreiten nur wohl wenige Personen noch, dass die Thiere eine gewisse Fähigkeit des Nachdenkens haben. Fortwährend kann man sehen, dass Thiere zuwarten, überlegen und sich entschliessen. Es ist eine bezeichnende That-sache, dass je mehr die Lebensweise irgend eines besonderen Thieres

12  Les Moeurs des Fourmis. 1810, p. 150.

13  Citirt in: Aland sie y, Physiology and Pathology ofAlind. 18G8, p. 10, 220.

14  Jerdon, Iiirds of India. Vol. 1. 1862, p. XXI.

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Cap. 2.

Verstand.

39

von einem Naturforscher beobachtet wird, dieser ihm desto mehr Verstand zuschreibt und desto weniger die Handlungen nicht gelernten Instincten beilegt15. In späteren Capiteln werden wir sehen, dass Thiere, welche äusserst niedrig in der Stufenleiter stehen, offenbar einen gewissen Grad von Verstand zeigen. Es ist ohne Zweifel oft schwierig1, zwischen den Aeusserungen des Verstandes und den des Instincts zu unterscheiden. So bemerkt Dr. Hayes in seinem Werk über „das offene Polarmecr" wiederholt, dass seine Hunde, statt die Schlitten in einer compacten Masse zu ziehen, ansemandergiengen nnd sich trennten, wenn sie auf dünnes Eis kamen, so dass ihr Gewicht gleichmässiger vertheilt wnrde. Dies war oft das erste Warmmgszeichen, welches die Reisenden erhielten, dass das Eis dünn und gefährlich wurde. Handelten nnn die Hunde nach der Erfahrung jedes einzelnen Individuums so oder nach dem Beispiele der älteren und gescheidteren Hnnde oder nach einer ererbten Gewohnheit, d. h. nach einem lustincte? Dieser Instinct könnte wohl in jener Zeit entstanden sein, als vor langen Jahren Hunde zuerst von den Eingeborenen dazu benutzt wurden, Schlitten zu ziehen, oder es könnten die aretischen Wölfe, die Urväter der Eskimohunde, diesen Instinct erlangt haben, der sie zwang, ihre Beute nicht in einer geschlossenen Masse anzugreifen, wenn sie sich auf dünnem Eise befanden. Fragen dieser Art sind äusserst schwierig zu beantworten.

Es sind so viele Fälle in verschiedenen Werken angeführt worden, welche zeigen, dass Thiere einen gewissen Grad von Verstand besitzen, dass ich hier nur zwei oder drei von Rexgger gewährleistete Beispiele anführen will, welche sich auf amerikanische, in ihrer Ordnung ziemlich tief stehende Affen beziehen. Er gibt an, dass, als er seinen Affen zuerst Eier gab, sie dieselben zerbrachen und daher viel von ihrem Inhalt verloren. Später schlugen sie vorsichtig das eine Ende an einen harten Köper und nahmen die Schalenstückchen mit ihren Fingern heraus. Hatten sie sich einmal mit irgend einem scharfen Werkzeug geschnitten, so wollten sie es nicht wieder berühren oder es nur mit der grössten Vorsicht behandeln. Stücke Zuckers wurden ihnen oft in Papier eingewickelt gegeben, und Rengger that zuweilen eine lebendige Wespe in das Papier, so dass sie beim hastigen Entfalten gestochen wurden. War dies einmal der Fall gewesen, so hielten sie stets das

15 L. H. Morgan's Buch über „The American Beaver" 1868 bietet eine gute Erläuterung dieser Bemerkung dar. Ich kann mich indessen nicht erwehren zu glauben, dass er die Kraft des Instincts viel zu sehr unterschätzt.

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40

Geisteskräfte.

I. Theil.

Päckchen zuerst an ihre Ohren, um irgend eine Bewegung im Innern zu entdecken. Wer durch Thatsachcn, wie die vorliegenden und durch das, was er bei seinen eigenen Hunden beobachten kann, nicht überzeugt wird, dass Thiere überlegen können, der wird durch nichts, was ich noch hinzufügen könnte, überzeugt werden. Nichtsdestoweniger will ich in Bezug auf Hunde einen Fall erwähnen, da er von zwei verschiedenen Beobachtern bezeugt wird und kaum von der Modification irgend welches, Instincts abhängen kann.

Mr. Colquhoun 16 schoss zwei wilde Enten flügellahm, welche auf das jenseitige Ufer eines Flusses fielen. Sein Wasserhund versuchte Beide auf einmal herüberzubringen, es gelang ihm aber nicht. Trotzdem man wusste, dass er nie vorher auch nur eine Feder gekrümmt hätte, biss er die eine Ente todt, brachte die andere herüber und gieng nun zu dem todten Vogel zurück. Oberst Hutchinson erzählt, dass zwei Rebhühner auf einmal geschossen wurden, das eine wurde ge-tödtet, das andere verwundet. Das Letztere rannte fort und wurde vom Hunde gefangen, welcher auf dem Rückwege beim todten Vogel vorbeikam. .Er blieb stehen, offenbar sehr in Verlegenheit, und nach ein-,oder zweimaligem Versuchen, wobei er fand, dass er es nicht mitnehmen konnte, ohne das flügellahm geschossene entwischen zu lassen, .überlegte er einen Augenblick, biss dann dieses mit einem kräftigen „Ruck absichtlich todt und brachte dann beide Vögel auf einmal. Es 9 war dies das einzige bekannte Beispiel, dass er je mit Absicht irgend ,welches Wiklpret verletzt hätte." Hier haben wir Verstand, wenn auch nicht durchaus vollkommenen. Beim der Hund hätte den verwundeten Vogel zuerst bringen und dann nach dem todten zurückkehren können, wie es in dem Falle mit den zwei wilden Enten geschah.

Der Maulthiertreiber in Südamerika sagt: ,ich will Ihnen nicht „das Maulthier geben, dessen Schritt am leichtesten ist, sondern la mas ,racional, das, welches es sich am besten überlegt", und Humboldt i7 fügt hinzu, „dieser populäre Ausdruck, den lange Erfahrung dictirt, „widerspricht der Annahme von belebten Maschinen vielleicht besser, „als alle Argumente der speculativen Philosophie.'

*

Ich glaube, es ist nun gezeigt worden, dass der Mensch und die höheren Thiere, besonders die Primaten, einige wenige Instincte geniein-

16 The Moor and the Loch p. 45. Hutchinson, Dog Breaking. 1850. p. 46. " Personal uarrative. Vol. III, p. 106.

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Cap. 2.

Fortschreitende Ausbildung.

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sam haben. Alle haben dieselben Sinneseindrücke und Empfindungen, ähnliche Leidenschaften, Afl'ecte und Erregungen, selbst die complexeren. Sie fühlen Verwunderung und Neugierde, sie besitzen dieselben Kräfte der Nachahmung, Aufmerksamkeit, des Gedächtnisses, der Einbildung, des Verstandes, wenn auch in verschiedenen Graden. Nichtsdestoweniger haben viele Schriftsteller behauptet, dass der Mensch durch seine geistigen Fähigkeiten von allen niederen Thieren durch eine unüberschreit-bare Schranke getrennt sei. Ich habe mir früher eine Sammlung von über zwanzig solcher Aphorismen gemacht; es ist aber nicht der Mühe werth, sie zu geben, da ihre grosse Zahl und Verschiedenheit die Schwierigkeit, wenn nicht die Unmöglichkeit des Versuches darlegen. Es ist behauptet worden, dass nur der Mensch einer allmählichen Vervollkommnung fähig sei, dass er allein Werkzeuge und Feuer gebrauche, andere Thiere sich angewöhne, Eigenthum, Besitz und Sprache gebrauche, dass kein anderes Thier Selbstbewusstsein habe, sich selbst verstehe, die Kraft der Abstraction habe oder allgemeine Ideen besitze, dass nur der Mensch ein Gefühl für Schönheit habe, Launen ausgesetzt sei, das Gefühl der Dankbarkeit, des Geheimnissvollen u. s. w. besitze, dass er an Gott glaube oder mit einem Gewissen ausgerüstet sei. Ich will über die wichtigeren und interessanteren der angegebenen Punkte ein paar Bemerkungen zu geben versuchen.

Erzbischof Sumnek behauptete früher ,8, dass nur der Mensch einer fortschreitenden Veredelung fähig sei. Was die Thiere betrifft, so wollen wir zunächst das Individuum betrachten. Hier weiss Jeder, der nur irgend eine Erfahrung im Legen von Fallen besitzt, dass junge Thiere viel leichter gefangen werden können als alte, sie lassen auch Feinde viel leichter sich annähern; und selbst in Bezug auf alte Thiere ist es unmöglich, viele an einer und derselben Stelle und in derselben Art von Fallen zu fangen oder durch dieselbe Art von Giften zu tödten. Und doch ist es unwahrscheinlich, dass Alle von dem Gifte genossen hätten, und unmöglich, dass Alle in der Falle gefangen worden seien. Sie müssen Vorsicht lernen dadurch, dass sie ihre Genossen gefangen oder vergiftet sehen. In Nordamerika, wo die pelztragenden Thiere lange Zeit verfolgt worden sind, zeigen sie nach dem einstimmigen Zeugniss aller Beobachter einen fast unglaublichen Grad von Scharfsinn, Vorsicht und List; so ist das Fallenstellen dort so lange schon

18 Citirt von Sir Gh. Lyell, das Alter des Menschengeschlechts. Original S. 497. (Der betreffende Abschnitt wurde in der Uebersetzung weggelassen.

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42

Geisteskräfte,

]. Theil.

ausgeführt worden, dass hier vielleicht Vererbung mit in's Spiel kommt.

Betrachten wir aufeinanderfolgende Generationen oder die Rasse, so ist keinem Zweifel unterworfen, dass Vögel und andere Thiere allmählich Vorsicht in Bezug auf den Menschen oder andere Feinde sowohl erlangen als verlieren 19. Und diese Vorsicht ist gewiss zum grössten Theil eine angeerbte Gewohnheit oder ein Instinct, zum Theil aber das Resultat individueller Erfahrung. Ein guter Beobachter, Leroy20, führt an, dass in Districten, wo Füchse sehr viel gejagt werden, die Jungen, wenn sie zuerst ihre Höhlen verlassen, unstreitig viel sehlauer sind als die alten in Districten, wo sie nicht sehr gestört werden.

Unsere dorn es tickten Hunde stammen von Wölfen und Schakals21 ab, und trotzdem sie nicht an Verschlagenheit gewonnen und an Bedachtsamkeit und ängstlicher Vorsicht verloren haben mögen, so haben sie doch in gewissen moralischen Eigenschaften, wie Zuneigung, Zuverlässigkeit, Temperament und wahrscheinlich in allgemeiner Intelligenz Fortschritte gemacht. Die gemeine Katte hat mehrere andere Species durch ganz Europa, in Theilen von Nordamerika, in Neuseeland und neuerdings in Formosa ebenso wie auf dem Festlande von China besiegt und zurückgetrieben. Mr. Swinhoe 22, welcher die letzteren Fälle mittheilt, schreibt den Sieg der gemeinen Katte über die grössere Mus coninya ihrer überlegenen List zu; und diese letztere Eigenschaft lässt sich wohl der beständigen Anstrengung aller ihrer Fähigkeiten zuschreiben, die sie der Verfolgung und Zerstörimg durch den Menschen entgegengesetzt, ebenso wie dem Umstände, dass fast alle weniger schlauen oder schwachköpfi-geren Katten mit Erfolg vom Menschen vertilgt worden sind. Ohne Bezugnahme auf irgendwelche directen Beweise behaupten zu wollen, dass kein Thier im Verlaufe der Zeit in Bezug auf den Intellect oder andere geistige Fähigkeiten fortgeschritten sei, heisst die Frage von der Entwiekelung der Arten überhaupt verneinen. Wir werden später sehen, dass nach Lartet jetzt lebende und zu mehreren Ordnungen gc-höreude Säugethiere grössere Gehirne haben, als ihre alten tertiären Prototypen.

19 Journal of Researclies during the Voyage of the „Beagle" 1845, p. 398. Entstehung der Arten. 4. Aufl. S. 238. t ,0 Lettres pliilos. sur l'Intelligence des Auimaux. nonv. edit. 1802, p, 86.

21 s. die Belege hierfür im 1. Capitel des 1. Bdes. von „Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication."

'" Proceed. Zool. Soc. 1864, p. 186.

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Cap. 2.                              Gebrauch von Werkzeugen.                                    43

Es ist oft gesagt worden, dass kein Thier irgend ein Werkzeug gebrauche. Der Schimpanse knackt aber im Naturzustände eine wilde Frucht, ungefähr einer Wallnuss ähnlich, mit einem Steine 23. Rf.ng-fiEK24 lehrte sehr leicht einen amerikanischen Affen auf diese Weise harte Palmniisse zu öffnen, und später gebrauchte dieser dann auf eigenen Antrieb Steine, um andere Arten von Nüssen ebenso wie Kästen zu öffnen. Er entfernte auch die weiche Rinde einer Frucht, welche einen unangenehmen Geschmack hatte. Einem anderen Affen wurde gelehrt, den Deckel einer grossen Kiste mit einem Stocke zn öffnen, und später brauchte er den Stock als Hebel, um schwere Körper zu bewegen ; und ich habe selbst gesehen, wie ein junger Orang einen Stock in einen Spalt steckte, seine Hände an das andere Ende brachte und ihn in der richtigen Weise als Hebel benutzte. In den eben erwähnten Fällen werden Steine und Stöcke als AVerkzeugo gebraucht; sie werden aber gleicherweise als Waffen benutzt. Bkehm 25 führt nach der Autorität des bekannten Reisenden Schimper an, dass, wenn in Abyssinien die zu der einen Art gehörenden Paviane (C. Gcladu) truppenweise von den Bergen herabsteigen, um die Felder zu plündern, sie zuweilen Truppen einer andern Species (C. Hamadryas) begegnen, und dann beginnt ein Kampf. Die Gcladas rollen grosse Steine herab, welchen die Hamadryas auszuweichen suchen, und dann gehen beide Species mit grossem Lärm wüthend auf einander los. Als Brehm den Herzog von Coburg-Gotha begleitete, stand er einem Angriff mit Feuerwaffen auf einen Trupp von Pavianen an dem Passe von Mensa in Abyssinien bei. Die Paviane wälzten ihrerseits so viele Steine, einige so gross wie ein Menschenkopf, den Berg herab, dass die Angreifer sich schnell zurückziehen mnssten, und der Pass war thatsächlich eine Zeit lang für die Karawane verschlossen. Es verdient Beachtung, dass diese Paviane hier in Uebereinstimmung handelten. Mr. Wallace 26 sah bei drei Gelegenheiten weibliche Orangs in Begleitung ihrer Jungen „Zweige und die ,grossen dornigen Früchte der Dnrianbäuine mit allen Zeichen der ,Wuth abbrechen und einen solchen Schauer von Geschossen herab-»werfen, dass es ihnen gelang zu verhindern, dass er sich dem Baume „zu sehr näherte."

23 Savage amlWyman, in Boston Journal of Nat. Hist. Vol. IV. 1813—44, p. 383.

21 Säugethiere von Paraguay. 1830, S. 51—56.

" Thierleben. Bd. 1. S. 79, 82.

26 The Malay Archipelago. Vol. I. 1869, p. 87.

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44                                         Geisteskräfte.                                   I. Theil.

Im zoologischen Garten gebrauchte ein Affe, welcher schwache Zähne hatte, einen Stein, um sich Nüsse zu öffnen, und mir versicherten die Wärter, dass das Thier, wenn es den Stein gebraucht habe, ihn im Stroh verberge und keinen anderen Affen ihn berühren lasse. Hier haben wir die Idee des Eigenthums, doch ist diese Idee jedem Hunde, der einen Knochen hat, und den meisten oder allen Vögeln in Bezug auf ihre Nester eigen.

Der Herzog von Argyll 27 bemerkt, dass das Formen eines Werkzeugs zu einem speciellen ZAveck dem Menschen absolut eigenthümlich sei, und er hält dies für einen unermesslichen Abstand zwischen ihm und den Thieren. Es liegt ohne Zweifel ein sehr bedeutender Unterschied hierin, aber mir scheint in Sir J. Lubbock's Vermuthung2S viel Wahres zu liegen, dass, als die Urmenschen zuerst Feuersteine zu irgend welchem Zwecke benutzten, sie sie zufällig zerschlagen und dann die scharfen Bruciistücke benutzt haben werden. Von diesem Standpunkte bedurfte es dann nur eines kleinen Schritts, um die Feuersteine absichtlich zu zerbrechen, und keines sehr grossen Schritts, um sie roh zu formen. Indessen dürfte der letztere Fortschritt sehr langer Zeit bedurft haben, wenn wir nach dem ungeheuren Zeitintervalle urthoilen, welcher vorgieng, ehe der Mensch der neueren Steinperiode begann, seine Werkzeuge zu schleifen und zu poliren. Beim Zerbrechen der Feuersteine werden, wie Sir J. Lubbock gleichfalls bemerkt, Funken hervorgesprungen sein und beim Schleifen derselben wird sich Wärme entwickelt haben: , hierdurch können die beiden gewöhnlichen Methoden, „Feuer zu erhalten, entstanden sein." Die Natur des Feuers wird in den vielen vulkanischen Gegenden, wo Lava gelegentlich durch die Wälder fliesst, bekannt geworden sein. Die anthropomorphen Affen bauen sich, wahrscheinlich durch Instinct geleitet, temporäre Hütten auf Bäumen. Wie aber viele Instincte in grossem Maasse vom Vorstande con-trolirt werden, so können auch die einfacheren, wie dieser, sich solche flache Nester zu bauen, leicht in einen willkürlichen, bewussten Act übergehen. Es ist bekannt, dass der Orang sich zur Nachtzeit mit den Blättern des Pandanus zudeckt, und Brehm führt an, dass einer seiner Paviane sich gegen die Sonnenwärme dadurch schützte, dass er eine Strohmatte über den Kopf warf. In diesen letzteren Gewohnheiten sehen wir wahrscheinlich die ersten Schritte zu einigen der einfacheren

" Primeval Mau. p. 145, 147.

82 Prebistoric Times. 1865, p. 473 flgde.

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Cap. 2.                                             Sprache.                                                  45

Künste, nämlich rohe Architectur und Kleidung, wie sie unter den frühen Stanimeltern des Menschen entstanden.

Sprache. — Diese Fähigkeit ist mit Recht als einer der Hauptunterschiede zwischen dem Menschen und den niederen Thieren betrachtet worden. Aber der Mensch ist, wie ein äusserst competenter Richter, Erzbischof Whately bemerkt, „nicht das einzige Thier, welches von „der Sprache Gebrauch machen kann, um das auszudrücken, was in „seinem Geiste vorgeht, und welches mehr oder weniger verstehen kann, „was in dieser Weise von Anderen ausgedrückt wird" 29. Der Cebus Azarae in Paraguay gibt, wenn er aufgeregt wird, wenigstens sechs verschiedene Laute von sich, welche bei anderen Affen ähnliche Erregungen veranlassen30. Die Bewegungen des Gesichts und die Gesten . von Affen können von uns verstanden werden und sie verstehen zum Theil uns, wie Rengger und Andere erklären. Es ist eine noch merkwürdigere Thatsachc, dass der Hund seit seiner Domestication in wenigstens vier oder fünf verschiedenen Tönen zu bellen gelernt hat 3'. Obgleich das Bellen ihm eine neue Kunst ist, so werden doch ohne Zweifel auch die wilden Arten, von denen der Hund abstammt, ihre Gefühle durch Schreie verschiedener Arten ausgedrückt haben. Bei dem domesticirten Hunde haben wir das Bellen des Eifers, wie auf der Jagd, das des Aergers, das heulende Bellen der Verzweiflung, z. B. wenn sie eingeschlossen sind, das der Freude, wenn sie z. B. mit ihrem Herrn spazieren gehen sollen, und das sehr bestimmte Bellen des Verlangens oder der Bitte, z. B. wenn sie wünschen, dass eine Thüre oder ein Fenster geöffnet werde.

Die artikulirte Sprache indessen ist dem Menschen eigentümlich; aber er benutzt gemeinsam mit den niederen Thieren unartikulirte Ausrufe in Verbindung mit Gesten und Bewegungen seiner Gesichtsmus-keln32, um seine Gedanken auszudrücken. Dies gilt besonders für die einfacheren und lebendigeren Gefühle, welche aber nur wenig mit unserer höheren Intelligenz in Zusammenhang stehen. Unsere Ausrufe des

29  Citirt in der Antliropological Review. 1864, p. 158.

30  Rengger a. a. 0. S. 45.

31  s. mein Buch „Ueber das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Doniestiation." Bd. 1, S. 32.

32  s. eine Erörterung dieses Gegenstandes in Mr. E. Tylor's sehr interessantem Buche: Researches into the Early History of Mankind. 1865. Capit. 2—4.

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46                                               Geisteskräfte.                                       I. Theil.

Schmerzes, der Furcht, der Ueberraschimg, des Aergers, in Verbindung mit entsprechenden Handlungen, und das Murmeln einer Mutter mit ihrem geliebten Kinde sind ausdrucksvoller als irgend welche Worte. Es ist nicht sowohl die blosse Fähigkeit der Artikulation, welche den Menschen von anderen Thieren unterscheidet, denn, wie Jedermann weiss, können Papageien sprechen; es ist vielmehr die grosse Fähigkeit, bestimmte Klänge mit bestimmten Ideen zu verbinden, und dies hängt offenbar von der Entwickelung der geistigen Fähigkeiten ab.

Wie Hörne Tooke, einer der Gründer der edlen Wissenschaft der Philologie bemerkt, ist die Sprache eine Kunst, wie das Bauen und Backen; es würde aber das Schreiben ein viel entsprechenderes Gleich-niss dargeboten haben. Sicher ist die Sprache kein Instinct, da eine jede Sprache gelernt werden muss. Sie weicht indessen von allen gewöhnlichen Künsten sehr weit ab, denn der Mensch hat eine instinctive Neigung zu sprechen, wie wir in dem Lallen junger Kinder sehen, während kein Kind eine instinctive Neigung zu bauen, backen oder schreiben hat. Ueberdies nimmt kein Philolog jetzt an, dass irgend eine Sprache mit Ueberlegung erfunden worden sei; eine jede hat sich langsam und un-bewusst durch viele Stufen entwickelt. Die Laute, welche Vögel von sich geben, bieten in mehreren Beziehungen die nächste Analogie mit der Sprache dar, denn alle Glieder derselben Art äussern dieselben in-stinctiven, zur Beziehung ihrer Erregung dienenden Laute; und alle Arten, welche das Singvermögen besitzen, äussern dieses Vermögen in-stinctiv. Aber der wirkliche Gesang und selbst die Lockrufe werden von den Eltern oder Pflegeltern gelernt. Diese Laute sind, wie Daines Barrington 33 bewiesen hat, „ebensowenig eingeboren als die Sprache .dem Menschen ist." Die ersten Versuche zum Singen „lassen sich „mit dem unvollkommenen Stammeln bei einem Kinde vergleichen, .welches zu lallen beginnt." Die jungen Männchen üben sich beständig oder, wie der Vogelsteller es ausdrückt, sie probiren zehn oder elf Monate lang. Ihre ersten Versuche lassen kaum eine Spur ihres späteren Gesangs erkennen; wenn sie aber älter werden, kann man ungefähr erkennen, wonach sie streben, und endlich sagt man, sie singen ihren Gesang rund ab. Nestlinge, welche den Gesang einer verschiedenen Art gelernt haben, wie z. B. in Tyrol aufgezogene Canarienvögel, lehren und überliefern ihre neue Sangesweise ihren Nachkommen. Die unbe-

33 Hon. Daines Barrington, in: Philos. Transact. 1773, p. 2G2. s. auch Dureau de la Malle in: Anual. lies scienc. natur. 3. Ser Zool. Tom. X, p. 119.

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Cap. 2.                                            Sprache.                                                    47

deutenden natürlichen Verschiedenheiten des Gesangs bei Individuen derselben Species, welche verschiedene Gegenden bewohnen, können ganz passend, wie Barringtox bemerkt, mit Provincialdialecten verglichen werden, und die Sangesweisen verwandter, wenn Tiuch verschiedener, Species lassen sich mit den Sprachen verschiedener Menschenrassen vergleichen. Ich habe die vorstehenden Einzelnheiten gegeben, um zu zeigen, dass eine instinctive Neigung, eine Kunst sich anzueignen, keine auf den Menschen beschränkte Eigenthümlichkeit ist.

Was den Ursprung der articulirten Sprache betrifft, so kann ich, nachdem ich einerseits die äusserst interessanten Werke von Mr. Hens-leigh Wedüwoou, F. Farrar und Professor Schleicher 34, und die berühmten Vorlesungen von Professor Max Müller auf der anderen Seite gelesen habe, nicht daran zweifeln, dass die Sprache ihren Ursprung der Nachahmung und den durch Zeichen und Gesten unterstützten Modifikationen verschiedener natürlicher Laute, der Stimmen anderer Thiere'und der eigenen instinetiven Ausrufe des Menschen verdankt. Wenn wir die geschlechtliche Zuchtwahl behandeln werden, wird sich zeigen, dass der Urmensch oder wenigstens irgend ein sehr früher Stammvater des Menschen wahrscheinlich seine Stimme, wie es heutigen Tages einer der gibbonartigen Affen thut, in ausgedehnter Weise dazu benutzte, echt musikalische Cadenzen hervorzubringen, d. h. also zum Singen. Nach einer sehr weit verbreiteten Analogie können wir schlies-sen, dass dieses Vermögen besonders während der Werbung der beiden Geschlechter ausgeübt sein wird, um verschiedene Gemüthsbewegungen auszudrücken, wie Liebe, Eifersucht, Triumph, und gleichfalls, um als Herausforderung für die Nebenbuhler zu dienen. Die Nachahmung musikalischer Ausrufe durch articulirte Laute mag Worten zum Ursprung gedient haben, welche verschiedene complese Erregungen ausdrückten. Da es auf die Frage der Nachahmung ziemliches Licht wirft, verdient die bedeutende Neigung bei unseren nächsten Verwandten, den Affen, bei Mikrocephalen, Idioten 35 und bei den barbarischen Menschenrassen,

31 On the origin of Language by H. We dg wo od. 1806. Chapters on Lan-guage by the Rev. F. Farrar, 1865. Diese "Werke sind äusserst interessant, s. auch „De la Physiou. et de la Parole" von A1 b. Lemoine. 1805. p. 190. Die Schrift des verstorbenen Aug. Schleicher ist auch von Dr. Bikkers in's Englische übersetzt worden unter dorn Titel: Darwinism tested by the science of language. 1869.

1S Vogt, Meni. sur le Microcephales. 1867, p. 169. In Bezug auf Wilde habe ich im, Journal of Kesearches' 1845, p. 206 einige Thatsachen mitgetheilt.

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48                                               Geisteskräfte.                                       I. Theil

Alles, was sie nur hören, nachzuahmen; wohl eine Beachtung. Da die Affen sicher vieles von dem verstehen, was von Menschen zu ihnen gesprochen wird, und da sie im Urzustände Warnungsrnfe bei Gefahren ihren Genossen :i6 zurufen, so erscheint es durchaus nicht unglaublich, dass irgend ein ungewöhnlich geschcidtes, aftenähnliches Thier darauf gefallen sein könne, das Heulen eines Kaubthiers nachzuahmen, um dadurch seinen Mitaft'en die Natur der zu erwartenden Gefahr anzudeuten ; und dies würde ein erster Schritt zur Bildung einer Sprache gewesen sein.

Als nun die Sprache immer weiter und weiter benutzt wurde, werden die Stimmorgane weiter gekräftigt und in Folge des Princips der vererbten Wirkung des Gebrauchs vervollkommnet worden sein und werden wieder auf das Vermögen der Kede zurückgewirkt haben. Aber noch viel bedeutungsvoller ist ohne Zweifel die Beziehung zwischen dem fortgesetzten Gebrauch der Sprache und der Entwickelung des Gehirns gewesen. Die geistigen Fähigkeiten müssen bei irgend einem frühen Vorfahren des Menschen viel höher entwickelt gewesen sein, als bei irgend einem jetzt lebenden Atfen, selbst bevor die unvollkommenste Form der Rede hat in Gebrauch kommen können. Wir können aber zuversichtlich glauben, dass der beständige Gebrauch und die weitere Entwickelung dieses Vermögens dadurch auf die Seele zurückgewirkt haben wird, dass sie dieselbe in den Stand setzte und ermuthigte, lauge Gedaukenzüge zu durchdenken. Ein langer und complexer Gedankenzug kann ebensowenig ohne die Hülfe von Worten durchgeführt werden, mögen sie gesprochen werden oder stumm bleiben, als eine genaue Berechnung ohne den Gebrauch von Zahlen oder der Algebra. Es scheint auch, als wenn selbst die gewöhnlichen Gedankenreihen irgend eine Form von Sprache fast erforderten, denn das taubstumme und blinde Mädchen Laura Bridgman gebrauchte ihre Finger, als man sie träumend beobachtete 37. Nichtsdestoweniger kann auch eine lange Keihenfolge von lebendigen und zusammenhängenden Ideen durch die Seele ziehen, ohne die Hülfe von irgend einer Form von Sprache, wie wir aus den langen Träumen von Hunden schliessen können. Wir haben auch gesehen, dass Wasserjagdhunde im Stande sind, bis zu einem gewissen Grade

36 s. verschiedene Beweise hierfür in den so oft citirten beiden Werken von Rengger und Brehm.

31 s. Bemerkungen hierüber von Dr. Maudsley, The Physiology and Pa-thology of Mind. 2. edit. 18Ö8, p. 199.

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Cap. 2.

Sprache.

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nachzudenken, und dies thnn sie offenbar ohne die Hülfe der Sprache. Der innige Zusammenhang zwischen dem Gehirn, wie es jetzt bei uns entwickelt ist, und der Fähigkeit der Sprache zeigt sich deutlich in jenen merkwürdigen Fällen von Gehirnerkrankung, bei denen die Sprache besonders afficirt ist, wie in dem Falle, wo das Vermögen, sich substantiver Wörter zu erinnern, verloren ist, während andere Wörter völlig correct gebraucht werden können 'ts. In der Annahme, dass die Wirkungen des fortgesetzten Gebrauchs der Stimme und der geistigen Organe vererbt seien, ist nicht mehr Unwahrscheinliches als in der gleichen Annahme für die Form der Handschrift, welche zum Theil von der Bildung der Haud, zum Theil von der Geistesbeschaffenheit abhängt; und die Form der Handschrift wird sicher vererbt -19.

Warum die jetzt für die Sprache benutzten Organe ursprünglich schon zu diesem Zweck vervollkommnet sein sollten, und zwar eher als irgend andere Organe, ist nicht schwer einzusehen. Ameisen haben ein ziemlich beträchtliches Vermögen, sich mit Hülfe ihrer Antennen unter einander verständlich zu machen, wie Huber gezeigt hat, welcher ein ganzes Capitel der Sprache der Ameisen widmet. Wir könnten auch unsere Finger als passende HülCsmittel benutzt haben, denn eine hierin geübte Person kann einem Tauben jedes Wort einer in einer öffentlichen Versammlung schnell gehaltenen Rede auf diese Weise mittheilen; der Verlust einer weiteren Benutzbarkeit unserer Hände bei einem solchen Gebrauche würde aber eine sehr bedenkliche Störung gewesen sein. Da alle höheren Säugethiere Stimmorgane besitzen, welche nach demselben allgemeinen Plan wie unsere gebaut sind und welche als Mittel der Mittheilung benutzt werden, so war es offenbar wahrscheinlich, dass, wenn das Vermögen der Mittheihmg weiter entwickelt werden sollte, diese selben Organe noch weiter entwickelt werden würden ; und dies ist durch Zuhülfenahme der benachbarten und gut an-gepassten Tlieile bewirkt worden, nämlich der Zunge und der Lippen 40. Die Thatsache, dass höhere Affen ihre Stimmorgane nicht zur Sprache benutzen, erklärt sich ohne Zweifel dadurch, dass ihre Intelligenz nicht hinreichend entwickelt worden ist. Der Umstand, dass sie dieselben

38  Viele merkwürdige Fälle der Art sind mitgetheilt worden, s. z. B. Inqui-ries concerning the Intellectual Powers von Abercrombie 183S, p. 150.

39  Ueber das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domesti-cation. Bd. 2, S. 7.

40  s. einige gute Bemerkungen hierüber in Maudsley, The Physiology and Pathology of Mlind. 18G8, p. 199.

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Geisteskräfte.

I. Theil.

Organe besitzen, welche bei lange fortgesetzter Uekmg zur Sprache hätten benutzt werden können, obschon sie sie nicht in dieser Weise benutzen, ist dem Falle parallel, dass viele Vögel, welche Singorgane besitzen, trotzdem doch niemals singen. So haben die Nachtigall und die Krähe ähnlich gebaute Stimmorgane; die Erstere benutzt dieselben zu mannichfaltigem Gesänge, die Letztere nur zum Krächzen41.

Die Bildung verschiedener Sprachen und verschiedener Species und die Beweise, dass beide durch einen stufenweise fortschreitenden Gang entwickelt worden sind, beruhen in merkwürdiger Weise auf gleichen Grundlagen42. Wir können aber den Ursprung vieler Wörter weiter zurück verfolgen, als den Ursprung der Arten, denn wir können beobachten, dass sie aus der Nachahmung verschiedener Laute entstanden sind, wie bei der Allitteration in der Dichtung. In verschiedenen Sprachen finden wir auffallende Homologien, welche Folgen der Gemeinsamkeit der Abstammung sind, und Analogien, welche Folgen eines ähnlichen Bildungsprocesses sind. Die Art und Weise, in welcher gewisse Buchstaben oder Laute abändern, wenn andere abändern, erinnert sehr an Correlation des Wachsthums; wir finden in beiden Fällen Verdoppelung von Theilen-, die Wirkung lange fortgesetzten Gebrauchs u. s. w. Das häufige Vorkommen von Kudimenten sowohl bei Sprachen als bei Species ist noch merkwürdiger. Der Buchstabe m in dem englischen Worte „am" bedeutete „ich", so dass in dem Ausdruck J am ein überflüssiges und nutzloses Kudimcnt beibehalten worden ist. Auch beim Schreiben von Wörtern werden oft Buchstaben als Kudimente älterer Formen der Aussprache beibehalten. Sprachen können wie organische Wesen in Gruppen classificirt werden, die anderen Gruppen untergeordnet sind, und man kann sie entweder natürlich nach ihrer Abstammung oder künstlich nach anderen Characteren classificiren. Herrschende Sprachen und Dialecte verbreiten sich weit und führen allmählich zur Ausrottung anderer Sprachen. Tst eine Sprache einmal ausgestorben,

41  Macgillivray, Hist. of British Birds. Vol. II. 1839, p. 29. Ein ausgezeichneter Beobachter, Mr. Blackwall, bemerkt, dass die Elster leichter einzelne Worte und ganze Sätze aussprechen lernt, als irgend ein anderer britischer Vogel; doch fügt er hinzu, dass er nach langer und aufmerksamer Beobachtung nie erfahren habe, dass der Vogel im Naturzustände eine ungewöhnliche Fähigkeit im Nachahmen gezeigt habe. Researches in Zoology. 1834, p. 158.

42  s. den sehr interessanten Parallelismus zwischen der Entwickelnng der Sprachen und Arten, den Sir Ch. Lyell gibt: Pas Alter des Menschengeschlechts, üebers. Cap. 23, S. 395.

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Cap. 2.

Sprache.

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so erscheint sie, wie Sir C. Lyell bemerkt, gleich einer Species niemals wieder. Ein und dieselbe Sprache hat nie zwei Geburtsstätten. Verschiedene Sprachen können sich kreuzen oder mit einander verschmelzen +3. Wir sehen in jeder Sprache Variabilität, und neue Wörter tauchen beständig auf; da es aber für das Erinnerungsvermögen eine Grenze gibt, werden einzelne Wörter, wie ganze Sprachen allmählich ausgestorben. Max Müller 44 hat sehr richtig bemerkt: „in jeder Sprache findet beständig ein Kampf um's Dasein zwischen den Wörtern und gramma-„tischen Formen statt; die besseren, kürzeren, leichteren Formen ergangen beständig die Oberhand, und sie verdanken ihren Erfolg ihrer „eigenen inhärenten Kraft." Diesen wichtigeren Ursachen des Ueber-lebens gewisser Wörter lässt sich, wie ich glaube, auch noch die blosse Neuheit hinzufügen, denn in dem Geiste aller Menschen findet sich eine starke Vorliebe für geringe Veränderungen in allen Dingen. Das Ueber-leben oder die Beibehaltung gewisser beliebter Wörter in dem Kampfe um's Dasein ist natürliche Zuchtwahl.

Die vollkommen regelmässige und wunderbar complexe Construction der Sprachen vieler barbarischer Nationen ist oft als ein Bewreis entweder des göttlichen Ursprungs dieser Sprachen, oder des hohen Cul-turzustaudes und der früheren Civilisation ihrer Begründer vorgebracht worden. So schreibt Friedrich von Schlegel: „wir beobachten häufig „bei den Sprachen, welche auf der niedrigsten Stufe intellectueller Cul-„tur zu stellen scheinen, einen sehr hohen und ausgebildeten Grad in „der Kunst ihrer grammatischen Structur. Dies ist besonders der Fall „bei dem Baskischen und Lappländischen und bei vielen der amerikanischen Sprachen" +>. Es ist aber zuverlässig ein Irrtimm, von irgend einer Sprache als einer Kunst zu sprechen, in dem Sinne, als sei sie mit Mühe und Methode ausgearbeitet worden. Die Philologen geben jetzt zu, dass Conjugationen, Declinationen u. s. f. ursprünglich als verschiedene Worte existirten, die später mit einander vereinigt wurden; und da solche Worte die augenfälligstell Beziehungen zwischen Objecten und Personen ausdrückten, so ist nicht zu verwundern, dass sie von Menschen der meisten Kassen während ihres frühesten Alters benutzt worden sind. Was die Vervollkommnung betrifft, so wird die folgende

"" s. Bemerkungen hierüber in einem interessanten Aufsatz, betitelt: Philo-logy and Darwinism in: „Nature", March 24»', 1870, p. 52S. 41 „Nature", Jan. 6'h, 1870, p. 257. « Citirt von C. S. Wake, Chapters cm Man 18G8, p, 101.

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Geisteskräfte.

I. Tbeil.

Erläuterung am besten zeigen, wie leicht man irren kann: Ein Crinoide besteht zuweilen aus nicht weniger als 150,000 Schalenstückchen46, welche alle vollständig symmetrisch in strahlenförmigen Linien angeordnet sind; aber ein Naturforscher hält ein Thier dieser Art nicht für vollkommener als ein seitlich symmetrisches mit vergleichsweise wenigen Theilen, von denen keine einander gleichen mit Ausnahme der auf den entgegengesetzten Seiten des Körpers befindlichen. Er betrachtet mit Eecht die Differeiizirung und Specialisirung der Organe als den Prüfstein der Vervollkommnung. So sollte man, was die Sprachen betrifft, die am meisten symmetrischen und complicirtesten nicht über die nn-regelmässig abgekürzten und verbastardirten Sprachen stellen, welche ausdrucksvolle Worte und zweckmässige Formen der Construction von verschiedenen erobernden oder eroberten oder einwandernden Kassen sich angeeignet haben.

Aus diesen wenigen und unvollständigen Bemerkungen schliesse ich, dass die äusserst complicirte und regelmässige Construction vieler barbarischer Sprachen kein Beweis dafür ist, dass sie iliren Ursprung einem besonderen Schöpfnngsacte47 verdanken. Auch bietet, wie wir gesellen haben, die Fähigkeit articulirter Sprache an sich kein unüber-steigliches Hinderniss für den Glauben dar, dass der Mensch sich aus irgendwelcher niederen Form entwickelt hat.

Selbstbewusstsein, Individualität, Abstraction, allgemeine Ideen u. s. w. —Der Versuch wäre nutzlos, diese höheren Fähigkeiten selbst hier zu erörtern, welche nach der Ansicht mehrerer neuerer Schriftsteller den Unterschied zwischen den Menschen und den Thiereu einzig und allein ausmachen; denn kaum zwei Schriftsteller stimmen in ihren Definitionen nberein. Derartige Fähigkeiten haben sich beim Menschen nicht eher ausbilden können, als bis seine geistigen Kräfte bis zu einem hohen Punkte entwickelt waren, und dies schliesst wieder den Gebrauch einer vollkommenen Sprache ein. Niemand nimmt an, dass irgend eines der niederen Thiere darüber Betrachtungen anstellt, woher es selbst komme und wohin es gehe, was Tod sei und was Leben u. s. w. Können wir aber sicher sein, dass ein alter Hund mit einem ausgezeichneten Gedächtniss und etwas Einbildungskraft, wie

4li Buckland, Bridgewater Ti-eatise, p. 411.

47 Einige treffende Bemerkungen über die Vereinfachung der Sprachen s. bei Sir J. Lubbock, Origin of Civilisation. 1870, p. 278.

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Cap. 2.                     Selbstbewusstsein. — Schönheitsgefühl.                            53

sie sich durch seine Träume zeigt, niemals über die Freuden Betrachtungen anstellt, welche er früher auf der Jagd hatte? Dies wäre aber eine Form des Selbstbewußtseins. Wie aber andererseits Büchner 48 bemerkt: M'ie wenig kann das abgearbeitete Weib eines verkommenen australischen Wilden, welches kaum irgendwelche abstracte Worte gebraucht und nicht über vier zählen kann, wie wenig kann ein solches Weib sein Selbstbewusstsein bethätigen oder über die Natur ihres Daseins reflectiren ?

Dass Thiere ihre geistige Individualität beibehalten, ist durchaus nicht fraglich. Als meine Stimme eine Keihe alter Associationen in der Seele des obengenannten Hundes erweckte, muss er seine geistige Individualität behalten haben, obschon jedes Atom seines Gehirns wahrscheinlich mehr als einmal während des Verlaufs von fünf Jahren gewechselt hatte. Dieser Hund hätte das vor Kurzem in der Absicht, alle Evolutionisten niederzuschlagen, angezogene Argument vorbringen und sagen können: „ich verbleibe inmitten aller geistigen Stimmungen „und aller materiellen Veränderungen derselbe .... Die Lehre, dass „Atome die empfangenen Eindrücke als Erbschaften den anderen an „ihre Stelle rückenden Atomen überlassen, widerspricht der Aeusserung „des Bewusstseins und ist daher falsch; aber dies ist auch die Lehre, „welche die Theorie der Entwicklung notliwendig macht, und demzufolge ist diese Hypothese eine falsche" 49.

Gefühl für Schönheit. — Dieses Gefühl ist für ein dem Menschen eigenthümliches erklärt worden. Wenn wir aber sehen, wie männliche Vögel mit Vorbedacht ihr Gefieder und dessen prächtige Farben vor den Weibchen entfalten, während andere nicht in derselben Weise geschmückte Vögel keine solche Vorstellung geben können, so lässt sich unmöglich zweifeln, dass die Weibchen die Schönheit ihrer männlichen Genossen bewundern. Da sich Frauen überall mit solchen Federn schmücken, lässt sich die Schönheit solcher Ornamente nicht bestreiten. Dadurch, dass die Kragenvögel (Chiamydera) ihre Spielplätze geschmackvoll mit heiter gefärbten Gegenständen schmücken, wie es manche Co-libris mit ihren Nestern thun, liefern sie einen weiteren Beweis dafür, dass sie ein Gefühl für Schönheit besitzen. So werden auch, was den Gesang der Vögel betrifft, die reizenden Klänge, welche die Männchen

48 Vorlesungen über die Darwinsche Theorie. S. 190. ,a The Rev. Dr. J. M'Cann, Anti-Darwinism. 1869, p. 13.

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Geisteskräfte.

I. Theil.

während der Zeit der Liebe von sich geben, gewiss von den Weibchen bewundert, für welche Thatsache später noch Beweise werden beigebracht werden. Wären weibliche Vögel nicht im Stande, die schönen Farben, den Schmuck, die Stimmen ihrer männlichen Genossen zu würdigen, so würde alle die Mühe und Sorgfalt, welche diese darauf verwenden, ihre Reize vor den Weibchen zu entfalten, weggeworfen sein, und dies lässt sich unmöglich annehmen. Warum gewisse glänzende Farben und gewisse Töne, sobald sie in Harmonie stehen, Vergnügen erregen, lässt sich, wie ich vermnthe, ebensowenig erklären, als warum gewisse Gerüche und Gcschmäcke angenehm sind; aber zuverlässig werden dieselben Farben und dieselben Töne gleichmässig von uns und von vielen niederen Thieren bewundert.

Der Geschmack für das Schöne, wenigstens was die weibliche Schönheit betrifft, ist nicht in einer specifischen Form dem menschlichen Geiste eingeprägt; denn in den verschiedenen Menschenrassen weicht er vielfach ab, wie später gezeigt werden wird, und ist selbst -bei den verschiedenen Nationen einer und derselben Rasse nicht derselbe. Nach den widerlichen Ornamenten und der gleichmässig widerlichen Musik zu urtheilen, welche die meisten Wilden bewundern, licsse sich behaupten , dass. ihr ästhetisches Vermögen nicht so hoch entwickelt sei als bei gewissen Thieren, z. B. bei Vögeln. Offenbar wird kein Thier fähig sein, solche Scenen zu bewundern, wie den Himmel zur Nachtzeit, eine schöne Landschaft, oder verfeinerte Musik; aber an solchen hohen Ge-schmacksobjecten, welche ihrer Natur nach von der Cultur und von complexen Associationen abhängen, erfreuen sich Barbaren und unerzogene Personen gleichfalls nicht.

Viele Fähigkeiten, welche dem Menschen zu einem allmählichen Fortschritte von unschätzbarem Dienste gewesen sind, wie das Vermögen der Einbildung, der Verwunderung, der Neugierde, ein unbestimmtes Gefühl für Schönheit, eine Neigung zum Nachahmen und die Vorliebe für Aufregung oder Neuheit, mussten natürlich zu den wunderlichsten Aenderungen der Gewohnheiten und Moden fuhren. Ich führe diesen Punkt deshalb an, weil ein neuerer Schriftsteller50 wunderbar genug die Laune »als eine der merkwürdigsten und typischsten Verschiedenheiten zwischen Wilden und den Thieren" bezeichnet hat. Wir können aber nicht blos wahrnehmen, woher es kommt, dass der Mensch launisch

,The Spectator', Dec. 4"> 1869, p. 1430.

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Cäp. 2.

Gottesglaube. — Religion.

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ist, sondern wir sehen auch, dass die niederen Thiere, wie sich später noch zeigen wird, in ihren Zuneigungen, Widerwillen und ihrem Gefühl für Schönheit ebenfalls launisch sind. Wir haben auch Grund zu ver-muthen, dass sie Neuheit ihrer selbst wegen lieben.

Gottesglaube, Religion. — Wir haben keine Beweise dafür, dass dem Menschen von seinem Ursprünge an der veredelnde Glaube an die Existenz eines allmächtigen Gottes eigen war. Im Gegentheil sind reichliche Zeugnisse, nicht von flüchtigen Reisenden, sondern von Männern, welche lange unter Wilden gelebt haben, beigebracht worden, dass zahlreiche Rassen existirt haben und noch existiren, welche keine Idee eines Gottes oder mehrerer Götter und keine Worte in ihren Sprachen haben, eine solche Idee auszudrücken 31. Natürlich ist diese Frage von der anderen höheren völlig verschieden, ob ein Schöpfer und Regierer des Weltalls existirt, und diese ist von den grössten Geistern, welche je gelebt haben, bejahend beantwortet worden.

Verstellen wir indessen unter dem Ausdruck „Religion" den Glauben an unsichtbare oder geistige Kräfte, so stellt sich der Fall völlig verschieden; denn dieser Glaube scheint bei den weniger civilisirten Eassen fast allgemein zu sein. Auch ist es nicht schwer zu verstehen, wie er entstanden ist. Sobald die bedeutungsvollen Fähigkeiten der Einbildung, Verwunderung und Neugierde, in Verbindung mit einem Vermögen nachzudenken, theilweise entwickelt waren, wird der Mensch ganz von selbst gesucht haben, das was um ihn her vorgeht zu verstehen, und wird auch über seine eigene Existenz" dunkel zu speculiren begonnen haben. Mr. M'Lenxan 52 hat bemerkt: „irgend eine Erklärung der Lebenserscheinungen muss der Mensch sich ausdenken und „nach ihrer Allgemeinheit zu schliessen scheint die einfachste und dem „Menschen sich zuerst darbietende Hypothese die gewesen zu sein, dass „die Erscheinungen der Natur der Anwesenheit solcher Geister in Thie-„ren, Pflanzen, Gegenständen und auch in den Naturkräften zuzuschreiben seien, welche jene in derselben Weise zur Thätigkeit veranlassen, „wie die geistigen Thätigkeiten, von denen der Mensch sich bewusst

51  s. einen ausgezeichneten Aufsatz hierüber von F. Farrar in: Anthropo-logical Review. Aug. 1864, p. CCXVII. Wegen weiterer Thatsachen s. Sir J. Lubbock, Prehistoric Times. 2. edit. 1869, p. 564 und besonders die Capitel über Religion in seinem Origin of Civilisation. 1870.

52  The Worship of Animals and Plants. in: Fortnightly Review. Oct. 1, 1869, p. 422.

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Geisteskräfte.

I. Tbeil.

„ist, ähnliche selbst zu besitzen." Wie Mr. Tylor klar entwickelt hat, ist es wahrscheinlich, dass Träume der Annahme solcher Geister zuerst Entstehung gegeben haben, denn Wilde unterscheiden nicht leicht zwischen subjectiven und objectiven Eindrücken. Wenn ein Wilder träumt, so glaubt er, dass die Bilder, welche vor ihm erscheinen, von Weitem hergekommen sind und über ihm stehen; oder „die Seele des Träumers „geht auf Reisen ans und kommt heim mit der Erinnerung Dessen, was „sie gesehen hat"53. So lauge aber die obengenannten Fähigkeiten der Einbildung, Neugierde, des Verstandes u. s. w. nicht ziemlich gut in dem Geiste des Menschen entwickelt waren, werden ihn seine Träume nicht zu dem Glauben an Geister veranlasst haben, ebensowenig wie einen Hund.

Die Neigung bei Wilden, sicli einzubilden, dass natürliche Dinge und Kräfte durch geistige oder lebende Wesen belebt sind, wird vielleicht durch eine kleine Thatsache, welche ich früher einmal beobachtet habe, erläutert. Mein Hund, ein völlig erwachsenes und sehr aufmerksames Thier, lag an einem heissen und stillen Tage auf dem Rasen; aber nicht weit von ihm bewegte ein kleiner Luftzug gelegentlich einen offenen Sonnenschirm, welchen der Hund völlig unbeachtet gelassen haben würde, wenn irgend Jemand dabei gestanden hätte. So aber knurrte und bellte der Hund wüthend jedesmal, wenn sich der Sonnenschirm leicht bewegte. Ich meine, er muss in einer schnellen und un-bewussten Weise bei sich überlegt haben, dass Bewegung ohne irgend-

M Tylor, Early History of Mankind 18G5, p. 6. s. auch drei bemerkens-"werthe Capitel über die Entwickelung der Religion in Lubbock's Origin of Ci-vilisation. 1870. In gleicherweise erklärt Herbert Spencer in seinem geistvollen Aufsatz in der Fortnightly Review (May 1, 1870, p. 53f>), die frühesten Formen religiösen Glaubens in der ganzen Welt dadurch, dass der Mensch durch Träume, Zwielichtbilder und andere Veranlassungen dazu gebracht wurde, sich selbst als ein doppeltes Wesen zu betrachten, ein körperliches und geistiges. Da von dem geistigen Wesen angenommen wird, es lebe nach dem Tode fort und sei mächtig, so wird es durch verschiedene Geschenke und Ceremonien günstig zu stimmen versucht und um seinen Beistand angefleht. Er zeigt dann weiter, dass die nach irgend einem Thiere oder Gegenstande den frühesten Vorfahren oder Gründer eines Stammes gegebenen Namen oder Spitznamen nach Verlauf langer Zeiträume für Bezeichnungen des wirklichen Urerzeugers des Stammes angesehen wurden; und von einem derartigen Thiere und Object wird dann geglaubt, dass es noch immer als ein Geist existire, es wird beilig gehalten und als ein Gott verehrt. Nichtsdestoweniger kann ich mich der Vermutlnmg nicht erwehren, dass es einen noch früheren und roheren Zustand gab, wo Alles, was nur Kraft oder Bewegung äusserte, als mit einer Art von Leben und geistigen, linsern eigenen analogen, Fähigkeiten begabt angesehen wurde.

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Cap. 2.                                            Religion.                                                   57

welche offenbare Ursache die Gegenwart irgend einer fremdartigen lebendigen Kraft andeutete; und kein Fremder hatte ein Kecht, sich auf seinem Territorium zu befinden.

Der Glaube an spirituelle Kräfte wird leicht in den Glauben an die Existenz eines Gottes oder mehrerer Götter übergehen; denn Wilde werden naturgemäss Geistern dieselben Leidenschaften, dieselbe Lust zur Bache oder die einfachste Form der Gerechtigkeit und dieselben Zuneigungen zuschreiben, welche sie selbst in sich erfuhren. Die Feuerländer scheinen in dieser Beziehung sich in einem mittleren Zustande zu befinden; denn als ber Arzt an Bord des Beagle einige junge Enten zum Aufbewahren als zoologische Exemplare schoss, erklärte York Min-ster in der feierlichsten Weise: „Oh! Mr. Bynoe, viel Kegen, viel ,Schnee, viel Blasen", und dies war offenbar als zu befürchtende Strafe für das Verwüsten menschlicher Nahrung verstanden. So erzählt er ferner, als sein Bruder einen wilden Mann getödtet habe, hätten lange Zeit Stürme geherrscht und es sei .viel Kegen und Schnee gefallen. Und doch konnten wir nie finden, dass die Feuerländer au das glaubten, was wir einen Gott nennen würden, oder dass sie irgendwelche religiöse Gebräuche ausübten. Jemmy Button behauptete mit gerechtfertigtem Stolze fest und sicher, dass in seinem Lande kein Teufel sei, und diese letztere Behauptung ist um so merkwürdiger, als bei den Wilden der Glaube an böse Geister bei weitem gewöhnlicher als der Glaube an gute herrscht.

Das Gefühl religiöser Ergebung ist ein iu hohem Grade compli-cirtes, indem es aus Liebe, vollständiger Unterordnung unter ein erhabenes und mysteriöses höheres Etwas, einem starken Gefühle der Abhängigkeit 54, der Furcht, Verehrung, Dankbarkeit, Hoffnung in Bezug auf die Zukunft und vielleicht noch anderen Elementen besteht. Kein Wesen hätte eine so complicirte Geraüthscrrcgung an sich erfahren können, bis nicht seine iutellectuellen und moralischen Fähigkeiten zum mindesten auf einen massig hohen Standpunkt entwickelt wären. Nichtsdestoweniger sehen wir eine Art Annäherung an diesen Geisteszustand in der innigen Liebe eines Hundes zu seinem Herrn, welche mit völliger Unterordnung, etwas Furcht und vielleicht noch anderen Gefühlen vergesellschaftet ist. Das Benehmen eines Hundes, wenn er nach einer Abwesenheit zu seinem Herrn zurückkehrt, und, wie ich hinzufügen kann, eines Allen bei der Rückkehr zu seinem ge-

51 s. auch einen guten Aufsatz über die psychischen Elemente der Religion von L. Owen Pike in: Anthropolog. Review, Apr. 1870, p. LXIII.

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Geisteskräfte.

I. Tlieil.

liebten Wärter, ist sehr weit von Dem verschieden, was diese Thiere gegen Ihresgleichen äussern. Im letzteren Falle scheinen die Freuden-bezeigungcn etwas geringer ,zu sein, und das Gefühl der Gleichheit zeigt sich in jeder Handlung. Professor Braubach55 geht so weit, zu behaupten, dass ein Hund zu seinem Herrn wie zu einem Gott aufblickt. Dieselben hohen geistigen Fähigkeiten, welche den Menschen zuerst dazu führten, an unsichtbare geistige Kräfte, dann an Fetischismus, Polytheismus und endlich Monotheismus zu glauben, werden ihn, so lange seine Verstandeskräfte nur wenig entwickelt waren, unfehlbar zu verschiedenen fremdartigen Gebräuchen und Formen des Aberglaubens geführt haben. Schon der Gedanke an viele Arten dieser ist schaudervoll, so das Opfern menschlicher Wesen einem blutliebenden Gotte, das Ueberführen unschuldiger Personen durch das Gottesgericht mit Gift oder Feuer, Zauberei u. s. w., — und doch verlohnt es sich wohl, gelegentlich über diese Formen von Aberglauben nachzudenken; denn sie zeigen uns, in welch unendlicher Weise wir der Vervollkommnung unseres Verstandes, der Wissenschaft und unseren aufgestapelten Kenntnissen zu Danke verpflichtet sind. Wie Sir J. Iubbock 56 sehr gut bemerkt hat, ist es nicht zu viel, wenn wir sagen, dass die schauerliche Furcht vor unbekannten Uebeln wie eine dichte Wolke über dem Leben der Wilden hängt und jedes Vergnügen verbittert. Diese traurigen indirecten Folgezustände unserer höchsten Fälligkeiten können mit den zufälligen und gelegentlichen Misgriffen der Instincte niederer Thiere verglichen werden.

55 Religion, Moral u. s. w. der Darwinschen Art-Lelire. 1860. S. 53.

sfi Prehistoric Times. 2. edit. p. 571. In demselben Werke findet sich (S. 553) eine vorzügliche Schilderimg der vielen fremdartigen und caprieiösen.Gebräuche der Wilden.

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Drittes Oapitel.

Vergleichnng der Geisteskräfte des Menschen mit denen der niederen Thiere (Fortsetzung).

Das moralische Gefühl. — Fundamentalsatz. — Die Eigenschaften socialer Thiere — Ursprung der Fähigkeit zum Geselligleben. — Kampf zwischen entgegengesetzten Instincten. — Der Mensch ein sociales Thier. — Die ausdauernden socialen Instincte überwinden andere weniger beständige Instiucte. — Sociale Tugenden von Wilden allein geachtet. — Tugenden, die das Individuum betreffen, erst auf späterer Entwickelungsstufe erlangt. — Bedeutung der Urtheile über das Benehmen von Mitgliedern derselben Gesellschaft. — Ueberliefe-rung moralischer Neigungen. — Zusammenfassung.

Ich unterschreibe vollständig die Meinung derjenigen Schriftsteller ', welche behaupten, dass von allen Unterschieden zwischen dem Menschen und den niederen Tliieren das moralische Gefühl oder das Gewissen weitaus der bedeutungsvollste ist. Dieses Gefühl, wie Mackintosh 2 bemerkt, ,beherrscht rechtmässiger Weise jedes andere Princip menschlicher Thätigkeit." Diese Gewalt wird in jenem kurzen, aber gebieterischen und so äusserst bezeichnenden Worte „soll" zusammengefasst. Es ist das edelste aller Attribute des Menschen, welches ihn, ohne dass er sich einen Augenblick zu besinnen braucht, dazu führt, sein Leben für das eines Mitgeschöpfes zu wagen, oder ihn nach sorgfältiger Ue-berlegung einfach durch das tiefe Gefühl des Eechts oder der Pflicht dazu treibt, sein Leben irgend einer grossen Sache zu opfern. Immanuel Kant ruft aus: „Pflicht, wunderbarer Gedanke, der du weder durch ,sanfte Ueberredung, Schmeichelei, noch durch irgendwelche Drohung, ,sondern nur dadurch wirkst, dass du dein blosses Gesetz der Seele vorhältst und dir damit stets Ehrerbietung, wenn auch nicht immer Gehorsam, erzwingst, vor dem alle Bestrebungen stumm sind, so verborgen sie sich auch auflehnen: woher stammst du?" 3.

1 s. z. B. über diesen Gegenstand: Quatrefages, Unite de l'espece hu-maine 1861, p. 21.

" Dissertation on ethical philosophy 1837, p. 231. 3 Metaphysik der Sitten.

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60                                               Geisteskräfte.                                       I. Theil.

Es ist diese Frage von vielen Schriftstellern ausgezeichneter Befähigung 4 erörtert worden und meine einzige Entschuldigung, sie hier nochmals zu berühren, ist sowohl die Unmöglichkeit, sie ganz zu übergehen, als auch der Umstand, dass, so weit ich es weiss, sich ihr Niemand ausschliesslich von naturliistorischer Seite her genähert hat. Es besitzt diese Untersuchung auch einiges selbständige Interesse, nämlich als ein Versuch zu sehen, wie weit das Studium der niederen Thiere Licht auf eine der höchsten psychischen Fähigkeiten des Menschen werfen kann.

Der folgende Satz scheint mir in hohem Grade wahrscheinlich zu sein, nämlich dass jedes Thier, welches es auch sein mag, wenn es nur mit scharf ausgesprochenen socialen Instincten versehen ist5, unvermeidlich ein moralisches Gefühl oder Gewissen erlangen würde, wenn sich seine intellectuellen Kräfte so weit oder nahezu so weit als beim Menschen entwickelt hätten. Denn erstens führen die socialen In-stinete ein Thier dazu, Vergnügen an der Gesellschaft seiner Genossen zu haben, einen gewissen Grad von Sympathie mit ihnen zu fühlen und verschiedene Dienste für sie zu verrichten. Diese Dienste können von einer sehr bestimmten und oftenbar instinetiven Natur sein; sie können aber auch ein blosser Wunsch oder, wie es bei den meisten der höheren

4 Mr. Bain gibt (Mental and Moral Science, 1868, p. 543—725) eine Liste von sechsundzwauzig englischen Autoren, welche über diesen Gegenstand geschrieben haben und deren Namen hier allgemein bekannt sind; diesen lassen sich die Namen von Bain selbst, von Lecky, Shadworth Hodgson, Sir J. Lnbbock und noch anderer beifügen.

' Sir B. Brodie bemerkt, dass der Mensch ein sociales Thier sei (Psycho-logical Enquiries, 1854, p. 192) und stellt dann die bezeichnende Frage auf: „sollte dies nicht die streitige Frage über die Existenz eines moralischen Gefühls beilegen?" Aehnliche Ideen sind wahrscheinlich Vielen schou gekommen, wie schon vor langer Zeit dem Marcus Aurelius. J. S. Mill spricht in seinem berühmten Buche über „Utilitarianism" (18G4, p. 40) von den socialen Gefühlen als einer „kraftvollen natürlichen Empfindung" und als „dem natürlichen Grunde des Gefühls für utilitäre Moralität." Auf der vorhergehenden Seite sagt er aber: „wenn nun, wie das meine eigene lTeberzeugnng ist. die moralischen Gefühle nicht angeboren, sondern erlangt sind, so sind sie doch ans diesem Grunde nicht weniger natürlich." Nur mit Zögern wage ich von einem so tiefen Denker abzuweichen; doch lässt sich kaum bestreiten, dass die socialen Gefühle bei den niederen Thieren instinetiv oder angeboren sind; und warum sollten sie dann beim Menschen nicht ebenso sein? Mr. Bain (s. z. B. Tbc Emotions and the Will. 1865, p. 481) und andere glauben, dass das moralische Gefühl von jedem Individuum während seiner Lebenszeit erlangt werde. Nach der allgemeinen Ent-wickelungstlieorie ist dies mindestens äusserst unwahrscheinlich.

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Cap. 3.                                       Sociale Thiere.                                               61

socialen Thieren der Fall ist, eine Bereitwilligkeit sein, ihren Genossen in gewisser allgemeiner Weise zu helfen. Diese Gefühle und Dieuste erstrecken sich aber durchaus nicht auf alle Individuen derselben Spe-cies, sondern nur auf die derselben Gemeinschaft. Zweitens: sobald die geistigen Fähigkeiten sich hoch entwickelt haben, durchziehen Bilder aller vergangenen Handlungen und Beweggründe unaufhörlich das Gehirn eines jeden Individuums, und jenes Gefühl des Unbefriedigtseins, welches, wie wir hernach sehen werden, unabänderlich die Folge irgend eines unbefriedigten Instincts ist, wird entstehen, so oft bemerkt wird, dass der andauernde und stets gegenwärtige sociale Instinct irgend einem anderen zu der Zeit stärkeren, aber weder seiner Natur nach dauernden, noch einen sehr lebhaften Eindruck zurücklassenden Instincte nachgegeben hat. Offenbar sind viele instinetive Begierden, wie die des Hungers, ihrer Natur nach nur von kurzer Dauer und werden, wenn sie befriedigt sind, nicht leicht und nicht lebendig zurückgerufen. Drittens: nachdem die Fähigkeit der Sprache erlangt worden ist und die AVünsche der Mitglieder einer und derselben Gemeinschaft deutlich ausgedrückt werden können, wirft die allgemeine Meinung darüber, wie ein jedes Mitglied zum allgemeinen Besten wirken soll, naturgemäss in einer grossen Ausdehnung das Bestimmende bei den Handlungen werden. Die socialen Instincte werden aber noch immer den Impuls zum Handeln für das Beste der Gemeinschaft abgeben, während die öffentliche Meinung, deren Kraft, wie wir sofort sehen werden, auf instinetiver Sympathie beruht, jenen Impuls kräftigt, leitet und zuweilen selbst ablenkt. Endlich wird auch die Gewohnheit beim Individuum eine sehr wichtige Rolle in Bezug auf die Bestimmung der Handlungsweise jedes Mitglieds spielen; denn die socialen Instincte und Impulse werden, wie alle anderen Instincte, durch die Gewohnheit bedeutend gekräftigt werden, wie es auch mit dem Gehorsam gegen die Wünsche und das Urtheil der Gesellschaft geschieht. Diese verschiedenen subordinirten Sätze müssen mm erörtert werden und einige von ihnen in ziemlicher Ausführlichkeit.

Es dürfte zweckmässig sein, zunächst vorauszuschicken, dass ich nicht behaupten will, dass jedes streng sociale Thier, wenn nur seine intellectuellen Fähigkeiten zu gleicher Thätigkeit und gleicher Höhe wie beim Menschen entwickelt wären, genau dasselbe moralische Gefühl wie der Mensch erhalten würde. In derselben Weise wie verschiedene Thiere ein gewisses Gefühl von Schönheit haben, trotzdem sie sehr ver-

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Geisteskräfte.

I. Theil.

scliiedene Gegenstände bewundern, können sie auch ein Gefühl von Recht und Unrecht haben, trotzdem sie durch dasselbe veranlasst werden, sehr verschiedene Arten von Benehmen zu zeigen. Um einen extremen Fall anzuführen: wäre z. B. der Mensch unter genau denselben Zuständen erzogen wie die Stockbiene, so dürfte sich kaum zweifeln lassen, dass unsere unverheirateten Weibchen es ebenso wie die Arbeiterbienen für eine heilige Pflicht halten würden, ihre Brüder zu tödten, und die Mütter würden suchen, ihre fruchtbaren Töchter zu vertilgen, und Niemand würde daran denken, dies zu verhindern. Nichtsdestoweniger würde in unserem angenommenen Falle die Biene oder irgend ein anderes sociales Thier, wie es mir scheint, doch irgend ein Gefühl von Kecht und Unrecht oder ein Gewissen erhalten. Denn jedes Individuum würde ein innerliches Gefühl von dem Besitze gewisser weniger starker und andauernder Instincte haben, so dass oft ein Kampf entstehen würde, welchem Impuls zu folgen wäre; und Befriedigung und Unbefriedigtsein würden gefühlt werden, da vergangene Eindrücke während ihres beständigen Zuges durch die Seele mit einander verglichen werden würden. In diesem Falle würde ein innerer Warner dem Thiere sagen, dass es besser gewesen wäre, eher dem einen Impuls als dem anderen zu folgen. Dem einen Zug hätte gefolgt werden „sollen', der eine würde „recht", der andere „unrecht" gewesen sein. Aber auf diese Ausdrücke werde ich sogleich zurückzukommen haben.

Neigung zur Geselligkeit. — Thiere vieler Arten sind gesellig; wir finden selbst, dass verschiedene Species zusammenleben, so einige amerikanische Affen und die sich vereinigenden Schaaren von Eaben, Dohlen und Staaren. Der Mensch zeigt dasselbe Gefühl in der starken Liebe zum Hunde, welche der Hund mit Interesse erwidert. Jedermann muss beobachtet haben, wie unglücklich sich Pferde, Hunde, Schafe u. s. w. fühlen, wenn sie von ihren Genossen getrennt sind, und welche Freude sie, wenigstens bei den ersteren Arten, bei ihrer Wiedervereinigung zeigen. Es ist interessant, über die Gefühle eines Hundes zu speculiren, welcher stundenlang in einem Zimmer mit seinem Herrn oder irgend Einem der Familie ruhig daliegen wird, ohne dass von ihm die geringste Notiz genommen wird; sobald er aber eine kurze Zeit allein gelassen wird, bellt oder heult er schrecklich. Wir wollen unsere Aufmerksamkeit auf die höheren socialen Thiere beschränken mit Ausschluss der Insecten, obgleich diese einander in vielen wichtigen

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Cap. 3.

Sociabilität.

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Beziehungen helfen. Der gewöhnlichste Dienst, welchen sich höhere Thiere gegenseitig erweisen, ist, dass sie durch Hülfe der vereinigten Sinuc Aller einander vor Gefahr warnen. Jeder Jäger weiss, wie Dr. Jägeh bemerkt6, wie schwer es ist, Thieren in Heerden oder Truppen nahe zu kommen. Wilde Pferde und Kinder geben, wie ich glaube, kein Warnungssignal, aber die Haltung eines Jeden, welches zuerst einen Feind wittert, warnt die Uebrigen. Kaninchen stampfen laut mit den Hinterfüssen auf den Boden als Signal; Schafe und Gemsen thun dasselbe, aber mit den Vorderfüssen, und stossen auch einen pfeifenden Ton aus. Viele Vögel und manche Säugethiere stellen Wachen aus, welches bei den Robben, wie man sagt7, gewöhnlich die Weibchen sind. Der Anführer einer Truppe Affen dient als Wache und stösst Bufe aus, die sowohl Gefahr als Sicherheit verkünden s. Sociale Thiere verrichten einander manche kleine Dienste, Pferde zwicken einander und Kühe lecken einander an jeder Stelle, wo sie ein Stechen fühlen; Affen suchen einander äussere Schmarotzer ab, und Brehm führt an, dass, nachdem ein Trupp des Cercopithecus chryseoviridis durch ein dorniges Gebüsch geschlüpft war, jeder Affe sich auf einem Zweig ausstreckte und ein anderer sich aufmerksam zu ihm setzte, seinen Pelz mitersuchte und jeden Stachel auszog.

Thiere leisten sich auch noch wichtigere Dienste: so jagen Wölfe und andere Raubthiere in Truppen und helfen einauder beim Angriff auf ihre Beute; Pelikane fischen in Gemeinschaft. Die Hamadryas-Pa-viane drehen Steine um, um Insecten zu suchen u. s. w., und wenn sie an einen grossen kommen, wenden ihn so viele als herankommen können zusammen um und theilen die Beute. Sociale Thiere vertheidigen sich gegenseitig; die Männchen mehrerer Wiederkäuer kommen vor die Heerde, wenn Gefahr vorhanden ist, und vertheidigen sie mit ihren Hörnern. In einem späteren Capitel werde ich auch Fälle anführen, wo zwei junge wilde Bullen einen' alten gemeinsam angriffen und wo zwei Hengste zusammen versuchten, einen dritten von einer Heerde

6 Die Darwinsche Theorie, p. 101.

' R. Browne in: Proceed. Zoolog. Soc. 18G8, p. 409.

»Brehm, Thierleben. Bd. 1. 18Ö4. S. 52, 79. In Bezug auf die Affen, welche sich gegenseitig Dornen ausziehen s. S. 51. In Bezug auf die Hama-tfryo.s-Paviane, welche Steine umdrehen, wird die Thatsache nach dem Zeugniss von Alvarez gegeben (S. 76), dessen Beobachtungen Brehm für völlig glaubwürdig hält. Wegen der Fälle, wo die alten Pavianmännchen die Hunde angreifen s. S. 79 und wegen des Adlers S. 56.

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Geisteskräfte.

I. Theil.

Stuten wegzutreiben. Breem begegnete in Abyssinien einer grossen Heerde von Pavianen, welche quer durch ein Thal zogen: einige hatten bereits den gegenüberliegenden Hügel erstiegen und einige waren noch im Tliale. Die Letzteren wurden von den Hunden angegriffen, aber sofort eilten die alten Männchen von den Felsen herab und brüllten mit weitgeöftnetem Munde so fürchterlich, dass die Hunde sich bestürzt zurückzogen. Sie wurden von Neuem zum Angriff angefeuert, aber diesmal waren alle Paviane wieder auf die Höhen hinaufgestiegen mit Aus-mahme eines jungen, ungefähr sechs Monate alten, welcher laut um Hülfe rufend einen Felsblock erkletterte und umringt wurde. Jetzt kam eines der grössten Männchen, ein wahrer Held, nochmals vom Hügel herab, gieng langsam zu dem jungen, liebkoste ihn und führte ihn trinmphirend weg; — die Hunde waren zu sehr erstaunt, um ihn anzugreifen. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, noch eine andere Scene mitzutheilen, welcher derselbe Naturforscher als Zeuge beiwohnte. Ein Adler ergriff einen jungen Cercopilhecus, konnte ihn aber, da sich jener an einen Zweig klammerte, nicht sofort wegschleppen. Der Affe schrie laut um Hülfe, worauf die anderen Thiere der Truppe mit vielem Gebrüll zum Entsatz herbeieilten, den Adler umringten und ihm so viel Federn ausrissen, dass er nicht länger an seine Beute dachte, sondern nur daran, wie er wegkäme. Dieser Adler, bemerkt Brehm, wird sicher niemals wieder einen einzelnen Affen in einer Truppe angreifen.

Es ist gewiss, dass in Gesellschaft lebende Thiere ein Gefühl der Liebe zu einander haben, welches erwachsene nicht sociale Thiere nicht fühlen. Wie weit sie in den meisten Fällen thatsächlich mit den Schmerzen und Freuden der Anderen sympathisiren, ist besonders mit Kücksicht auf die letzteren zweifelhafter. Doch gibt Mr. Buxton, welcher ausgezeichnete Gelegenheit zur Beobachtung hatte9, an, dass seine Macaws, welche in Norfolk frei lebten, ein „extravagantes Interesse" an einem Paare mit einem Neste nahmen; so oft das Weibchen dasselbe verliess, wurde es von einer Schaar anderer umringt, welche „zu seiner Ehre ein fürchterliches Geschrei erhoben." Es ist oft schwer zu entscheiden, ob Thiere Gefühl für die Leiden anderer haben. Aber wer kann sagen, was Kühe fühlen, wenn sie um einen sterbenden oder todten Genossen herumstehen und ihn anstarren? Dass

» Annais and Magaz. of Natural History. 1808. Novhr. p. 382.

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Cap.' 3.

Soziabilität.

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Thiere zuweilen weit davon entfernt sind, irgendwelche Sympathie zu zeigen, ist sicher; denn sie treiben ein verwundetes Thier aus der Hernie oder stossen und plagen es zu Tode. Dies dürfte beinahe der schwärzeste Punkt in der Naturgeschichte sein, wenn nicht die dafür aufgestellte Erklärung richtig ist, wonach der Instinct oder Verstand der Thiere sie dazu führt, einen verwundeten Genossen anszustossen, damit nicht Kaubthiere, mit Einschluss des Menschen, versucht würden, der Heerde zu folgen. In diesem Falle ist ihr Betragen nicht viel schlimmer als das der nordamerikanischen Indianer, welche ihre schwachen Kameraden in den Steppen umkommen lassen, oder der Feuerländer, welche, wenn ihre Eltern alt oder krank werden, sie lebendig begraben 10.

Es sympathisiren indessen sicher viele Thiere mit dem Unglück oder der Gefahr ihrer Genossen. Dies ist selbst bei Vögeln der Fall; Capt. Stansbury u fand am Salzsee in Utali einen alten und vollständig blinden Pelican, welcher sehr fett war und von seinen Genossen lange Zeit, und zwar sehr gut, gefüttert worden sein musste. Mr. Blyth theilt mir mit, dass er sah, wie indische Krähen zwei oder drei ihrer Genossen, welche blind waren, fütterten, und ich habe von einem ähnlichen Falle bei unserem Haushuhne gehört. Wenn man will, kann man diese Handlungen instinetive nennen, doch sind derartige Fälle viel zu selten, um der Entwickelung irgend eines speciellen Instinctes zum Ausgangspunkte zu dienen12. Ich selbst habe einen Hund gesehen, welcher niemals bei einem seiner grössten Freunde, nämlich einer Katze, welche krank in einem Korbe lag, vorübergieng, ohne sie ein paar Mal mit der Zunge zu belecken, das sicherste Zeichen von freundlicher Gesinnung bei einem Hunde.

Es muss Sympathie genannt werden, welche einen muthvollen Hund veranlasst, sich auf Jeden zu stürzen, der seinen Herrn schlägt, wie er es sicher thun wird. Ich sah, wie -Jemand die Bewegung machte, als schlüge er eine Dame, die einen sehr furchtsamen kleinen Hund auf ihrem Schoosse hatte, auch war dieser Versuch noch nie zuvor gemacht

10 Sir ,T. Lnbbock, Prehistoric Times. 2. edit. p. 446.

" Wie L. II. Morgan in seiner Schrift: The American Beaver. 18G8, p. 272 citirt. Capt. Stansbury gibt auch einen interessanten Bericht älter die Art und Weise, wie ein sehr junger Pelican, welcher von einer starken Strömung fortgetrieben wurde, in seinen Versuchen das Ufer zu erreichen, von einem halben Dutzend alter Vögel geleitet und ernuithigt wurde.

12 Wie Mr. liain bemerkt: „wirksame Hülfe einem Leidenden gebracht entspringt wirklicher Sympathie." Mental and Moral Science. 18G8, p. 245.

DutWIN, Abstimmung. I. Zweite AuHage.                                                             5

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66                                               Geisteskräfte.                                        I. TheiL

worden. Das kleine Geschöpf sprang sofort auf und davon; sobald aber das vermeintliche Schlagen vorüber war, war es wirklich rührend zu sehen, wie unablässig es suchte, seiner Herrin Gesicht zu lecken und sie zu trösten. Breiim I:i fuhrt an, dass, als ein Pavian in der Gefangenschaft gehascht werden sollte, um ihn zu strafen, die anderen ihn zu beschützen suchten. In den oben angeführten Fällen nmss es Sympathie gewesen sein, welche die Paviane und Cercopitheken veranlasste, ihre jungen Genossen gegen die Hunde und den Adler zu ver-theidigen. Ich will nur noch ein einziges weiteres Beispiel eines sympathischen und heroischen Betragens bei einem kleinen amerikanischen Affen anführen. Vor mehreren Jahren zeigte mir ein Wärter im zoologischen Garten ein paar tiefe und kaum geheilte Wunden in seinem Genick, die ihm, während er auf dem Boden kniete, ein wnthender Pavian beigebracht hatte. Der kleine amerikanische Affe, welcher ein warmer Freund dieses Wärters war, lebte in demselben grossen Be-hältniss und war schrecklich furchtsam vor dem grossen Pavian; sobald er aber seinen Freund, den Wärter, in Gefahr sah, stürzte er nichtsdestoweniger zum Entsatz herbei und zog durch Schreien und Beissen den Pavian so vollständig ab, dass der Mann im Stande war, sich zu entfernen, nachdem er, wie der ihn behandelnde Arzt später äusserte, in grosser Lebensgefahr gewesen war.

Ausser Liebe und Sympathie zeigen Thiere noch andere Eigenschaften , welche man beim Menschen moralische nennen würde; und ich stimme mit Agiassjz 14 überein, dass Hunde etwas dem Gewissen sehr Aehnliches besitzen. Sie besitzen sicherlich etwas Kraft der Selbstbeherrschung, und diese scheint nicht Folge der Furcht zu sein. Wie Braubach bemerktIS, wird ein Hund sich des Stehlens von Nahrung in Abwesenheit seines Herrn enthalten. Hunde sind schon lange finden echten Typus der Treue und des Gehorsams genommen worden. Alle Thiere, welche in Massen zusammenleben und einander vertheidi-gen oder ihre Feinde gemeinsam angreifen, müssen in gewissem Grade einander treu sein, und Derjenige, welcher einem Anführer folgt, nmss in einem gewissen Grade gehorsam sein. Wenn die Paviane in Abys-sinien l6 einen Garten plündern, so folgen sie schweigend ihrem An-

13  Thierlehen. Bd. I. S. S5.

14  De Fespece et de la Classification. 18G9, p. 97.

15  Die Darwinsche Art-Lehre. 18ß0, S. 54.

16  Brehm, Thiorleben. Bd. I. S. 70.

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Cap. 3.                                          Sociabilität.                                                67

fährer, und wenn ein unkluges junges Thier ein Geräusch macht, so bekommt es von den Anderen einen Klupps, um es Schweigen und Gehorsam zu lehren ; sobald sie sich aber sicher wissen und keine Gefahr vorhanden ist, zeigen sie alle ihre Freude mit vielem Lärm.

In Bezug auf den Impuls, welcher gewisse Thiere dazu führt, sicli gesellig mit einander zu verbinden und einander auf viele Weisen zu helfen, kann mau schliessen, dass sie in den meisten Fällen durch dasselbe Gefühl der Befriedigung oder des Vergnügens dazu getrieben werden , welches sie bei der Ausübung anderer instinetiver Handlungen an sich erfahren, oder durch dasselbe Gefühl des Nichtbefriedigtseins, wie in anderen Fällen verhinderter instinetiver Handlungen. Wir sehen dies in zahllosen Beispielen, und es wird in auffallender Weise durch die erworbenen Instincte unserer domesticirten Thiere erläutert. So ergötzt sich ein junger Schäferhund an dem Treiben der Schafe und dem rund um die Heerde Herumlaufen aber nicht am Beissen; ein junger Fuchs-hund ergötzt sich am Jagen eines Fuchses, während manche andere Hundearten, wie ich selbst erfahren habe, Füchse nicht beachten. Welches starke Gefühl innerer Befriedigung muss einen Vogel, ein Thier von so viel innerem Leben, dazu treiben, Tag für Tag über seinen Eiern zu sitzen! Zugvögel sind unglücklich, wenn man sie am Wandern hindert, und vielleicht freuen sie sich der Abreise zu ihrem langen Fluge. Einige wenige Instincte werden nur durch schmerzliche Gefühle bestimmt, so durch die Furcht, welche zur Selbsterhaltnng führt oder ganz speciell gegen gewisse Feinde gerichtet ist. Ich vermuthe, dass wohl Niemand die Empfindungen des Vergnügens oder des Schmerzes analysiren kann. Es ist indessen in vielen Fällen wahrscheinlich, dass Instincten durch die blose Kraft der Vererbung ohne das Beizmittel weder von Vergnügen noch Schmerz gefolgt wird. Ein junger Vorstehhund kann, wenn er zuerst Wild wittert, scheinbar nicht anders, als er muss stehen, ein Eichhorn in einem Käfig, welches die Nüsse, die es nicht essen kann, bekratzt als wenn es dieselben im Boden vergraben wollte, wird kaum so angesehen werden können, als handle es dabei entweder aus Vergnügen oder aus Schmerz. Die gewöhnliche Annahme, dass die Menschen zu jeder Handlung dadurch angetrieben werden müssten, dass sie irgend ein Vergnügen oder einen Schmerz dabei erfahren, dürfte daher irrig sein. Wird auch einer Gewohnheit blind und ohne weitere Ueberlegung und unabhängig von irgend einem

im Augenblick gefühlten Vergnügen oder Schmerz nachgegeben, so wird

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6S                                              Geisteskräfte.                                       I. Theil.

doch wenn sie zwangsweise und plötzlich aufgehalten werden würde, ein unbestimmtes Gefühl des Unbefriedigtseins allgemein empfanden werden ; und dies gilt vorzüglich in Bezug auf Personen von schwachem Verstand.

Es ist oft angenommen worden, dass' die Tliiere an erster Stelle gesellig gemacht wurden, und dass sie als Folge hiervon sich unge-müthlich fühlten, wenn sie von einander getrennt wurden, und gemüth-lich, so lange sie zusammen waren. Eine wahrscheinlichere Ansicht ist aber die, dass diese Empfindungen zuerst entwickelt wurden, damit diejenigen Thiere, welche durch das Leben in Gesellschaft Nutzen hätten, veranlasst würden, zusammen zu leben, in derselben Weise, wie das Gefühl des Hungers und das Vergnügen am Essen ohne Zweifel zuerst erlangt wurden, um die Thiere zum Essen zu veranlassen. Das Gefühl des Vergnügens an Gesellschaft ist wahrscheinlich eine Erweiterung der elterlichen oder kindlichen Zuneigungen; und diese Erweiterung dürfte hauptsächlich der natürlichen Zuchtwahl zuzuschreiben sein, zum Theil aber vielleicht blosser Gewohnheit. Demi bei denjenigen Thieren, welche durch das Leben in enger Gemeinschaft bevorzugt wurden, werden diejenigen Individuen, welche das grösste Vergnügen an der Gesellschaft empfanden, am besten verschiedenen Gefahren entgehen, während diejenigen, welche sich am wenigsten um ihre Kameraden kümmerten und einzeln lebten, in grösserer Anzahl untergehen werden. In Bezug auf den Ursprung der elterlichen und kindlichen Zuneigimgen, welche, wie es scheint, den socialen Neigungen zu Grunde liegt, zu speculiren, ist hoffnungslos, wir können aber annehmen, dass sie zum grossen Theil durch natürliche Zuchtwahl erlangt worden sind. So ist dies fast sicher der Fall gewesen bei den ungewöhnlichen und entgegengesetzten Gefühlen des Hasses gegen die nächsten Verwandten, wie bei den Arbeiterbienen, welche ihre Drohnenbrüder tödten, und bei den Bienenköniginnen, welche ihre Tochterköniginnen tödten. Es ist nämlich hier der Wunsch, ihre nächsten Verwandten zu zerstören, statt sie zu lieben, für die Gemeinschaft von Nutzen gewesen.

Das überaus wichtige Gefühl der Sympathie ist vorschieden von dem der Liebe. Eine Mutter kann ihr schlafendes und passiv da liegendes Kind leidenschaftlich lieben, aber man kann kaum sagen, dass sie dann Sympathie für dasselbe fühle. Die Liebe eines Menschen zu seinem Hnnde ist verschieden von Sympathie; in ähnlicher Weise ist es die Liebe eines Hundes für seinen Herrn. Wie früher Aüam Smitu

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Cap. 3.                                          Sociabilität.                                                69

so hat neuerdings Mr. Bain behauptet, dass der Grund der Sympathie in der starken Nachwirkung liege, welche wir für frühere Zustände des Leidens oder Vergnügens empfinden. In Folge dessen „erweckt der Anblick einer anderen Person, welche Hunger, Kälte, Ermüdung erduldet, in uns eine Erinnerung an dieselben Zustände, welche selbst in der Idee schmerzlich sind." Wir werden auf diese Weise veranlasst, die Leiden eines Andern zu mildern, um zu gleicher Zeit auch unsere eigenen schmerzlichen Gefühle zu besänftigen. In gleicher Weise werden wir veranlasst, an der Freude Anderer theilzunehmen ". Ich kann aber nicht einsehen, wie diese Ansicht jene Thatsache erklärt, dass Sympathie in einem unmessbar stärkeren Grade von einer geliebten Person als von einer indifferenten erregt wird. Der blosse Anblick des Leidens, ganz unabhängig von Liebe, würde sclion hinreichen, lebhafte Erinnerungen und Associationen in uns zu erwecken. Es kann wohl zunächst die Sympathie in der angegebenen Weise entstanden sein; jetzt scheint sie aber ein Instinct geworden zu sein, welcher besonders auf geliebte Gegenstände gerichtet ist, in derselben Weise, wie sich bei Tbieren die Furcht besonders gegen gewisse Feinde richtet. Da die Sympathie hierdurch eine bestimmte Richtung erhält, so wird die gegenseitige Liebe der Mitglieder einer und derselben Gemeinschaft ihre Gren- zen erweitern. Ohne Zweifel fühlt ein Tiger oder ein Löwe Sympathie mit dem Leiden seines Jungen, aber nicht für irgend ein anderes Thier. Bei Thieren, welche im strengen Sinn sociale sind, wird das Gefühl mehr oder weniger auf alle in dieser Gemeinschaft vereinigten Glieder ausgedehnt sein, wie wir ja wissen, dass dies der Fall ist. Beim Menschen verstärkt wahrscheinlich Selbstsucht, Erfahrung, Nachahmung, wie Mr. Bain gezeigt hat, die Kraft der Sympathie; denn die Hoffnung, im Austausch-Gutes zu erfahren, treibt uns dazu, Handlungen sympathischer Freundlichkeit Andern zu erweisen; und es lässt sich auch

" s. das erste wunderbare Capitel in Adam Smith, Theory of Moral Seu-' timents, auch Bain 's Mental and Moral Scicne. 1868, p. 244 und 275—282. Mr. Bain führt an, dass „Sympathie indireot eine Quelle des Vergnügens für den sie empfindenden sei"; und erklärt dies als eine Folge der Kcciprocität. Er bemerkt, dass „die Person, welche Wolilthaten empfieng, oder andere an ihrer Stelle, durch Sympathie, oder gute Dienste für das Opfer sich erkenntlich zeigen können." Wenn indessen Sympathie, wie es der Fall zu sein scheint, streng genommen ein Instinct ist, so würde ihre Ausübung direct Vergnügen machen, in derselben Weise wie die Ausübung fast jeden anderen Instmetes oben als solche dargestellt wurde.

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70                                            Geisteskräfte.                                          1. Theil.

nicht zweifeln, dass das Gefühl der Sympathie sehr durch die Gewohnheit verstärkt wird. AVio complicirt auch die Weise sein mag, in welcher dieses Gefühl zuerst entstanden ist, da es eines der bedeutungsvollsten für alle diejenigen Thiere ist, welche einander helfen und vertheidigen, so wird es durch natürliche Zuchtwahl vergrössert worden sein; denn jene Gemeinschaften, welche die grösste Zahl der sympathischsten Mitglieder umfassen, werden am besten gedeihen und die grösste Anzahl an Nachkommen erzielen.

In vielen Fällen ist es unmöglich, zu entscheiden, ob gewisse sociale Instincte durch natürliche Zuchtwahl erlangt worden sind, oder ob sie das indirecte Kesultat anderer Instincte und Fähigkeiten sind, wie der Sympathie, des Verstandes, der Erfahrung und einer Neigung zur Nachahmung, oder ferner, ob sie einfach das Resultat lange fortgesetzter Gewohnheit sind. Ein so merkwürdiger Instinct wie der, Wachen aufzustellen, um die ganze Gemeinschaft vor Gefahr zu warnen, kann kaum das indirecte Resultat irgend einer andern Fähigkeit gewesen sein; er mnss daher direct erlangt worden sein. Auf der andern Seite mag die Gewohnheit, nach welclier die Männchen einiger socialen Thiere die Heerde zu vertheidigen und ihre Feinde oder ihre Beute gemeinsam anzugreifen pflegen, vielleicht aus gegenseitiger Sympathie entstanden sein; aber Muth, und in den meisten Fällen auch Kraft, muss schon vorher und wahrscheinlich durch natürliche Zuchtwahl erlangt worden sein,

Von den verschiedenen Instincten und Gewohnheiten sind einige viel stärker als andere, d. h. einige geben entweder mehr Vergnügen, wenn sie ausgeführt werden, und mehr Unbehagen, wenn sie verhindert werden, oder, und dies ist wahrscheinlich völlig ebenso bedeutungsvoll, sie werden viel beständiger in Folge der Vererbung befolgt, ohne irgend ein specielles Gefühl der Freude oder des Schmerzes zu erregen. Wir selbst sind uns dessen wohl bewusst, dass manche Gewohnheiten viel schwerer zu heilen oder zu ändern sind, als andere. Man kann daher auch oft bei Thieren einen Kampf zwischen verschiedenen Instincten beobachten oder zwischen einem Instinct und einer gewohnheitsgemässen Neigung; so, wenn ein Hund auf einen Hasen losstürzt, gescholten wird, pausirt, zweifelt, wieder hinausjagt oder beschämt zu seinem Herrn zurückkehrt; oder wenn eine Hündin zwischen der Liebe zu ihren Jungen und zu ihrem Herrn kämpft, denn man sieht sie sich zu jenen wegschleichen, gewissermassen als schäme sie sich, nicht ihren Herrn zu begleiten. Das merkwürdigste mir bekannte Beispiel aber von einem

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Cap. 3.                           Der Mensch ein sociales Thier.                                 7 I

Instinct, welcher einen andern bezwingt, ist der Wanderinstinet, welcher den mütterlichen überwindet. Der erstere ist wunderbar stark; ein gefangener Vogel schlägt zu der betreffenden Zeit seine Brust gegen den Draht seines Käfigs, bis sie nackt und blutig ist; er veranlasst junge Lachse, ans dem Stisswasser heraiisznspringen, wo sie ruhig weiter leben könnten, und führt sie damit unabsichtlich zum Selbstmord. Jedermann weiss, wie stark der mütterliche Instinct ist, welcher selbst furchtsame Vögel ermuthigt, grösserer Gefahr sich auszusetzen, doch immer mit Zaudern und im Widerstreit mit dem Instincte der Selbsterhaltung. Nichtsdestoweniger ist der Wanderinstinct so mächtig, dass spät im Herbst Ufer- und Haussehwalben häufig ihre zarten Jungen verlassen und sie elendiglich in ihren Nestern umkommen lassen 18.

Wir können wohl sehen, dass ein instinetiver Antrieb, wenn er in irgendwelcher Weise einer Species vortheilhafter ist als irgend ein anderer oder entgegengesetzter Instinct, durch natürliche Zuchtwahl der kräftigere von beiden werden kann; denn diejenigen Individuen, welche ihn am stärksten entwickelt haben, werden in grösserer Zahl andere überleben. Ob dies aber der Fall ist mit dem Wanderinstinct in Vergleich mit dem mütterlichen, Hesse sich wohl bezweifeln. Die grössere Beständigkeit und ausdauernde Wirkung des Ersteren zu gewissen Zeiten des Jahres und zwar während des ganzen Tags, können ihm eine Zeitlang eine überwiegende Kraft verleihen.

D er M e n s c h ein sociales Thier. — Die meisten Leute geben zu, dass der Mensch ein sociales Wesen ist. Wir sehen dies in seiner Abneigung gegen Einsamkeit und in seinem Wunsch nach Gesellschaft noch über die seiner eigenen Familie hinaus. Einzelhaft ist eine der schärfsten Strafarten, welche über Jemand verhängt werden können. Einige Schriftsteller vermuthen, dass der Mensch im Urzustände in

18 Diese Thatsacbe wurde nach der Angabe L. Jcnyns's (s. dessen Ausgabe von White's Natural History of Selborne. 1853, p. 204) zuerst von dem berühmten Jenner berichtet in den Philos. Trausact für 1824, und ist seit jener Zeit von mehreren Beobachtern, besonders von Mr. Blackwall bestätigt worden. Der letztgenannte sorgfältige Beobachter untersuchte zwei Jahre hintereinander spät im Herbst sechsunddreissig Nester. Er fand, dass zwölf davon junge todte Vögel, fünf dem Ausschlüpfen nahe Eier und drei nur eine Zeitlang bebrütete Eier enthielten. Es werden auch viele Vögel, welche zu einem so langen Fluge noch nicht alt genug sind, gleichfalls aufgegeben und zurückgelassen, s. Blackwall, llescarches in Zoology. 1834, p. 108, 118. Für weitere Beweise, deren kaum nöthig sind, s. Leroy, Lettres philos. 1802, p. 217.

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72                                               Geisteskräfte.                                       [. Theil.

einzelnen Familien lebte; wenn aber auch heutigen Tages einzelne Familien oder nur zwei oder drei die einsamen Gefilde irgend eines wilden Landes durchziehen, so stehen sie doch immer, soweit ich es nur ermitteln konnte, mit anderen, denselben Bezirk bewohnenden Familien in freundschaftlichem Verkehr. Derartige Familien treffen gelegentlich zu Beratschlagungen zusammen und vereinigen sich zur gemeinsamen Verteidigung. Darin, dass die, benachbarte Bezirke bewohnenden Stämme fast immer mit einander im Kriege sind, liegt kein Grund dagegen, dass der Mensch ein sociales Thier ist; denn sociale Tnstincte erstrecken sich niemals auf alle Individuen einer und derselben Art. Nach Analogie der grösseren Zahl der Quadrurnanen zu schliessen, ist es wahrscheinlich, dass die frühen afl'enälmlichen Urerzeuger des Menschen gleichfalls social waren; dies ist aber für uns von keiner grossen Bedeutung. Obschon der Mensch, wie er jetzt existirt, wenig specielle Tnstincte hat und wohl alle, welche seine frühen Urerzeuger besessen haben mögen, verloren hat, so ist dies doch kein Grund, warum er nicht von einer äusserst entfernten Zeit her einen gewissen Grad instinctiver Liebe und S3'inpathie für seine Genossen behalten haben sollte. Wir sind uns in der That alle bewusst, dass wir derartige sympathische Gefühle besitzen l9; unser Bewusstsein sagt uns aber nicht, ob dieselben instiiictiv und vor langer Zeit in derselben Weise wie bei den niederen Thieren entstanden sind, oder ob sie von jedem Einzelnen von uns während unserer früheren Lebensjahre erlaugt worden sind. Da der Mensch ein sociales Thier ist, so wird er auch wahrscheinlich eine Neigung, seinen Kameraden treu zu bleiben, vererben, denn diese Eigenschaft ist den meisten socialen Thieren gemein. Er wird auch in gleicher Weise eine gewisse Fähigkeit der Selbstbeherrschung besitzen und vielleicht auch des Gehorsams gegen den Anführer der Genossenschaft, er wird auch in Folge einer angeerbten Neigung noch immer geneigt sein, gemeinsam mit Anderen seine Mitmenschen zu vcrtheidigen, und bereit, ihnen in allen Weisen zu helfen, welche nicht zn stark mit seiner eigenen Wohlfahrt oder seinen eigenen lebhaften Wünschen sich kreuzen.

19 Hume bemerkt (An Enquii'y concerning the Principals of Moral eilit. 1751, p. 132): „es scheint das Iiekenntniss nothweudig zn sein, dass das Glück und Unglück Anderer uns keine völlig indifferenten Schauspiele sind, dass im Gegeiltheil die Betrachtung des ersteren uns eine heimliche Freude bereitet, während das Auftreten des letzteren einen melancholischen Schatten über unsere Phantasie breitet."

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Cap. 3.                            -Der Mensch ein sociales Thier.                                 73

Diejenigen socialen Thicre, welche am untern Ende der Stufenleiter stehen, werden fast ausschliesslich, und diejenigen, welche höher in der Reihenfolge stehen, in grossem Maasse bei der Hülfe, welche sie den Gliedern derselben Genossenschaft augedeiben lassen, durch speeielle In-stincte unterstützt. In gleicher Weise werden sie aber auch zum Theil durch gegenseitige Liebe und Sympathie und, wie es wohl scheint, mit Unterstützung eines gewissen Betrags von Verstand dazu veranlasst werden. Obgleich der Mensch, wie eben bemerkt, keine speziellen In-stinete hat, welche ihm sagen, wie er seinem Mitmenschen helfen soll, so fühlt er doch den Antrieb dazu, und bei seinen vervollkommneten intellectuellen Fähigkeiten wird er in dieser Hinsicht natürlich durch Nachdenken und Erfahrung geleitet werden. Auch wird ihn instinetive Sympathie veranlassen, die Billigung seiner Mitmenschen hoch anzuschlagen, denn die Empfänglichkeit für Lob und das starke Gefühl für Ruhm einer-, andererseits der noch stärkere Widerwille gegen Spott und Verachtung sind, wie Mr. Bain klar gezeigt hat 2ü, Folge der Sympathie. In Folge hiervon wird der Mensch durch die Wünsche, den Beifall und Tadel seiner Mitmenschen, wie diese durch deren Gesten und Sprache ausgedrückt werden, bedeutend' beeinfhisst. So, geben die socialen lustinete, welche der Mensch in einem sehr rohen Zustand erlangt haben mnss, und die vielleicht selbst von seinen früheren aft'en-ähnlicheu Urerzeugern erlangt worden sind, noch immer den Anstoss zu vielen seiner besten Handlungen, werden aber in hohem Maasse durch die ausdrücklichen Wünsche und die Beurtheihmg seiner Mitmenschen und unglücklicherweise noch öfter durch seine eigeuen starken selbstischen Begierden bestimmt. In dem Maasse aber als die Gefühle der Liebe und Sympathie und die Kraft der Selbstbeherrschung durch die Gewohnheit verstärkt werden und das Vermögen des Nachdenkens klarer wird, so dass der Mensch die Gerechtigkeit der Urtheile seiner Mitmenschen würdigen kann, wird er sich unabhängig von irgend einem Gefühl der Freude oder des Schmerzes, das er in dem Augenblick fühlen könnte, zu einer gewissen Richtung seines Benehmens getrieben fühlen. Dann kann er sagen: ich bin der oberste Richter meines eigenen Betragens: oder mit den Worten Kant's; .ich will in meiner eigenen „Person nicht die Würde der Menschheit verletzen."

'-" Mental and moral Science. 1868, p. 254.

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Geisteskräfte.

I. Tlieil.

Die beständigeren socialen Instincte überwinden die weniger beständigen. — Wir haben indessen bis jetzt noch nicht den wichtigsten Funkt, um welchen sich die ganze Frage des moralischen Gefühls dreht, betrachtet: warum soll ein Mensch fühlen, dass er der einen instinetiven Begierde eher gehorchen soll als der andern? Warum bereut er es bitterlich, wenn er dem starken Gefühl der Selbsterhaltung nachgegeben und sein Leben nicht gewagt hat, um das eines Mitgeschöpfes zu retten, oder warum bereut er es, in Folge peinlichen Hungers Nahrung gestohlen zu haben.

An erster Stelle ist es offenbar, dass beim Menschen die instinetiven Impulse verschiedene Grade der Mächtigkeit besitzen. Eine junge furchtsame Mutter wird vom'mütterlichen Instinct getrieben, ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, sich der grössten Gefahr um ihres Kindes willen auszusetzen, aber nicht um eines blossen Mitgeschöpfes willen. Schon mancher Mann oder selbst Knabe, welcher noch niemals zuvor sein Leben für ein anderes wagte, in dem aber Muth und Sympathie schön entwickelt waren, hat mit Hintansetzung des Tnstincts der Selbsterhaltung sich augenblicklich in den Strom gestürzt, um einen dem Ertrinken nahen Mitmenschen zu retten. Tn diesem Falle wird der Mensch durch dasselbe instinetive Motiv getrieben, welches den kleinen heroischen amerikanischen Affen, den ich früher erwähnte, veranlasste, den grossen und von ihm gefürcliteten Pavian anzugreifen, um seinen Wärter zu retten. Derartige Handlungen, wie die obengenannten, scheinen das einfachste Resultat davon zu sein, dass die socialen oder mütterlichen Instincte stärker sind als irgend welche andere Instincte oder Motive; denn um Folge einer Ueberlegung oder Folge eines Gefühls von Freude oder Schmerz sein zu können, werden sie zu augenblicklich ausgeübt, wennschon die Nichtausübung ein Unbehagen veranlassen würde.

Ich weiss wohl, dass manche Personen behaupten, dass Handlungen, welche durch einen plötzlichen Antrieb zur Ausführung gelangen, wie in den obenerwähnten Fällen, nicht in den Bereich des moralischen Gefühls gehören und daher nicht moralisch genannt werden können. Dieselben beschränken diesen Ausdruck auf Handlungen, welche mit Ueberlegung und nach einem siegreichen Wettstreit über entgegenstehende Begierden ausgeführt werden, oder auf Handlungen, welche Folgen irgend eines edlen Motivs sind. Es scheint indessen kaum möglich zu sein, eine scharfe Unterscheiduugslinie dieser Art zu ziehen, wennschon die

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Cap. 3.                  Die socialen Instincte kräftiger als andere.                         75

Unterscheidung selbst in der Natur begründet sein mag. Was erhabene Motive betrifft, so sind viele Beispiele von Barbaren mitgetheilt worden, welche jeden Gefühls eines allgemeinen Wohlwollens gegen die Menschheit bar und nicht durch irgendwelches religiöse Motiv geleitet mit völliger Ueberlegung, in der Gefangenschaft eher ihr Leben opferten21, als ihre Kameraden verriethen; und sicherlich ist ihr Benehmen als ein moralisches zu betrachten. Was die Ueberlegung und den Sieg über entgegenstehende Motive betrifft, so lässt sich auch beobachten, dass Tbiere zwischen einander entgegenstehenden Instincten zweifeln: so, wenn es sich darum handelt, ihren Nachkommen oder ihren Kameraden in Gefahr zu helfen; und doch werden ihre Handlungen, trotzdem sie zum Besten Anderer ausgefüllt werden, nicht moralische genannt. Ueberdies wird eine wiederholt von uns ausgeführte Handlung zuletzt ohne Ueberlegung oder Zaudern verrichtet werden, und doch wird sicherlich Niemand behaupten, dass eine in dieser Weise verrichtete Handlung aufhört, moralisch su sein; im Gegentheil fühlen wir alle, dass eine Handlung nicht als vollkommen oder in der edelsten Weise ausgeführt angesehen werden kann, wenn sie nicht in Folge eines augenblicklichen Impulses ohne Ueberlegung oder Anstrengung und in derselben Weise ausgeführt wird, wie sie ein Mensch thun würde, bei dem die nöthigen Eigenschaften angeboren sind. Indessen verdient Derjenige, welcher erst seine Furcht oder seinen Mangel an Sympathie überwinden muss, ehe er zur Handlung schreitet, nach einer Seite hin noch mehr Anerkennung als Derjenige, dessen angeborene Disposition ihn zu einer guten Handlung ohne weitere Anstrengung führt. Da wir zwischen den Beweggründen nicht weiter unterscheiden können, so bezeichnen wir alle Handlungen einer gewisseu Classe als moralisch, wenn sie von einem moralischen Wesen ausgeführt werden. Ein moralisches Wesen ist ein solches, welches im Stande ist, seine vergangenen und künftigen Handlungen oder Beweggründe unter einander zu vergleichen und sie zu billigen oder zu misbilligen. Zu der Annahme, dass irgend eines der niederen Thiere diese Fähigkeit habe, haben wir keinen Grund. Wenn daher ein Affe sich in Gefahr begibt, um seinen Kameraden zu erretten, oder einen verwaisten Affen in sorgsame Pflege nimmt, so nennen wir dieses Benehmen nicht moralisch; beim Menschen dagegen,

21 Ich halte einen solchen Fall, den von drei l'atagonischen Indianern, von denen sich einer nach dem andern ersch:esscn licss statt die Pläne ihrer Kriegskameraden zu verrathen, erzählt in Journal of Researches. 1845, p. 103.

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Geisteskräfte,

I. Theil.

welcher allein mit Sicherheit als moralisches Wesen bezeichnet werden kann, werden Handlungen einer gewissen Classe moralische genannt, mögen sie mit üeberlegimg nach einem Kampf mit entgegenstehenden Beweggründen oder in Folge der Nachwirkung einer nach und nach erlangten Gewohnheit oder in Feige eines augenblicklichen Impulses durch den Instinct ausgeführt werden.

Doch kehren wir zu unserem zunächst vorliegenden Gegenstand zurück. Obgleich manche Instincte kräftiger sind als andere und damit zu entsprechenden Handlungen führen, so kann doch nicht behauptet werden, dass die socialen Instincte beim Menschen gewöhnlich stärker sind oder durch langandauernde Gewohnheit stärker geworden sind, als z. B. die Instincte der Selbsterhaltung, des Hungers, der Lust, der Bache n. s. w. Warum bereut der Mensch, — selbst wenn er sich Mühe gibt, jedes solche Gefühl der Beue zu verbannen —, dass er mehr dem einen natürlichen Impuls gefolgt ist als dem andern, und ferner, warum fühlt er, dass er sein Betragen bereuen sollte? In dieser Beziehimg weicht der Mensch völlig von den niederen Thieren ab, doch können wir, wie ich glaube, die Ursache dieser Verschiedenheit mit einem ziemlichen Grade von Deutlichkeit erkennen.

In Folge der Lebendigkeit seiner geistigen Fähigkeiten kann der Mensch es nicht vermeiden zu reflectiren: vergangene Eindrücke und Bilder durchziehen unaufhörlich mit Deutlichkeit seine Seele. Bei denjenigen Thieren nun, welche beständig in Massen vereinigt loben, sind die socialen Instincte fortwährend gegenwärtig und ausdauernd. Der- artige Thiere sind immer bereit, das Warnungssignal auszustossen, die Genossenschaft zu vertheidigen und ihren Genossen in TJebereinstim-mung mit ihren Gewohnheiten zu helfen; sie fühlen zu allen Zeiten, ohne den Antrieb einer speciellen Leidenschaft oder Begierde, einen gewissen Grad von Liebe und Sympathie für sie; sie sind unglücklich, wenn sie lange von ihnen getrennt sind, und in ihrer Gesellschaft immer glücklich. Dasselbe gilt für uns: ein Mensch, welcher keine Spur derartiger Gefühle besässe, würde ein unnatürliches Monstrum sein. Auf der andern Seite ist die Begierde, den Hunger oder irgend eine Leidenschaft, wie die der Bache, zu befriedigen, ihrer Natur nach temporär und kann zeitweise vollständig befriedigt werden. Es ist auch nicht leicht, vielleicht kaum möglich, mit der vollständigen Lebendigkeit z. B. das Gefühl des Hungers sich zurückzurufen und, wie oft bemerkt worden ist, nicht einmal das Gefühl irgendwelchen Leidens. Der Instinct

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der Selbsterhaltung wird nicht gefühlt, ausser bei einer gegenwärtigen drohenden Gefahr, und mancher Feigling hat sich für tapfer gehalten, bis er seinem Feinde Auge in Auge gegenüber gestanden hat. Der Wunsch nach dem Besitzthum eines anderen Menschen ist vielleicht ein so beständiger wie irgend einer, der angeführt werden kann; aber selbst in diesem Falle ist das befriedigende Gefühl wirklichen Besitzes meist ein schwächeres Gefühl als der Wunsch darnach. Schon mancher Dieb, wenn er kein gewohnheitsgemässer war, hat sich nach glücklichem Erfolg gewundert, warum er Dies oder Jenes gestohlen hat.

Da nun der Mensch es nicht vermeiden kann, dass alte Eindrücke beständig wieder durch seine Seele ziehen, so wird er gezwungen. die schwächeren Eindrücke, z. B. vergangenen Hungers oder befriedigter Bache oder auf Kosten anderer Menschen vermiedener Gefahr, mit dem Instincte der Sympathie und des Wohlwollens gegen seine Mitmenschen, welcher noch immer vorhanden und in einem gewissen Grade stets in seiner Seele thätig ist, zu vergleichen. Er wird dann in seiner Erinnerung fühlen, dass ein starker Instiuct einem andern, welcher jetzt vergleichsweise schwach erscheint, nachgegeben hat und dann wird unvermeidlich jenes Gefühl des Unbefriedigtseins gefühlt werden, welches dem Menschen wie jedem anderen Thiere eigen ist, um ihn zum Geliorsam gegen seine Instincte zu bewegen. Der vorhin mitgetheilte Fall der Schwalbe bietet eine Erläuterung, wenn auch .in umgekehrter Weise, eines nur zeitweise, aber doch für diese Zeit stark vorherrschenden Tn-stinets dar, welcher einen andern, welcher gewöhnlich alle übrigen beherrscht, überwindet. Zu der betreffenden Zeit des Jahres scheinen diese Vögel den ganzen Tag lang nur die eine Begierde zu kennen, zu wandern. Ihre Gewohnheiten ändern sich, sie werden rastlos, lärmend und versammeln sich in Haufen. So lange der mütterliche Vogel seine Ncstlinge ernährt oder über ihnen sitzt, ist der mütterliche Instiuct wahrscheinlich stärker als der Waiiderinstinct; aber derjenige, welcher der andauernde ist, erhält den Sieg, und zuletzt fliegt der Vogel in einem Augenblick, wo seine Jungen nicht in Sicht sind, auf und davon und verlässt sie. Ist er am Ende seiner langen lieise und hört der Wanderinstinet zu wirken auf, welch' schmerzliche Gewissensbisse würde ein jeder Vogel fühlen, wenn er mit grosser geistiger Lebendigkeit ausgerüstet sich dem nicht entziehen könnte, dass das Bild seiner Jungen, welche in dein rauhen Norden vor Kälte und Hunger umkommen muss-ten, beständig durch seine Seele zöge.

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Geisteskräfte.

I. Theil.

In dem Momente der Handlung wird der Mensch ohne Zweifel geneigt sein, dem stärkeren Antriebe zu folgen, und obschon ihn dies gelegentlich zu den edelsten Thaten führen kann, so wird es doch bei Weitem häufiger ihn dazu bringen, seine eigenen Begierden auf Kosten anderer Menschen zu befriedigen. Nach deren Befriedigung aber, wenn die vergangenen und schwächeren Eindrücke mit den immer vorhandenen socialen Instincten verglichen werden, wird sicherlich Reue eintreten; der Mensch wird dann unbefriedigt mit sich selbst sein und sich entschliessen, mit mehr oder weniger Kraft in Zukunft anders zu handeln. Dies ist das Gewissen; denn das Gewissen schaut rückwärts und beurtheilt vergangene Handlungen, indem es jene Art von Unbefriedigtsein veranlasst, welche, ist sie schwach, Bedauern, ist sie stark, Gewissensbisse genannt wird.

Ohne Zweifel sind diese Empfindungen von jenen verschieden, welche eintreten, wenn andere histiucte und Begierden unbefriedigt gelassen werden; aber ein jeder unbefriedigter Instinct hat seine eigene ihn besonders treibende Empfindung, wie wir beim Hunger, Durst u. s. w. bemerken. Auf diese AVeise geleitet wird der Mensch durch lange Gewohnheit eine so vollkommene Selbstbeherrschung erlangen, dass seine Begierden und Leidenschaften zuletzt augenblicklich seinen socialen Sympathien nachgeben und dass kein Kampf mehr zwischen ihnen eintreten wird. Der noch immer Hungrige oder noch immer nach Bache Dürstende wird nicht daran denken, Nahrung zu stehlen oder seine Eache auszuüben. Es ist möglich oder, wie wir später sehen werden, selbst wahrscheinlich, dass die Gewohnheit der Selbstbeherrschung, wie andere Gewohnheiten, vererbt wird, und so kommt zuletzt der Mensch durch erlangte und vielleicht ererbte Gewohnheit zu dem Gefühl, dass es am besten für ihn ist. seinen andauernderen Instincten zu gehorchen. Das gebieterische Wort „soll" scheint nur das Bewusstsein von der Existenz eines entweder angeborenen oder theilweise erlangten beständigen Instincts auszudrücken, welcher ihm als Führer dient, trotzdem ihm auch einmal nicht gehorcht werden kann. Wir gebrauchen das Wort „soll" kaum in einem übertragenen Sinne, wenn wir sagen, Jagdhunde sollen jagen, Vorstehhunde sollen stellen und Wasserhnnde sollen das Wild apportiren. Führen sie diese Handlung nicht aus, so vernachlässigen sie ihre Pflicht und handeln unrecht.

Wenn irgend eine Begierde oder ein Instinct, welcher zu einer dem Besten Anderer entgegenstehenden Handlung führt, einein Menschen,

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Cap". ?>.                  Sociale Tugenden anfangs allein geschätzt.                         79

wenn dieser sich ihn vor die Seele ruft, noch immer als eben so stark oder noch stärker als sein socialer Instinct erscheint, so wird er kein heftiges Bedauern fühlen, ihm gefolgt zu sein, er wird sich aber dessen bewusst sein, dass, wenn sein Betragen seinen Mitmenschen bekannt würde, er von ihnen Misbilligung erfahren würde, und nur Wenige sind so völlig der Sympathie bar, um nicht Misbehagen zu empfinden, wenn dies eintritt. Hat er keine solche Sympathie und sind seine Begierden, die ihn zu schlechten Handlungen leiten, zu der Zeit stark und werden sie, vor die Seele, zurückgerufen, nicht von den persistenteren socialen Instincten bekämpft, dann ist es seinem Wesen nach ein schlechter Mensch 22 und das einzige ihn zurückhaltende Motiv ist die Furcht vor der Strafe und die Ueberzeugung, dass es auf die Dauer für seine eigenen selbstischen Interessen am besten sein würde, mehr das Beste der Andern, als sein eigenes in's Auge zu fassen.

Offenbar kann Jeder mit einem weiten Gewissen seine eigenen Begierden befriedigen, wenn sie nicht mit seinen socialen Instincten sich kreuzen, d. li. mit dem Besten Anderer; aber um völlig vor eigenen Vorwürfen sicher zu sein oder wenigstens vor Unbehagen, ist es beinahe nothwendig, die Misbilligung seiner Mitmenschen, mag sie gerechtfertigt sein oder nicht, zu vermeiden. Auch darf der Mensch nicht die feststehenden Gewohnheiten seines Lebens, besonders wenn dieselben verständige sind, durchbrechen; denn wenn er dies thut, wird er zuverlässig ein Unbefriedigtsein empfinden; auch muss er gleichzeitig den Tadel des einen Gottes oder der Götter vermeiden, an welchen oder an welche er je nach seiner Kenntniss oder nach seinem Aberglauben glauben mag. In diesem Falle tritt aber oft noch die weitere Furcht vor göttlicher Strafe hinzu.

Die eigentlichen socialen Tugenden zuerst allein beachtet. — Die oben gegebene Ansicht von dem ersten Ursprung und der Natur des moralischen Gefühls, welches uns sagt was wir thun sollen, und des Gewissens, welches uns tadelt, wenn wir jenem nicht gehorcht, stimmt ganz gut mit dem überein, was wir von dem früheren unentwickelten Zustand dieser Fähigkeit beim Menschen kennen. Die Tugenden, welche wenigstens im Allgemeinen von rohen Menschen aus-

- Dr.' Prosper Despine bringt in seiner „Psychologie naturelle" 1868 (Tom. I, p. 243. Tom. II, p. 169) viele merkwürdige Fälle von den schlimmsten Verbrechern, welche dem Anscheine nach vollkommen eines Gewissens entbehrten.

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Geisteskräfte.

1. Thcil.

geübt werden müssen, um es zu ermöglichen, dass sie in einer Gemeinsamkeit verbunden leben können, sind diejenigen, welche noch immer als die wichtigsten anerkannt werden. Sie werden aber fast ausschliesslich nur in Bezug auf Menschen desselben Stammes ausgeübt; und die ihnen entgegengesetzten Handlungen werden, sobald sie in Bezug auf Menschen anderer Stämme ausgeübt werden , nicht als Verbrechen betrachtet. Kein Stamm würde zusammenhalten können, bei welchem Moid, Räuberei, Verrätherei gewöhnlich wären; in Folge dessen werden solche Verbrechen innerhalb der Grenzen eines und desselben Stammes „mit ewiger Schmach gebrandmarkt' 23, erregen aber jenseits dieser Grenzen keine derartigen Empfindungen. Ein amerikanischer Indianer ist mit sich selbst wohl zufrieden und wird von anderen geehrt, wenn er einen Menschen eines andern Stammes scalpirt, und ein Dyak schneidet einer ganz friedlichen Person den Kopf ab und trocknet ihn als Trophäe. Der Kindesmord hat im grössten Maassstab in der ganzen Welt geherrscht 24 und hat keinen Tadel gefunden; es ist indessen die Ermordung von Kindern, besonders von Mädchen, als etwas Gutes für den Stamm oder wenigstens nicht als schädlich für denselben angesehen worden. In früheren Zeiten wurde der Selbstmord nicht allgemein als Verbrechen betrachtet25, sondern wegen des dabei bewiesenen Muths eher als ehrenvolle Handlung; und er wird noch immer von einigen halbcivilisirten Nationen ausgeübt, ohne für tadelnswerth zu gelten, denn der Verlust eines einzelnen Individuums wird nicht als ein für die Nation fühlbarer angesehen. Wie ich von Sir J. Lubbock höre, wird Selbstmord, was auch die Erklärung hiervon sein mag, von den niedrigsten Barbaren nur selten verübt. Man hat berichtet, dass ein indischer Thng es in seinem Gewissen bedauerte, nicht ebensoviele Reisende strangulirt und beraubt zu haben, als sein Vater vor ihm gethan hatte. Auf einem niedrigen Zustand der Civilisation wird allerdings die Beraubung von Fremden meist für ehrenvoll gehalten.

ri s. eineu guten Aufsatz in der „North British Review", 1867 p. 395. vgl. auch W. Bagehot's Abhandlungen über die Bedeutung des Gehorsams und des Zusammenhaltens für den Urmenschen in „The Fortnightly Review" 1867, p. 529 und 1868, p. 457 u. s. w.

** Die ausführlichste Erörterung dieses Punktes, welche ich gefunden habe, findet sich bei Gerland, Ueber das Aussterben der Naturvölker. 1868. Ich werde aber auf den Kindesmord in einem späteren Capitel zurückzukommen haben.

'" s. die sehr interessante Diseussion über den Selbstmord in Lecky's Hi-story of European Morals. Vol. I. 1869, p. 223.

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Cstp. 3.                   Sociale Tugenden anfangs allein geschätzt.                        81

Die grosse Sünde der Sclaverei ist fast allgemein verbreitet gewesen uud oft sind die Sclaven in einer infamen Weise behandelt worden. Da Barbaren auf die Meinung ihrer Frauen gar nichts geben, werden die Weiber gewöhnlich wie Sclaven behandelt. Die meisten Wilden sind für die Leiden Fremder völlig indifferent oder ergötzen sich selbst an ihnen, wenn sie dieselben sehen. Es ist bekannt, dass die Frauen und Kinder der nordamerikanischen Indianer bei den Martern ihrer Feinde mithelfen. Einige Wilde haben schaudererregende Freude an der Grausamkeit mit Thieren 26 und menschliches Rühren mit diesen ist eine bei ihnen unbekannte Tugend. Nichtsdestoweniger finden sich Gefühle der Sympathie und des Wohlwollens, besonders während Krankheiten, zwischen den Gliedern eines und desselben Stammes gewöhnlich und erstrecken sich zuweilen auch über die Grenzen des Stammes hinaus. Mungo Park's rührende Erzählung von der Freundlichkeit einer Negerin aus dem Innern Afrika's gegen ihn ist bekannt. Es hissen sich viele Fälle edler Treue von Wilden gegen einander, aber nicht gegen Fremde anführen; die gewöhnliche Erfahrung rechtfertigt den Grundsatz des Spaniers: „Traue niemals, niemals einem Indianer." Treue kann nicht ohne Wahrheit bestehen, und diese fundamentale Tugend ist nicht selten bei den Gliedern eines Stammes unter einander zu finden: so hörte Mungo Park, dass die Negerin ihre Kinder lehrte, die Wahrheit zu lieben. Dies ist ferner eine von den Tugenden, welche so tief in die Seele sich einwurzeln, dass sie zuweilen von Wilden gegen Fremde, selbst unter grossen Gefahren, ausgeübt worden; aber den Feind zu belügen, ist selten für eine Sünde gehalten worden, wie die Geschichte der modernen Diplomatik deutlich zeigt. Sobald ein Stamm einen anerkannten Führer hat, wird Ungehorsam zum Verbrechen, und selbst kriechendes Unterordnen wird als geheiligte Tugend angesehen.

Wie in Zeiten der Rohheit kein Mensch seinem Stamme nützlich sein oder treu bleiben kann ohne Muth, so ist auch diese Eigenschaft früher allgemein im höchsten Ansehen gehalten worden; und obgleich in civilisirten Ländern ein guter, aber furchtsamer Mensch der Gesellschaft viel nützlicher sein kann, als ein tapferer, so können wir uns doch des Gefühls nicht erwehren, den Letzteren höher als den Feigling zu schätzen, mag Letzterer auch ein durchaus wohlwollender Mensch sein. Auf der andern Seite ist Klugheit, welche die Wohlfahrt Anderer nicht berührt,

26 s. z. B. Hamilton's Erzählung von den Kaffern: Anthropological Review. 1870, p. XV.

Darwin, Abstammung. I, Zwrite Auflage.                                                     6

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Geisteskräfte.

I. Theil.

wenn sie auch au sich eine sehr nützliche Tugend ist, niemals sehr hoch geschätzt worden. Da Niemand die für die Wohlfahrt des Stammes notwendigen Tugenden ohne Selbstaufopferung, Selbstbeherrschung und Ausdauer üben kann, so sind diese Eigenschaften zu allen Zeiten, und zwar äusserst gerechter Weise, hochgeschätzt worden. Der amerikanische Wilde unterwirft sich freiwillig ohne Murren den schrecklichsten Qualen, um seine Tapferkeit und seinen Muth zu beweisen und zu kräftigen, und wir müssen ihn unwillkürlich bewundern, wie selbst einen indischen Fakir, welcher in Folge eines närrischen religiösen Motivs an einem in sein Fleisch gestossenen Haken in der Luft hängt.

Die andern auf das Individuum selbst Bezug habenden Tugenden, welche nicht augenfällig die Wohlfahrt des Stammes berühren, wenn sie es auch in der That wohl thun können, sind von Wilden nie geschätzt worden, trotzdem sie jetzt von civilisirten Nationen hoch anerkannt werden. Die grösste Unmässigkeit ist für Wilde kein Vorwurf; die ungeheure Zügellosigkeit derselben, ihrer unnatürlichen Veibrechen gar nicht zu gedenken, ist etwas Staunenerregendes 27. Sobald indess die Ehe, mag sie Polygamie oder Monogamie sein, gebräuchlich wird, führt die Eifersucht auch zur Entwickelung der weiblichen Tugend, und da diese dann geehrt wird, trägt sie auch dazu bei, sich auf unver-heirathetc Frauen zu verbreiten. Wie lange es dauert, ehe sie sich auch auf das männliche Geschlecht verbreitet, sehen wir bis auf den heutigen Tag. Keuschheit erfordert vor allen Dingen Selbstbeherrschung, sie ist dalier schon seit einer sehr frühen Zeit in der moralischen Geschichte civilisirter Völker geehrt worden. Als eine Folge hiervon ist der sinnlose Gebrauch des Cölibats seit einer sehr frühen Zeit als Tugend betrachtet worden 28. Die Verabscheuung der Unzüchtigkeit, welche uns so natürlich erscheint, dass man diesen Abscheu für angeboren halten könnte, und welcher eine so wirksame Hülfe zur Keuschheit ist, ist eine moderne Tugend, welche ausschliesslich, wie Sir G. Staunton bemerkt 29, dem civilisirten Leben angehört. Dies wird durch die religiösen Gebräuche verschiedener Nationen des Alterthums durch die Pompejanischen Wandgemälde und durch die Gebräuche vieler Wilden bewiesen.

'" Mr. M'Leunan hat eine gute Sammlung von Thatsachen über diesen Ge genstand gegeben in: Primitive Marriage, 1865, p. 170.

28  Lecky, Htstory of European Morals. Vol. I. 1869, p. 109.

29  Enibassy to China. Vol. IL, p. 343.

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Cap. 3.

Entwickelung der Moralität.

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Wir haben nun gesehen, dass Handlungen von Wilden für gut oder schlecht gehalten werden und wahrscheinlich auch von dem Urmenschen so betrachtet wurden, nur insofern sie in einer auffallenden Weise die Wohlfahrt des Stammes, nicht die der Art, ebensowenig wie die dos Menschen als eines individuellen Mitglieds des Stammes betreffen. Diese Folgerung stimmt sehr gut mit dem Glauben überein, dass das sogenannte moralische Gefühl ursprünglich den socialen Instincten entstammte; denn beide beziehen sich zunächst ausschliesslich auf die Gesellschaft. Die hauptsächlichsten Ursachen der niedrigeren Moralität Wilder, wenn sie nach unserem Maassstab beurtheilt wird, sind erstens die Beschränkung der Sympathie auf denselben Stamm; zweitens unzureichendes Vermögen des Nachdenkens, so dass die Beziehungen vieler Tugenden, besonders der das Individuum betreffenden, zu der allgemeinen Wohlfahrt des Stammes nicht erkannt werden. So erkennen z. B. Wilde die mannichfachen Uebel nicht, welche einem Mangel an Keuschheit, Mässigung u. s. w. folgen. Und drittens ist als Ursache der'niederen Moralität Wilder die schwache Entwickelung der Selbstbeherrschung zu nennen; denn dieses Vermögen ist noch nicht durch lange fortgesetzte, vielleicht vererbte Gewohnheit, durch Unterricht und Religion gekräftigt worden.

Ich bin auf die eben erwähnten Einzelnheiten in Bezug auf die Immoralität der Wilden 30 eingegangen, weil einige Scliriftsteller neuerer Zeit eine sehr hohe Meinung von der moralischen Natur derselben geäussert haben oder die meisten ihrer Verbrechen einem unverstandenen Wohlwollen zugeschrieben liaben S1. Diese Schriftsteller scheinen ihre Folgerungen darauf zu gründen, dass die Wilden, wie sie es unzweifelhaft und oft in einem sehr hohen Grade tliun, diejenigen Tugenden besitzen, welche für die Existenz einer Stammesgemeinschaft von Nutzen oder selbst nothwendig sind.

Schlussbemerkungen. — Die Philosophen der derivativen32 Schule der Moralisten nahmen früher an, dass der Grad der Moralität in einer Art von Selbstsucht läge, neuerdings aber, dass er in „dem

30  Zahlreiche Belege über denselben Gegenstand findet man im VII. Capitel von Sir J. Lubbock's Origin of Civilisation. 1870.

31  z. B. Lecky, History of European Morals. Vol. I. p. 124.

32  Dieser Ausdruck wird in einem guten Artikel in der Westminster Review, Oct. 1869, p. 493 gebraucht. Ucber das Princip des grössten Glücks s. J. S. Mill, Utilitarianisni. p. 17.

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K4

Geisteskräfte.

I. Theil.

„Princip des grössten Glücks" zu finden sei. Nach den oben angegebenen Gesichtspunkten ist das moralische Gefühl dem Grunde nach identisch mit den socialen Instincten; und was die niederen Tliiere betrifft, so würde es absurd sein, hier zu sagen, dass die Instmete aus Selbstsucht oder zum Glücke der Gesellschaft entwickelt worden seien. Sicher sind sie indessen für das allgemeine Beste der Gesellschaft entwickelt worden. Der Ausdruck „ allgemeines Beste" kann definirt werden als die Mittel bezeichnend, durch welche die grösstmögliche Zahl von Individuen in voller Kraft und Gesundheit mit allen ihren Kräften vollkommen, und zwar unter den Lebensbedingungen, denen sie ausgesetzt sind, erzogen werden kann. Da sich ohne Zweifel die socialen Instincte Beider, sowohl des Menschen als der niederen Thiere, in ein und derselben Stufenreihe entwickelt haben, so würde es rathsam sein, wenn es ausführbar wäre, dieselbe Definition für beide Fälle zu brauchen und als Prüfstein der Moralität das allgemeine Beste oder die Wohlfahrt der Gesellschaft zu gebrauchen im Vorzug gegen das allgemeine Glück; doch dürfte diese Definition vielleicht eine Einschränkung wegen der politischen Moral erheischen.

Wenn ein Mensch sein Leben wagt, um das eines Mitgeschöpfes zu retten, so scheint es passender, hier zu sagen, dass er für das allgemeine Beste oder die allgemeine Wohlfahrt handelt, als zu sagen, dass er es für das allgemeine Glück der Menschheit thue. Ohne Zweifel fallen die Wohlfahrt und das Glück1 des Individuums gewöhnlich zusammen, und ein zufriedener glücklicher Stamm wird besser gedeihen als einer, welcher unzufrieden und unglücklich ist. Wir haben gesehen, dass auf einer frühen Periode der Geschichte der Menschheit die ausgesprochenen Wünsche der Gesellschaft nothwendig in hohem Grade das Benehmen jedes einzelnen Mitglieds beeinnusst haben werden; und da alle nach Glück streben, so wird das Princip des grössten Glücks ein sehr bedeutungsvoller seeuudärer Führer und ein wichtiges Ziel geworden sein; denn als primärer Antrieb und Führer werden immer die socialen Instincte mit Einschluss der Sympathie dienen. Hierdurch wird der Vorwurf, dass man den Grund des edelsten Theils unserer Natur in das niedere Princip der Selbstsucht legt, beseitigt, man müsste denn in der That die Genugthuung, welche jedes Thier fühlt, wenn es seinen eigenen Instincten folgt und das "Unbefriedigtsem, welches dasselbe fühlt, sobald es daran gehindert wird, selbstisch nennen.

Der Ausdruck der Wünsche und des Urtheils der Glieder einer

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Cap. 3.                              Entwickelnng der Moralität.                                    85

und derselben Gemeinschaft, anfangs mündlich, später durch Schriftsprache, dient, wie eben bemerkt wurde, als eine sehr bedeutungsvolle secundäre Richtschnur des Benehmens, meist die socialen Instincte unterstützend, aber zuweilen auch in Opposition mit ihnen. Diese letztere Thatsache wird durch das Gesetz der Ehre sehr wohl erläutert, d.h. das Gesetz der Meinung von Unseresgleichen und nicht aller unserer. Landsleute. Ein Verstoss gegen dieses Gesetz, — selbst wenn anerkannt werden muss, dass der Verstoss in strenger Uebereinstimmung mit der wirklichen Moral ist —, hat manchem Mann mehr Gewissensbisse verursacht, als ein wirkliches Verbrechen. Wir erkennen denselben Einfluss wieder in dem brennenden Gefühl der Scham, welches die meisten von uns selbst nach Verlauf von Jahren gefühlt haben, wenn sie irgend einen zufälligen Verstoss gegen * eine unbedeutende, wenn mir einmal feststehende Regel der Etikette sich in's Gedächtniss zurückrufen. Das Urtheil der ganzen Gemeinschaft wird durch eine gewisse rohe Erfahrung von Dem bestimmt werden, was auf die Länge der Zeit für alle Mitglieder das Beste ist. Dies Urtheil wird aber nicht selten in Folge von Ungewissheit oder von einem schwachen Vermögen des Nachdenkens fehlen. Daher sind die merkwürdigsten Gebräuche und Formen des Aberglaubens im vollen Gegensatz zur wahren "Wohlfahrt und Glückseligkeit der Menschheit durch die ganze Welt so übermächtig geworden. Wir sehen dies in dem Entsetzen, welches ein Hindu fühlt, der seine Kaste verlässt, in der Scham einer Muhamedanerin, wenn sie ihr Gesicht zeigt, und in unzähligen anderen Beispielen. Es dürfte schwer sein zwischen den Gewissensbissen, die ein Hindu fühlt, der unreine Nahrung gegessen hat, und denjenigen zu unterscheiden, welche nach dem Begehen eines Diebstahls gefühlt werden; die ersteren dürften aber wahrscheinlich die härteren sein.

Auf welche Weise so viele absurde Gesetze des Benehmens, ebenso wie so viele absurde religiöse Glaubensansichten entstanden sind, wissen wir nicht, ebensowenig woher es kommt, dass sie in allen Theilen der Welt sich dem menschlichen Geist so tief eingeprägt haben. Es ist aber der Bemerkung werth, dass ein beständig während der früheren Lebensjahre eingeprägter Glaube, und zwar so lange das Gehirn Eindrücken leicht zugänglich ist, fast die Natur eines Instincts anzunehmen scheint: und das eigentliche Wesen eines Instincts liegt ja darin, dass man ihm unabhängig vom Nachdenken folgt. Ebensowenig können wir sagen, warum gewisse bewundernswerthe Tugenden, wie die Wahr-

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I. Theil.

heitsliebe, von einigen wilden Stämmen viel höher anerkannt werden als von andern 33, und ferner warum ähnliche Verschiedenheiten selbst unter civilisirten Nationen bestehen. Da wir wissen, wie stark viele fremdartige Gebräuche und Aberglauben fixirt worden sind, brauchen wir uns darüber nicht zu verwundern, da die auf das Individuum Bezug habenden Tugenden uns jetzt in einem Grade natürlich erscheinen (da sie in der That auf Nachdenken beruhen), dass man sie für eingeboren hält, trotzdem sie vom Menschen in seinem frühesten Zustand nicht geschätzt wurden.

Trotz vieler Zweifelsquellen kann der Mensch meistens und zwar leicht, zwischen den höheren und niederen moralischen Kegeln unter- . scheiden. Die höheren gründen sich auf die socialen Tnstincte und beziehen sich auf die Wohlfahrt Anderer, sie beruhen auf der Billigung unserer Mitmenschen und auf Nachdenken. Die niederen Regeln, trotzdem manche von ihnen, wenn sie Selbstaufopferung mit im Gefolge haben, kaum den Namen niederer verdienen, beziehen sich hauptsächlich auf das eigene Selbst und verdanken ihren Ursprung der öffentlichen Meinung, sobald diese durch Erfahrung und Cnltur gereift ist; denn sie werden von rohen Stämmen nicht befolgt.

Wenn der Mensch in der Cnltur fortschreitet und kleinere Stämme zu grösseren Gemeinschaften vereinigt werden, so wird das einfachste Nachdenken jedem Individuum sagen, dass es seine socialen Instincte und Sympathien auf alle Glieder derselben Nation auszudehnen hat, selbst wenn sie ihm persönlich unbekannt sind. Ist dieser Punkt einmal erreicht, so besteht dann nur noch eine künstliche Grenze, welche ihn abhält, seine Sympathien auf alle Menschen aller Nationen und Rassen auszudehnen. In der That, wenn gewisse Mensehen durch grosse Verschiedenheiten im Aeussern oder in der Lebensweise von ihm getrennt sind, so dauert- es. wie uns unglücklicherweise die Erfahrung lehrt, lange, ehe er sie als seine Mitgeschöpfe betrachtet. Sympathie über die Grenzen der Menschheit hinaus, d. h. Humanität gegen die niederen Thiere scheint eine der spätesten moralischen Erwerbungen zu sein. Wilde besitzen dieses Gefühl, wie es scheint, nicht, mit Ausnahme der Humanität gegen ihre Schoossthiere. Wie wenig die alten Römer dasselbe kannten, zeigt sich in ihren abstossenden Gladiatorenkämpfen. Die blosse Idee

33 Gute Beispiele theilt Mr. Wallace mit in „Scientific Opinion", Sep. 15. 18ß9 und ausführlicher in seinen Coutributions to the Tlieory of Nötural Selcc-tion. 1870, p. 353.

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Cap. 3.                             Entwickelung der Moralität.                                    87

der Humanität war, soviel ich beochten konnte, den meisten Gauchos der Pampas neu. Diese Tugend, eine der edelsten, welche dem Menschen eigen ist, scheint als natürliche Folge des Umstands zu entstehen, dass unsere Sympathien immer zarter und weiter ausgedehnt werden, bis sie endlich auf alle fühlenden Wesen sich erstrecken. Sobald diese Tugend von einigen wenigen Menschen geehrt und ausgeübt wird, verbreitet sie sich durch Unterricht und Beispiel auf die Jugend und weiter eventuell auch durch die öffentliche Meinung,

Die höchste Stufe der moralischen Cultur, zu der wir gelangen können, ist die, wenn wir erkennen, dass wir unsere Gedanken contro-liren sollen und „selbst in unsern innersten Gedanken nicht noch einmal die Sünden nachdenken dürfen, welche uns die Vergangenheit so „ angenehm machten"21. Was nur immer irgend eine schlechte Handlung der Seele vertraut macht, macht auch ihre Ausführung um so vieles leichter, wie Marc Aueel schon vor langer Zeit sagte: „so wie deine .gewöhnlichen Gedanken sind, wird auch der Character deiner Seele sein; „denn die Seele ist von den Gedanken gefärbt" 35.

Unser grosser Philosoph Herbert Spencer hat vor Kurzem seine Ansichten über das moralische Gefühl ausgesprochen. Er sagt36: „ich -glaube, dass die Erfahrungen der Nützlichkeit, welche durch alle vergangenen Generationen in der menschlichen Kasse organisirt und befestigt „worden sind, entsprechende Modificationen hervorgebracht haben, welche .in Folge fortgesetzter Ueberlieferung und Anhäufung zu gewissen Fähig-„ keiten moralischer Intuition in uns geworden sind, — gewisse Erregungen entsprechen dem rechten und unrechten Betragen, welche keine „zu Tage tretende Grundlage in den individuellen Erfahrungen der Nützlichkeit haben." Wie mir scheint, gibt es nicht die geringste in der Sache liegende Unwahrscheinlichkeit für die Annahme, dass tugendhafte Neigungen nicht mehr oder weniger stark vererbt würden; denn — um hier nicht die verschiedenen Dispositionen und Gewohnheiten zu erwähnen, welche viele unserer domesticirten Thiere überliefert haben. — ich habe von Fällen gehört, in welchen eine Sucht zu stehlen und eine Neigung zu lügen durch Familien selbst höherer Stände durchgieng; und da das Stehlen ein so seltenes Verbrechen in den wohlhabenden Classen ist, so können

34  Tennyson, Idylls of the King, p. 244.

35  Betrachtungen des Kaisers M. Aurelius Antonius. Englische Ueber-setzung, 2. Ausg. 1869, p. 112. Marc Aurel war 121 geboren.

16 Brief an Mill in Bain's Mental aiul Moral Science. 18GS, p. 722.

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Geisteskräfte.

I. Theil.

wie die in zwei oder drei Mitgliedern derselben Familie auftretende Neigung nicht durch eine zufällige Coincidenz erklären. Werden schlechte Neigungen überliefert, so ist es wahrscheinlich, dass auch gute in gleicher Weise vererbt werden. Ausgenommen das Princip der Vererbung moralischer Neigungen haben wir kein Mittel, die Verschiedenheiten zu erklären, welche, wie man annimmt, in dieser Beziehung zwischen den verschiedenen Menschenrassen existiren. Indessen haben wir bis jetzt kaum hinreichendes Beweismaterial für diesen Punkt.

Selbst die theilwoise Vererbung tugendhafter Neigungen würde eine unendliche Unterstützung für den primären Antrieb sein, welcher direct aus den socialen Instincten und indirect aus der Gutheissung unserer Mitmenschen entspringt. Nehmen wir für einen Augenblick an, dass tugendhafte Neigungen vererbt werden, so erscheint es wenigstens in solchen Fällen, wie Keuschheit, Massigkeit, Humanität gegen Tliiere u. s. w. wahrscheinlich, dass sie der geistigen Organisation sich zuerst durch Gewohnheit, Unterricht und Beispiel, mehrere Generationen hindurch in derselben Familie fortgesetzt, einprägten und nur in einem völlig untergeordneten Grade, wenn überhaupt, dadurch, dass diejenigen Individuen, welche solche Tugenden besassen, in dem Kampf um's Dasein am besten fortkamen. Die hauptsächlichste Quelle meines Zweifels mit Rücksicht auf irgend eine derartige Vererbung liegt in jenen sinnlosen Gebräuchen, abergläubischen Formen und Geschmacksrichtungen, wie das Entsetzen eines Hindu vor unreiner Nahrung, welche doch nach demselben Princip vererbt werden mnssten. Obschon dies an sich vielleicht nicht weniger wahrscheinlich ist, als dass Thiere durch Vererbung den Geschmack für gewisse Arten von Nahrung oder die Furcht vor gewissen Feinden erlangen, so ist mir doch kein Zeugniss vorgekommen zur Unterstützung der Annahme, dass auch abergläubische Gebräuche und sinnlose Gewohnheiten vererbt würden.

Endlich werden die socialen Instincte, welche ohne Zweifel im Menschen ebenso wie bei den niederen Thioren zum Besten der ganzen Gemeinschaft entstanden sind, von Anfang an den Wunsch, seinen Genossen zu helfen, und ein gewisses Gefühl der Sympathie in ihm angeregt haben. Derartige Antriebe werden ihm in einer sehr frühen Periode als ein roher Maassstab von Hecht und Unrecht gedient haben. Aber in dem Maasse, als der Mensch nach und nach an intellectueller Kraft zunahm und in den Stand gesetzt wurde, die weiter ab liegenden

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Cap. 3.                             Entwickelting der Moralität.                                    89

Folgen seiner Handlungen zu fibersehen, als er hinreichende Kenntnisse erlangt hatte, verderbliche Gebräuche und Aberglauben zu verwerfen, als er, je länger desto mehr, nicht bloss die Wohlfahrt, sondern auch das Glück seiner Mitmenschen in's Auge fasste, als aus Gewohnheit, einer Folge wohlthätiger Erfahrung, wohlthätigen Unterrichts und Beispiels, seine Sympathien zarter und weiter ausgedehnt wurden, so dass sie sich auf alle Menschen aller Kassen, auf die schwachen, gebrechlichen und andern unnützen Glieder der Gesellschaft erstreckten, endlich sogar auf die niederen Thiere, — in dem Maasse wird auch der Maassstab seiner Moralität höher und höher gestiegen sein. Und die Moralisten der derivativen Schule und auch einige Intuitionisten geben zu, 'dass der Maassstab der Moralität seit einer frühen Periode der Geschichte der Menschheit ein höherer geworden ist37.

Da man zuweilen sieht, dass zwischen verschiedenen Instincten der niederen Thiere ein Kampf besteht, so ist es nicht überraschend, dass auch beim Menschen ein Kampf zwischen seinen socialen Instincten, mit den davon abgeleiteten Tilgenden, und seinen niederen, wenn auch im Augenblick stärkeren, Antrieben und Begierden sich erhebt. Dies ist, wie Mr. Galton 38 bemerkt hat, um so weniger überraschend, als der Mensch sich aus dem Zustand der Barbarei innerhalb einer ver-hältnissmässig neueren Zeit erst erhoben hat. Haben wir irgend einer "Versuchung nachgegeben, so empfinden wir ein Gefühl des Unbcfriedigt-seins analog dem, welches in Folge anderer nicht befriedigter Instincte empfunden wird, und in diesem Falle nennen wir es Gewissen; denn wir können nicht verhindern, das? vergangene Bilder und Eindrücke beständig durch unsere Seele ziehen, und diese vergleichen wir in ihrem abgeschwächten Zustande mit den beständig gegenwärtigen socialen Instincten oder Gewohnheiten, welche wir in früher Jugend erlangt und durch unser gauzes Leben gekräftigt haben, so dass sie zuletzt fast so stark wie Instincte geworden sind. Blicken wir auf spätere Generationen, so haben wir keine Veranlassung zu befürchten, dass die socialen

" Ein Schriftsteller, welcher der Bildung eines gesunden Urtheils wohl fähig ist, drückt sich in der North'British Review, July 18G9, p. 531 sehr entschieden in diesem Sinne aus. Mr. Lecky scheint (Ilistory of Morals. Vol. I, p. 143) in gewissem Maasse einzustimmen.

38 s. sein merkwürdiges Buch „On Ilereditary Genius." 1SG9, p. 349. Der Herzog von Argyll gilit in seinem: Primeval Man, 1869. p. IRR einige gute Bemerkungen über den in der Natur des Menschen auftretenden Kampf zwischen Recht und Unrecht.

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Geisteskräfte.

I. Theil.

Instmete schwächer werden würden, und wir können wohl erwarten, dass tugendhafte Gewohnheiten stärker und vielleicht durch Vererbung fixirt werden. In diesem Falle wird der Kampf zwischen unsern höheren und niederen Antrieben weniger hart sein und die Tugend wird triumphiren.

Zusammenfassung der letzten beiden Capitel. Es lässt sich nicht zweifeln, dass die Verschiedenheit zwischen der Seele des niedrigsten Menschen und der des höchsten Thieres ungeheuer ist. Wenn ein anthropomorpher Affe leidenschaftslos seinen eigenen Zustand beurtheilen könnte, so würde er zugeben, dass, obgleich er einen kunstvollen Plan sich ausdenken könnte, einen Garten zu plündern, obgleich er Steine zum Kämpfen oder zum Aufbrechen von Nüssen benutzen könnte, doch der Gedanke, einen Stein zu einem Werkzeug umzuformen, völlig über seinen Horizont gienge. Er würde ferner zugeben, dass er noch weniger im Stande wäre, einen Zug metaphysischen Nachdenkens zu verfolgen'oder ein mathematisches Problem zu lösen oder über Gott zu reflectiren oder eine grosse Naturscene zu bewundern. Einige Affen würden indess wahrscheinlich erklären, dass sie die Schönheit der farbigen Haut und des Haarkleides ihrer Eidgenossen bewundern könnten und wirklich bewundern; sie würden zugeben, dass ihnen, obschon sie den andern Affen durch Ausrufe einige ihrer Wahrnehmungen und einfacheren Bedürfnisse verständlich machen könnten, doch die Idee, bestimmte Gedanken durch bestimmte Laute auszudrücken, niemals in den Sinn gekommen sei. Sie können behaupten, dass sie bereit wären, ihren Genossen in derselben Heerde auf viele Weisen zu helfen, ihr Leben für sie zu wagen und für ihre Waisen zu sorgen; sie würden aber genöthigt sein, anzuerkennen, dass eine interesselose Liebe für alle lebenden Geschöpfe, dieses edelste Attribut des Menschen, völlig über ihre Fassungskraft hinan sgienge.

So gross nun auch nichtsdestoweniger die Verschiedenheit an Geist zwischen dem Menschen und den höheren Thieren sein mag, sie ist sicher nur eine Verschiedenheit des Grads und nicht der Art. Wir haben gesehen, dass die Empfindungen und Eindrücke, die verschiedenen Erregungen und Fähigkeiten, wie Liebe, Gedächtniss, Aufmerksamkeit, Neugierde, Nachahmung, Verstand u. s. w., deren sich der Mensch rühmt, in einem beginnenden oder zuweilen selbst in einem gut entwickelten Zustand bei den niederen Thieren gefunden werden. Sie sind

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Cap. 2.                 Zusammenfassung der letzten beulen Capitel.                       91

auch in-einem gewissen Grade der erblichen Veredelung fähig, wie wir an dem domesticirten Hund im Vergleich mit dem Wolf oder Schakal sehen. Wenn behauptet wird, dass gewisse Fähigkeiten, wie Sclbstbe-wnsstsein, Äbstraction u. s. w. dem Menschen eigenthümlich sind, so kann es wohl der Fall sein, dass diese die begleitenden Resultate anderer weit fortgeschrittener intellectueller Fähigkeiten sind; und diese wiederum sind hauptsächlich das Resultat des fortgesetzten Gebrauchs einer höchst entwickelten Sprache. In welcher Art entwickelt sich bei dem neugeborenen Kinde das Vermögen der Äbstraction, in welchem Alter wird das Kind selbstbewnsst und reflectirt über seine eigene Existenz? Wir können hierauf nicht antworten, auch können wir eine Antwort nicht ertheilen auf die gleiche Frage mit Bezug auf die aufsteigende Reihe organischer Wesen. Das halb Künstliche und halb In-stinctivc der Sprache trägt noch immer den Stempel ihrer allmählichen Entwickelung an sich. Der veredelnde Glaube an Gott ist den Menschen nicht allgemein eigen und der Glaube an thätige spirituelle Kräfte folgt naturgemäss aus seinen andern geistigen Kräften. Das moralische Gefühl bietet vielleicht die beste und höchste Unterscheidung zwischen dem Menschen und den niederen Thieren dar; doch brauche ich kaum etwas hierüber zu sagen, da ich erst vor kurzem zu zeigen versucht habe, dass die socialen Instincte — das wichtigste Princip der moralischen Constitution des Menschen39 — mit der Unterstützung der thätigen intellectuellen Kräfte und der Wirkungen der Gewohnheit naturgemäss zu der goldenen Eegel führen; „was Ihr wollt, dass man „Euch thuc, das thut auch Andern"; und dies ist die Grundlage der Moralität.

In einem späteren Capitel werde ich einige Bemerkungen über die wahrscheinlichen Stufen und Mittel machen, durch welche die verschiedenen geistigen und moralischen Fähigkeiten des Menschen allmählich weiter entwickelt worden sind. Dass diese Entwickelung wenigstens möglich ist, dürfte nicht zu läugnen sein, wenn wir täglich eine solche an jedem Kinde beobachten und wenn wir eine vollständige Stufenreihe von dem geistigen Zustand eines völligen Tdioten, noch niedriger als der des niedrigsten Thieres, bis zu dem Geist eines Newton verfolgen können.

M Betrachtungen des Marc Aurel a. a. 0. p. 130.

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Viertes Capitel.

Ueber die Art der Eutwickehmg des 3Ieuschen ans einer niederen Form.

Variabilität des Körpers und Geistes beim Menschen. — Vererbung. — Ursachen der Variabilität. — Gesetze der Abänderung sind dieselben beim Menschen und den niederen Thieren. — Directe Wirkung der Lebensbedingungen. — Wirkungen des vermehrten Gebrauchs und des Nichtgebrauchs von Theilen. — Entwickelungshemimingen. — Rückschlag. — Correlative Abänderung. — Verhältniss der Zunahme. — Hindernisse der Zunahme. — Natürliche Zuchtwahl. — Der Mensch das herrschendste Thier auf der Erde. — Bedeutung seines Körperbaues. — Ursachen, welche zu seiner aufrechten Stellung führten. — Von dieser abhängende Aenderungen des Baues. — Grössenab-nahme der Eckzähne. — Grössenzuuahme und veränderte Gestalt des Schädels. — Nacktheit. — Fehlen eines Schwanzes. — Verthcidigungsloser Zustand des Menschen.

Wir haben im ersten Capitel gesehen, dass die homologe Bildung des Menschen, seine embryonale Entwickelniig und die Kndimente, welche er noch immer besitzt, sämmtlich in der deutlichsten Weise zeigen, dass er von einer niederen Form abstammt. Der Besitz erhabener geistiger Kräfte ist kein unüberwindlicher Einwand gegen diese Folgerung. Damit ein affenähnliches Geschöpf in einen Menschen umgewandelt werde, ist es nothwcndig, dass diese frühere Form ebenso wie zahlreiche spätere aufeinander folgende Verbindungsglieder sämmtlich an Geist und Körper variirt haben. Hierüber directe Zeugnisse zu erlangen ist unmöglich; wenn aber gezeigt werden kann, dass der Mensch noch jetzt variirt, dass seine Abänderungen durch dieselben allgemeinen Ursachen veranlasst werden und denselben allgemeinen Gesetzen unterliegen, wie bei den niederen Thieren, so lässt sich kaum zweifeln, dass die vorhergehenden zwischenliegenden Glieder in einer ähnlichen Weise variirten. Auch müssen auf jeder der aufeinanderfolgenden Stufen der Abstammung die Abweichungen in einer gewissen Weise sich gehäuft und fixirt haben.

Die in diesem Capitel mitzutheilendcn Thatsachen und Folgerungen

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Cap. 4.                              Variabilität des Menschen.                                       93

beziehen sich fast ausschliesslich auf die Mittel, durch welche die Umwandlung zum Menschen wahrscheinlich ausgeführt worden ist, soweit es seine körperliche Bildung betrifft. Das folgende Capitel wird der Entwicklung seiner intellectuellen und moralischen Fähigkeiten gewidmet sein. Die vorliegende Erörterung bezieht sich aber gleicherweise auf den Ursprung der verschiedenen Rassen oder Species des Menschen, welchen Ausdruck man auch vorziehen mag.

Offenbar unterliegt der Mensch gegenwärtig einer bedeutenden Variabilität. Nicht zwei Individuen einer und derselben Rasse sind völlig gleich. Wir mögen Millionen Gesichter unter einander vergleichen, jedes wird vom andern verschieden sein. Ein gleich grosser Betrag von Verschiedenheit besteht in den Proportionen und Dimensionen der verschiedenen Theile seines Körpers. Die Länge der Beine ist eine der variabelsten Punkte '. Wenn auch in einigen Theilen der Erde ein langer Schädel, in anderen Theilen ein kurzer Schädel vorherrscht, so besteht doch eine grosse Verschiedenheit der Form selbst innerhalb der Grenzen einer und derselben Rasse, wie bei den Ureinwohnern von Amerika und Australien — und die letzteren bilden wahrscheinlich dem Blut, den Gewohnheiten und der Sprache nach eine so homogene Rasse, als irgend eine existirende — und selbst bei den Einwohnern eines so beschränkten Gebiets wie der Sandwichsinseln -. Ein ausgezeichneter Zahnarzt versicherte mich, dass die Zähne fast ebenso viele Verschiedenheiten darbieten als die Gesichtszüge. Die Hauptarterien haben so häufig einen abnormen Verlauf, dass man es zu chirurgischen Zwecken für nützlich erkannt hat, aus 12000 Leichen zu berechnen, wie oft jede Verlaufsart vorkommt3. Die Muskeln sind ausserordentlich variabel; so fand Professor Turner 4, dass die des Fusses in zwei unter 50 Leichen nicht einander genau gleich sind, und bei einigen waren die Abweichungen beträchtlich. Professor Türner fügt noch hinzu, dass die Fähigkeit, die passenden Bewegungen auszuführen, in Übereinstimmung

1 Investigatious in Military and Anthropological Statistics of American Sol-diers by B. A. Gould. 1861), p. 25G.

1 In Bezug auf die Schädelform der Kingeboreuen von Nord-Amerika s. Dr. Aitken Meigs in: Proceed. Acad. Natur. Sc. Philadelphia. May 18G6. Ueber die Australier s. Huxley in Lyell, Alter des Menschengeschlechts. 1803,8.51. Ueber die Sandwichsinsulaner: Prof. J. Wyman, Observations on Crania. Boston 1808, p. 18.

3  Anatomy of the Arteries von R. Quain.

4  Transact. Roy. Soc. Edinburgh. Vol. XXIV, p. 175, 189.

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Entwickekingsweise des Menschen.

I. Tlieil.

mit den verschiedenen Abweichungen modificirt sein muss. Mr. J. AVood hat das Vorkommen von 295 Muskel-Varietäten an sechsimddreissig Leichen mitgetheilt3 und bei einer andern Reihe von derselben Zahl nicht weniger als 558 Varietäten, beide Seiten des Körpers für eine gerechnet. Bei der letzten Reihe fehlen nicht an einem Körper unter den sechsunddreissig „Abweichungen von den gültigen Beschreibungen „des Muskelsystems, welche die anatomischen Handbücher geben, vollständig." Eine einzige Leiche bot die ausserordentliche Zahl von fünfundzwanzig verschiedenen Abnormitäten dar. Derselbe Muskel variirt zuweilen in verschiedener Weise: so beschreibt Professor Macauster 6 nicht weniger als zwanzig verschiedene Abweichungen an dem PalnTaris accessorius.

Der alte berühmte Anatom Wolff 7 hebt hervor, dass die inneren Eingeweide variabler sind als die äusseren Theile: NttUa particula est, quae non aliler et aHier in aliis se habcat hominibits. Er hat selbst eine Abhandlung über die Auswahl typischer Exemplare der Eingeweide zu deren Darstellung geschrieben. Eine Erörterung über das ideal Schöne der Leber, Lungen, Nieren it. s. w., als wenn es über das des göttlich schönen menschlichen Antlitzes sei, klingt für unsere Ohren fremdartig.

Die Variabilität oder Verschiedenartigkeit der geistigen Fähigkeiten bei Menschen einer und derselben Rasse, der noch grösseren Verschiedenheiten zwischen Menschen verschiedener Rassen gar nicht zu gedenken, ist so notorisch, dass es nicht uöthig ist, hier noch ein Wort darüber zu sagen. Dasselbe gilt für die niederen Thiere, wie durch ein paar Beispiele im letzten Capitel erläutert worden ist. Alle die Leute, welche Menagerien geleitet haben, geben die Thatsache zu und wir sehen dieselbe auch deutlich bei unseren Hunden und anderen do-mesticirten Thieren. Besonders Bkehm legt auf die Thatsache Nachdruck, dass jeder individuelle Affe unter denen, welche er in Afrika in Gefangenschaft hielt, seine eignen ihm eigenthümlichen Anlagen und Launen gehabt habe; er erwähnt vorzugsweise einen Pavian wegen seiner hohen Intelligenz; und die Wärter im zoologischen Garten zeigten mir einen zu der Abtheilung der Affen der neuen Welt gehörigen, der

5  Proceed. Roy Soc. 1867, p. 544, auch 18G8, p. 483, 524; ebenso ein früherer Aufsatz 1860, n. 229.

6  Proceed. Roy. Irish Academy. Vol. X. 18C8, p. 141. 1 Acta Acad. Petropolit. 1778. Ps. II, p. 217.

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Cap. 4.                              Variabilität des Menschen.                                      95

gleichfalls wegen seiner Intelligenz merkwürdig war. Auch Rengger betont die Verschiedenheit der einzelnen geistigen Charactere bei Affen derselben Species, die er in Paraguay hielt, und fügt hinzu, dass diese Verschiedenheit zum Theil angeboren, zum Theil das Resultat der Art und Weise sei, in welcher sie. behandelt oder erzogen Wären 8.

Ich habe an einem andern Orte 9 das Thema der Vererbung so ausführlich erörtert, dass ich hier kaum irgend etwas hinzuzufügen nöthig habe. Eine grosse Anzahl von Thatsachen sind in Bezug auf die Ueberlieferung sowohl der äusserst unbedeutenden, als der bedeutungsvollsten Charactere gesammelt worden, und zwar eine viel grössere Anzahl in Bezug auf den Menschen als in Bezug auf irgend eines der niederen Thiere; doch sind in Bezug auf die letzteren die Thatsachen immer noch reichlich genug. Was z. B. die Ueberlieferung geistiger Eigenschaften betrifft, so ist dieselbe bei unseren Hunden, Pferden und anderen domesticirten Thieren offenbar. Ausser den speciellen Neigungen und Gewohnheiten werden allgemein Intelligenz, Muth, schlechtes und gutes Temperament u. s. w. sicher überliefert. In Bezug auf den Menschen sehen wir ähnliche Thatsachen fast in jeder Familie; und wir wissen jetzt durch die ausgezeichneten Arbeiten Mr. Galton's 10, dass das Genie, welches eine wunderbar complicirtc Combination höherer Fähigkeiten umfasst, zur Erblichkeit neigt; andererseits ist es nur zu gewiss, dass Verrücktheit und beschränkte geistige Kräfte gleichfalls durch ganze Familien gehen.

Was die Ursachen der Variabilität betrifft, so sind wir in allen Fällen in grosser Unwissenheit; wir sehen nur, dass dieselbe beim Menschen wie bei den niederen Thieren in irgend einer Beziehung zu den Lebensbedingungen stehen, welchen eine jede Art mehrere Generationen hinter einander ausgesetzt gewesen ist. Domesticirte Thiere variiren mehr als Thiere im Naturzustand; und dies ist offenbar Folge der verschiedenartigen und wechselnden Lebensbedingungen, denen sie ausgesetzt gewesen sind. Die verschiedenen Menschenrassen gleichen in dieser Hinsicht domesticirten Thieren, und dasselbe gilt von den Individuen einer und derselben Kasse, sobald sie einen sehr grossen Bezirk,

8  Brehm, Thierleben, Bd. 1, S. 58, 87. Rengger, Säugethiere von Paraguay. S. 57.

9  Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 2, Cap. 12.

10  Hereditary Genius; an Inquiry into its Lavs and Consenuenees. 18G9.

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96                              Entwickehmgsweise des Mensclien.                        I. Theil.

wie z. B. Amerika bewohnen. Den Einfluss verschiedenartiger Bedingungen sehen wir an den civilisirten Kationen, deren Glieder verschiedenen ^angelassen angehören und verschiedene Beschäftigungen haben, wodurch sie eine grössere Reihe von Merkmalen darbieten als die Glieder barbarischer Nationen. Doch ist andererseits die Gleichförmigkeit unter den Wilden bedeutend übertrieben worden, und in manchen Fällen kann man kaum sagen, dass sie überhaupt existire n. 'Nichtsdestoweniger ist es ein Irrthum, selbst wenn wir nur auf die Lebensbedingungen sehen, denen er unterworfen gewesen ist, vom Menschen so zu sprechen, als sei er „weit mehr domesticirt" Vl als irgend ein anderes Thier. Einige wilde Rassen, z. B. die Australier, sind keinen mannichfaltigereu Bedingungen ausgesetzt gewesen als viele Species, welche sehr weite Verbreitnngsbezirke haben. In einer andern und noch bedeutungsvolleren Beziehung weicht der Mensch sehr weit von jedem im strengen Sinn domesticirten Thier ab; die Nachzucht ist nämlich bei ihm weder durch methodische noch durch unbewusste Zuchtwahl con-trolirt worden. Keine Rasse oder grössere Zahl von Menschen ist von anderen Menschen so vollständig unterworfen worden, dass gewisse Individuen, weil sie in irgendwelcher Weise ihren Herren von grösserem Nutzen gewesen wären, erhalten und so unbewusst zur Nachzucht gelangt wären. Auch sind sicherlich nicht gewisse männliche und weibliche Individuen absichtlich ausgewählt und mit einander verbunden worden mit Ausnahme des bekannten Falles der preussischen Grenadiere, und in diesem Falle folgte, wie man von vornherein erwarten konnte, der Mensch dem Gesetze methodischer Zuchtwahl; denn es wird ausdrücklich angeführt, dass in den Dörfern, welche die Grenadiere mit ihren grossen Weibern bewohnten, viele ebenso grosse Leute aufgezogen worden sind.

Betrachten wir alle Menschenrassen als eine einzige Art bildend, so ist ihre Verbreitung ganz enorm; aber schon einzelne verschiedene Rassen, wie die Amerikaner und Polynesier, haben sehr weite Verbreitungsbezirke. Es ist ein bekanntes Gesetz, dass weitverbreitete Species

11 Mr. E ates bemerkt (Tlie Naturalist 011 the Amazons. 1863. Vol. II, p. 159) in Bezug auf tlie Indianer eines und desselben südamerikanischen Stammes: „nicht zwei von ihnen waren in der Form des Kopfes einander überhaupt ähnlich; der eine hatte ein ovales Gesicht mit schönen Zügen, ein anderer war völlig „mongolisch in der Breite und dem Vorspringen der Backen, der Oeffnung der „Nasenlöcher und der Schiefheit der Äugen."

li Blumenbach, Treatises on Anthropology, engl. Uebers. 1865, p. 205.

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Cap. 4.                                 Variabilität des Menschen.                                   97

viel variabler sind als Species mit beschränkter Verbreitung; und man kann weit zutreffender die Variabilität des Menschen mit der weitverbreiteter Species als mit der domesticirter Thierc vergleichen.

Die Variabilität scheint nicht bloss beim Menschen und den niederen Thieren durch dieselben allgemeinen Ursachen veranlasst worden zu sein, sondern in beiden Fällen werden auch dieselben Merkmale in einer streng analogen Weise afficirt. Dies ist mit so ausführlichen Details von Güdron und Quatkefaoes erwiesen worden, dass ich hier nur auf deren Werke zu verweisen habe 13. Auch die Monstrositäten, welche allmählich in unbedeutende Varietäten übergehen, sind beim Menschen und den niederen Thieren einander so ähnlich, dass für beide dieselbe Classification und dieselben Bezeichnungen gebraucht werden können, wie man aus Tsidore Gküffkoy St. Hilaire's grossem Werk sehen kann ,4. Dies ist eine nothwendige Folge davon, dass dieselben Gesetze der Veränderung durch das ganze Thierreich hindurch herrschen. In meinem Buche über das Variiren domesticirter Thiere habe ich den Versuch gemacht, in einer flüchtigen AVeise die Gesetze des Variirens unter die folgenden Punkte zu ordnen: Die directe und bestimmte Wirkung veränderter Bedingungen, wie sich dieselben bei allen oder fast allen Individuen einer und derselben Species zeigt, welche unter denselben TJmständeu in einer und derselben Art und Weise abändern; — die Wirkungen lange fortgesetzten Gebrauchs oder Nichtgebrauchs von Thei-len; — die Verwachsung homologer Theile; — die Variabilität in Mehrzahl vorhandener Theile; — Compensation des Wachsthums, doch habe ich von diesem Gesetz beim Menschen kein entscheidendes Beispiel gefunden ; — die Wirkungen des mechanischen Drucks eines Theils auf einen andern, wie der Druck des Beckens auf den Schädel des Kindes im Mutterleibe; — Entwickelungshemmungen, welche zur Verkleinerung oder Unterdrückung von Theilen führen; — das AViedererscheinen lange verlorener Charactere durch Rückschlag; — und endlich correlative Abänderung. Alle diese sogenannten Gesetze gelten in gleicher Weise für den Menschen, wie für die niederen Thiere und die meisten derselben sogar für Pflanzen. Es wäre hier überflüssig, sie alle zu erörtern l5; meh-

13  Godron, De l'espece. 1859. Tom. II. Buch 3. Qua-trefages, Umte de l'espece liumaine. 1SG1; auch die Vorlesungen «bei- Anthropologie, mitge-theilt in der Revne des Cours SScientifique. 18G(i—68.

14  Histoire gener. et partic. des Anomalies de ^Organisation. Tom. 1. 1832.

15  Ich habe diese Gesetze ausführlich in dem Buche „Ueber das Variiren

DAHWlN, Atwtaiiiiimii;,' I. Zwritt! Auflag".                                                                V

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Entwickehmgsweise des Menschen.

J. Theil.

rere sind aber für uns von solcher Bedeutung, dass sie mit ziemlicher Ausführlichkeit behandelt werden müssen.

Die directe und bestimmte Wirkung veränderter Bedingungen. — Dies ist ein äusserst verwickelter Gegenstand. Es lässt sich nicht läugnen, dass veränderte Bedingungen irgendwelchen Einfiuss und gelegentlich sogar eine beträchtliche Wirkung auf die Organismen aller Arten äussern, und es scheint zunächst wahrscheinlich, dass, wenn mau hinreichend Zeit gestattete, ein solches Resultat unabänderlich eintreten würde. Doch ist mir's nicht gelungen, deutliche Beweise zu Gunsten dieser Folgerung zu erhalten; es lassen sich auch auf der andern Seite gültige Gründe für das Gegentheil anführen, mindestens soweit die zahllosen Bildungs-Eigentlrürnlichkeiten in Betracht kommen, welche spe-ciellen Zwecken -angepasst sind. Es kann indessen kein Zweifel sein, dass veränderte Bedingungen einen fast endlosen Betrag von fluetuirender Variabiltät veranlassen, .wodurch die ganze Organisation in gewissem Grade plastisch gemacht wird.

In den Vereinigten Staaten wurde über eine Million Soldaten, welche während des letzten Kriegs dienten, gemessen und die Staaten, in denen sie geboren und erzogen waren, notirt l6. Aus dieser stau-nenswerthen Zahl von Beobachtungen ergibt sich der Beweis, dass lo-cale Einflüsse irgendwelcher Art direct auf die Grösse wirken; und Willemen ferner, „dass der Staat, in dem das Wachsthum zum grossen „Theil stattgehabt hat, und der Staat der Geburt, welcher die Abstammung ergibt, gleichfalls einen ausgesprochenen Einlluss auf die Grösse „auszuüben scheinen." So ist z. B. als feststehend ermittelt, dass „ein „Aufenthalt in den westlichen Staaten während der Jahre des Wachs-„thums eine Zunahme der Grösse hervorzubringen neigt". Andrerseits ist es sicher, dass bei Matrosen die Lebensweise das Wachsthum hemmt, wie sich „aus der bedeutenden Verschiedenheit der Grösse von Soldaten .und Matrosen im Alter von 17 und 18 Jahren ergibt". Mr. B.. A. Guold versuchte die Ursachen dieser Einflüsse festzustellen, welche

der Thiere und Pflanzen im Znstande der Domestication". Bd. 2, Cap. 22 n. 23 erörtert. J. P. Durand hat vor nicht langer Zeit (1868) eine werthvcdle Abhandlung veröffentlicht: De l'Jiifluence des Milieus etc. Er legt auf die Beschaffenheit des Bodens grosses Gewicht.

16 Investigations in Military and Anthropological Statistics by B. A. Gonld. 18G9, p. 93, 107, 126, 131, 134.

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Cap. 4.                        Wirkung veränderter Bedingungen.                               99

hiernach auf die Grösse einwirken; er gelangte indess nur zu negativen Resultaten, nämlich dass sie weder im Clima noch in der Bodenerhebung des Landes, noch selbst „in irgendwelchem controlirbaren Grade* in der.Reichlichkeit oder dem Mangel der Lebensannehmlichkeiten liegen. 'Diese letzte Schlussfolgerung steht im directen Gegensatz zu der, zu welcher Villerme nach der Statistik der Körpergrösse der in verschiedenen Theilen Frankreichs Conscribirten gelangte. Wenn wir die Verschiedenheit in der Körpergrösse zwischen den polynesischen Häuptlingen und den niedrigeren Volksstämmen derselben Inselgruppen, oder zwischen den Einwohnern der fruchtbaren vulkanischen und der niedrigen unfruchtbaren Koralleninseln desselben Oceans 17, oder ferner zwischen den Feuerländern der östlichen und westlichen Küsten ihres Heimatlandes, wo die Subsistenzmittel sehr verschieden sind, mit einander vergleichen, so ist es kaum möglich, den Schluss zu umgehen, dass bessere Nahrung und grösserer Comfort die Körpergrösse beeinflussen. Die voranstehenden Angaben zeigen aber, wie schwierig es ist, zu irgend einem präcisen Resultate zu gelangen. Dr. Beddoe hat vor Kurzem nachgewiesen, dass bei den Einwohnern Grossbritanniens der Aufenthalt in Städten und gewisse Beschäftigungen einen die Körpergrösse beeinträchtigenden Einfluss haben; und er schliesst ferner, dass das Resultat in einer gewissen Ausdehnung vererbt wird, wie es auch in den Vereinigten Staaten der Fall ist. Weiter glaubt auch Dr. Beddoe, dass, wo nur immer „eine Rasse das Maximum ihrer physischen Ent-,Wickelung erlangt, sie auch an Energie und moralischer Kraft sich am «höchsten erhebt" IS.

Ob äussere Bedingungen irgend eine andre directe Wirkung auf den Menschen äussern, ist nicht bekannt. Es hätte sich erwarten lassen, dass Verschiedenheiten des Clima einen ausgesprochenen Einfluss haben würden, da bei einer niederen Temperatur die Lungen und Nieren zu grösserer Thätigkoit und bei einer höheren Temperatur die Leber und die Haut zu einer solchen herangezogen werden !9. Man meinte

" In Bezug auf Polynesier siehe Prichard, Physical Histovy of Mankind. Vol. V. 1847, p. 145, 283; auch (iodron, De I'especo, Tom. II, p. 289. Ks be-steht auch eine merkwürdige Verschiedenheit in der äusseren Erscheinung zwischen den nahe verwandten Hindus des oberen Ganges und Bengalens, s. Kl-phinstone, History of India. Vol. I, p. 324.

,b Memoirs Anthropolog. Soc. Vol. 111. 1867—09, p. 501, 505, 5(1".

'* Dr. Brakenridge, Theory of Diathesis, in: Medical Times June, 19, und Juli, 17, 1869.

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Entwickelungsweise des Menschen.

I. Theil.

früher, dass die Hautfarbe und die Beschaffenheit des Haares durch Licht oder Wärme bestimmt würden; und obgleich sich kaum läugnen lässt, dass eine gewisse Wirkung hierdurch ausgeübt wird, so stimmen fast alle Beobachter jetzt darin überein, dass die Wirkung nur sehr.gering gewesen ist, selbst nach viele Jahre dauernder Einwirkung. Doch wird dieser Gegenstand besser dann noch erörtert werden, wenn wir von den verschiedenen -Rassen der Menschen reden. In Bezug auf unsere do-mesticirten Thiere haben wir Gründe zu der Annahme, dass Kälte und Feuchtigkeit direct das Wachsthum der Haare afficiren; für den Menschen ist mir aber kein entscheidender Beweis hierfür begegnet.

Wirkung des vermehrten Gebrauchs und Nichtgebrauchs von Theilen. — Es ist allgemein bekannt, dass der Gebrauch die Muskeln des Individuums kräftigt und dass völliger Nichtgebrauch oder die Zerstörung des betreffenden Nerven sie schwächt. Wird das Auge zerstört, so wird der Sehnerv häufig atrophisch; wenn eine Arterie unterbunden wird, so nehmen die seitlichen Blutgefässe nicht bloss an Durchmesser, sondern anch an Dicke und Kraft ihrer Wandungen zu. Hört in Folge von Krankheit die eine Niere auf zu wirken, so nimmt die andere an Grösse zu und verrichtet doppelte Arbeit. Knochen nehmen nicht bloss an Dicke, sondern auch an Länge zu, wenn sie grössere Gewichte zu tragen haben 20. Verschiedene gewohnlieitsgemäss ausgeübte Beschäftigungen bringen veränderte Verhältnisse zwischen verschiedenen Theilen des Körpers hervor. So wurde durch die Commis-sion der Vereinigten Staaten mit Bestimmtheit festgestellt21, dass die Beine der im letzten Kriege verwendeten Matrosen um 0,217 Zoll länger waren, als die der Soldaten, trotzdem dass die Matrosen im Mittel kleiner waren; dagegen waren ihre Arme um 1,09 kürzer und daher ausser Verhältniss kürzer in Bezug auf ihre geringere Grösse. Diese Kürze der Arme ist offenbar Folge ihres stärkeren Gebrauchs und ist ein ganz unerwartetes Besultat; doch benutzen Matrosen ihre Arme hauptsächlich zum Ziehen und nicht zum Tragen von Lasten. Der Umfang des Nackens und die Höhe des Spanns sind bei Matrosen grösser,

m Ich habe Gewährsmänner für diese verschiedenen Angaben angeführt in meinem „Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication." HA. 2, S. 394—307. Dr. Jäger, über das Längenwachsthum der Knochen in der Jenaischen Zeitschrift. J!d. 5, Heft 1.

21 Investigations etc. von JB. A. Gould, 1869, p. 288.

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Cap. 4.                  Vermehrter Gebrauch und Nichtgebrauch.                         101

während der Umfang der Brust, der Taille und der Hüften geringer ist als bei Soldaten.

Ob die verschiedenen hier angeführten Modifikationen erblich werden würden, wenn dieselbe Lebensweise während vieler Generationen befolgt würde, ist unbekannt, aber wahrscheinlich. Rengger 22 schreibt die dünnen Beine und die dicken Arme der Payaguas-Indianer dem Umstände zu, dass aufeinanderfolgende Generationen fast ihr ganzes Leben in Booten zugebracht haben, wobei ihre unteren Gliedmassen bewegungslos geworden sind. Andere Schriftsteller sind in Bezug auf andere analoge Fälle zu einem ähnlichen Schlüsse gelangt. Nach Cranz 23, welcher lange Zeit unter den Eskimos lebte, „glauben die Eingeborenen , dass der Scharfsinn und das Geschick zum Robbenfangen (ihre ,höchste Kunst und Tugend) erblich sind, und jedenfalls ist etwas Wah-,res hieran; denn der Sohn eines berühmten Robbenfängers wird sich „auszeichnen, auch wenn er seinen Vater in der Kindheit schon ver-,loren hat." Doch scheint in diesem Falle die geistige Anlage ebenso wie die körperliche Bildung vererbt zu sein. Es wird angeführt, dass die Hände englischer Arbeiter schon bei der Geburt grösser sind als die der besitzenden Classe24. Nach der Correlation, welche wenigstens in manchen Fällen 25 zwischen der Entwickehmg der Gliedmaassen und der Kiefer besteht, ist es möglich, dass bei den Classen, welche nicht viel mit ihren Händen und Füssen arbeiten, die Kiefer schon aus diesem Grunde an Grösse abnehmen. Dass sie allgemein bei veredelten und civilisirten Menschen kleiner sind als bei harte Arbeit verrichtenden oder Wilden, ist sicher. Doch wird, wie Mr. Herbert Spencer26 bemerkt hat, bei Wilden der bedeutendere Gebranch der Kiefer zum Kauen grober, ungekochter Nahrung in einer directen Weise auf die Kaumuskeln und auf die Knochen, an welchen diese befestigt sind, einwirken. Bei Kindern ist schon lange vor der Geburt die Haut an den Fusssohlen dicker als an irgend einem andern Theile des Körpers27; und es lässt sich kaum zweifeln, dass dies eine Folge der vererbten Wirkungen des Drucks durch eine lange Reihe von Generationen ist.

" Säugethicrc von Paraguay. 1830, S. 4.

23 History of Groenland. 1767, Vol. I, p. 230.

u Tntermarriage by Alex. Walker. 1838, p. 377.

-5 Variiren der Tbiere und Pflanzen, Bd. 1, S. 214.

M Principles of Biology. Vol. I. p. 455.

27 Paget, Lectures on Surgical Patbology. Vol. I. 1853, p. 209.

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102

P^ntwickelungsweise des Menschen.

I. Theil.

Es ist eine allgemein bekannte Thatsacke, dass Uhrmacher und Kupferstecher sehr leicht kurzsichtig werden, während Matrosen und besonders Wilde meist weitsichtig sind. Kurzsichtigkeit und Weitsichtigkeit neigen sicher zur Vererbung28. Die Inferiorität der Europäer in Bezug auf das Gesicht und die anderen Sinne im Vergleich mit Wilden ist ohne Zweifel die sich häufende und vererbte Wirkung eines viele Generationen hindurch verminderten Gebrauchs; denn Kengger führt an 29, dass er wiederholt Europäer beobachtet hat, welche unter wilden Indianern aufgezogen waren und ihr ganzes Leben dort verbracht hatten und welche nichtsdestoweniger es ihnen an Schärfe ihrer Sinne nicht gleichthun konnten. Derselbe Naturforscher macht die Bemerkung, dass die zur Aufnahme der verschiedenen Sinnesorgane am Schädel vorhandenen Höhlen bei den amerikanischen Ureinwohnern grösser sind als bei Europäern; und dies weist ohne Zweifel auf eine entsprechende Verschiedenheit in den Dimensionen der Organe selbst hin. Auch Blumenbach hat über die bedeutende Grösse der Nasenhöhlen in den Schädeln amerikanischer Eingeborener Bemerkungen gemacht und bringt diese Thatsaehe mit ihrem merkwürdig scharfen Geruchsinn in Beziehung. Die Mongolen der weiten Ebenen von Nordasien haben Pallas zufolge wunderbar vollkommene Sinne; und Prichard glaubt, dass die grosse Breite ihrer Schädel, von einem Backenknochen zum andern, Folge ihrer höchst entwickelten Sinnesorgane sei 30.

Die Quechua-Indianer bewohnen die Hochplateaux von Peru; und Alcide d'Orbigxy führt an31, dass sie in Folge des Umstands, dass sie beständig eine sehr verdüimto Luft einathmen, Brustkasten und Lungen von ausserordentlichen Durchmessern erlangt haben. Auch sind die Lungenzollen grösser und zahlreicher als bei Europäern. Diese Beob-

28 Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 2, S. 10.

59 Säugethiere von Paraguay. S. S, 10. Ich habe reichlich Gelegenheit gehabt, das ausserordentliche Sehvermögen der Feuerländer zu beobachten. S. auch Lawrence (Lectures on Physiology etc. 1822, p. 404) über denselben Gegenstand. Mr. G irau d-Teulon hat neuerdings (Revue des Cours scientifiques, 1870, p. 625) eine grosse und werthvolle Zahl von Beweisen gesammelt, welche zeigen, dass die Ursache der Kurzsichtigkeit „c'est le travail assiätt, de pre$.

'i0 Prichard, Physic. Hist. of Mankind (nach der Autorität von Blumenbach). Vol. I. 1851, p. 311; die Angabe von Pallas ebenda. Vol. IV. 1844, p. 407.

31 Citirt von Prichard, Researches into the phys. hist. of Mankind. Vol. V, p. 463.

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Cap. 4.                  Vermehrter Gebrauch uml Nichtgebrauch.                        103

achtungen sind in Zweifel gezogen worden; aber Dr. Forbes hat sorgfältig viele Aymaras, von einer verwandten Easse, gemessen, welche in der Höhe von zehn und fünfzehntausend Fuss leben; und er theilt mir mit; 32 dass sie von den Menschen aller andern Rassen, welche er gesellen habe, auffällig in dem Umfang und der Länge ihrer Körper abweichen. In seiner Tabelle von Maassen wird die Grösse jedes Menschen zu tausend genommen und die andern Maassangaheu auf diese Zahl bezogen. Es zeigt sich hier, dass die ausgestreckten Arme der Aymaras kürzer als die der Europäer und viel kürzer als die der Neger sind. Die Beine sind gleichfalls kürzer und sie bieten die merkwürdige Eigenthürnlichkeit dar, dass bei jedem durchgemessenen Aymaras der Oberschenkel factisch kürzer als das Schienbein ist. Im Mittel verhält sich die Länge des Oberschenkels zu der des Schienbeins wie 211 : 252, während bei zwei zu derselben Zeit gemessenen Europäern die Oberschenkel zu den Schienbeinen sich wie 244 : 230 und bei drei Negern wie 258 : 241 verhielten. Auch der Oberarm ist im Verhältnis« zum Unterarm kürzer. Diese Verkürzung des Theils der Gliedmassen , welcher dem Körper am nächsten ist, scheint mir, wie Mr. Forbes vermuthungsweise andeutet, ein Fall von Gompensation im Verhältniss zu der bedeutend vergrösserten Länge des Rumpfs zu sein. Die Aymaras bieten auch einige andre eigenthümliche Punkte in ihrem Körperbau dar, so z. B. das sehr geringe Vorspringen ihrer Fersen.

Diese Leute sind so vollständig an ihren kalten und hohen Aufenthaltsort acclimatisirt, dass sie sowohl früher, als sie von den Spaniern in die niedrigeren östlichen Ebenen hinabgeführt, als später, wo sie durch die hohen Lohnsätze versucht wurden, die Goldwäschereien aufzusuchen, eine schreckenerregende Sterblichkeitsziffer darboten. Nichtsdestoweniger fand Mr. Forbes ein paar rein im Blut erhaltene Familien, welche zwei Generationen hindurch leben geblieben waren, und machte die Beobachtung, dass sie noch immer ihre charakteristischen Eigentümlichkeiten vererbten. Aber selbst ohne Messung fiel es auf, dass diese Eigentümlichkeiten sich alle vermindert hatten, und nach der Messung zeigte sich, dass ihre Körper nicht in dem Maasse verlängert waren, wie die der Leute auf dem Hochplateau, während ihre Oberschenkel sich etwas verlängert hatten, ebenso wie ihre Schienbeine, wenn auch in geringerem Grade. Die Maassangaben selbst kann man

32 Mr. Forbes's werthvolle Arbeit ist jetzt publicirt in: Journal of the Eth-nological Soc. of London. New. Ser. Vol. II. 1870, p. 193.

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Entwiekelungsweise des Menschen.

1. Thcil.

in Mr. Forbes Abhandlung nachsehen. Nach diesen werthvollen Beobachtungen lässt sich, wie ich meine, nicht zweifeln, dass ein viele Generationen lange dauernder Aufenthalt in einem sehr hoch gelegenen Theile sowohl direct als indirect erbliche Modifikationen in den Körperproportionen herbeizuführen neigt 33.

Mag auch der Mensch während der späteren Zeiten seiner Existenz in Folge des vermehrten oder verminderten Gebrauchs von Theileu nicht sehr modificirt worden sein, so zeigen doch die hier gegebenen That-sachen, dass er die Eigenschaft, hierdurch beeinfmsst zu werden, nicht verloren hat, und wir wissen positiv, dass dasselbe Gesetz für die Thiere Gültigkeit hat. In Folge hiervon können wir schliessen, dass, als zu einer sehr frühen 'Epoche die Urerzeuger des Menschen sich in einem Uebergangsznstand befanden und sich aus Vierfüssern zu Zweifüssern umwandelten, natürliche Zuchtwahl wahrscheinlich in hohem Maasse durch die vererbten Wirkungen des vermehrten oder verminderten Gebrauchs der verschiedenen Theile des Körpers unterstützt worden sein mag.

Entwickelungshemmungeii. — Entwicklungshemmungen weichen von Wachsthumshemmungen darin ab, dass die Theile auf einem früheren Zustand stehen bleiben und nur zu wachsen fortfahren, während sie noch immer ihre frühere Form beibehalten. Verschiedene Monstrositäten fallen unter diese Kategorie und einige sind bekanntlich gelegentlich vorerbt worden, wie z. B. die Gaumenspalte. Für unsern Zweck wird es genügen, auf die Entwickelungshemmung des Gehirns bei microcephaleu Idioten hinzuweisen, wie sie Vogt in seiner grösseren Abhandlung beschrieben hat 34. Ihre Schädel sind kleiner und ihre Gehirnwindungen weniger complicirt als beim normalen Menschen. Die Stirnhöhleu oder die Vorsprünge über den Augenbrauen sind bedeutend entwickelt und die Kiefer sind prognath in einem „effrayanten" Grade, so dass diese Idioten gewissermassen den niederen Typen des Menschen ähnlich sind. Ihre Intelligenz und die meisten, ihrer geistigen Fähigkeiten sind äusserst schwach. Sie' sind nicht im Stande, die Fähigkeit der Sprache zu erlangen und sind einer fortgesetzten Aufmerksamkeit völlig unfähig, aber sehr geneigt, nachzuahmen. Sie sind kräftig und

w Dr. Wilckens (landwirtschaftliches Wochenblatt, No. 10, 1869) hat vor Kurzem eine interessante Abhandlung veröffentlicht, worin er zeigt, wie domesti-eirte Thiere, welche in bergigen Gegenden leben, einen modificii'ten Körperbau haben.

34 Memoire sur les Microcephales. 1867. p. 50, 125, 169, 171, 184—198.

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Cap. 4.                   Entwickelungshemmimgen. — Rückschlag.                        105

merkwürdig lebendig, beständig herumtanzend und springend und Grimassen schneidend. Sie kriechen oft Treppen auf allen Vieren hinauf und klettern merkwürdig gern an Möbeln oder Bäumen in die Höhe. Wir werden hierdurch an das Entzücken erinnert, mit welchem alle Knaben Bäume erklettern; und dies wiederum erinnert uns an junge Lämmer und Ziegen, welche, ursprünglich alpine Thiere, sich daran ergötzen, auf jeden Hügel, wie klein er auch sein mag, zu springen.

Rückschlag. — Viele der nun mitzutheilenden Fälle hätten unter der letzten Ueberschrift schon gegeben werden können. Sobald irgend eine Bildung in ihrer Entwickelung gehemmt ist, aber noch fortwächst, bis sie einer entsprechenden Bildung bei einem niedrigeren und erwachsenen Mitglied derselben Gruppe streng ähnlich wird, können wir sie in gewissem Sinne als einen Fall von Rückschlag betrachten. Die niederen Mitglieder einer Gruppe geben uns eine Idee, wie der gemeinsame Urerzeuger der Gruppe'wahrscheinlich gebildet war: und es ist kaum glaublich, dass ein auf einer früheren Stufe der embryonalen Entwickelung stehen gebliebener Theil im Stande sein sollte, in seinem Wachsthum so weit fortzuschreiten, dass er schliesslich seine besondere Function verrichten kann, wenn er nicht diese Fähigkeit des Fortwachsens während eines früheren Zustandes seiner Existenz, wo der ausnahmsweise oder gehemmte Bildungszustand normal war, erlangt hätte. Das einfache Gehirn eines microcephalen Idioten kann, insoweit es dem eines Affen gleicht, in diesem Sinne wohl als ein Fall von Kückschlag bezeichnet werden. Es gibt aber andere Fälle, welche noch strenger unter das vorliegende Capitel des Rückschlags gehören. Gewisse Bildungen, welche regelmässig bei den niederen Thieren der Gruppe, zu welcher der Mensch gehört, vorkommen, treten gelegentlich auch bei ihm auf, wenn sie sich auch nicht an dem normalen menschlichen Embryo vorfinden, oder sie entwickeln sich, wenn sie an dem normalen Embryo vorhanden sind, in einer abnormen Weise, obschon diese Entwickelungs-weise den niedrigeren Gliedern derselben Gruppe eigen ist. Diese Bemerkungen werden durch die folgenden Erläuterungen noch deutlicher werden.

Bei verschiedenen Säugethieren geht der Uterus allmählich ;ius der Form eines doppelten Organs mit zwei getrennten Oefthungen und zwei Canälen, wie bei den Beutelthieren, in die Form eines einzigen Organes über, welches mit Ausnahme einer kleinen inneren Falte kein weiteres

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Entwickelungsweise des Menschen.

I. Theil.

Zeichen der Verdoppelung zeigt; so bei den höheren Aft'en und dem Menschen. Die Nagethiere bieten eine vollständige Reihe von Abstufungen zwischen diesen beiden äussersten Zuständen dar. Bei allen Säugethieren entwickelt sich der Uterus aus zwei primitiven Tuben, deren untere Theile die Hörner bilden, und mit den Worten des Dr. Fahre: „der Körper des Uterus bildet sich beim Menschen durch die „ Verwachsung der beiden Hörner an ihren unteren Enden, während bei „denjenigen Thieren, bei welchen kein mittlerer Theil oder Körper exi-„stirt, die Hörner unvereint bleiben. In dem Maasse, als die Entwicke--lung des Uterus fortschreitet, werden die beiden Hörner allmählich „kürzer, bis sie zuletzt verloren oder gleichsam in den Körper des „Uterus absorbirt werden.'- Die Winkel des Uterus sind noch immer, selbst so hoch in der Stufenreihe wie bei den niederen Affen und ihren Verwandten, den Lemuren, in Hörner ausgezogen.

Nun finden sich nicht selten bei Frauen anomale Fälle vor, wo der reife Uterus mit Hörnern versehen oder theilweise in zwei Organe gespalten ist; und derartige Fälle wiederholen nach Owen die Bnt-wickelungsstufe „der allmählichen Concentration-, welche gewisse Nagethiere erreichen. Wir haben vermuthlich hier ein Beispiel einer einfachen Hemmung der embryonalen Entwickelnng vor uns mit nachfolgendem Wachsthum uud völliger fuuctioneller Entwickelung; denn beide Seiten des theilweise doppelten Uterus sind fähig, die ihm eigenen Leistungen während der Trächtigkeit zu vollziehen. In noch andern und selteneren Fällen sind zwei getrennte Uterinhöhlen gebildet, von denen jede ihre eigene Oeffnung und ihren Canal besitzt 35. Während der gewöhnlichen Entwickelung des Embryo wird kein derartiger Zustand durchlaufen und es ist schwer, wenn auch vielleicht nicht unmöglich, anzunehmen, dass die beiden einfachen kleinen primitiven Tuben (wenn der Ausdruck gestattet ist) wissen sollten, wie sie in zwei getrennte Uteri auszuwachsen haben, jeder mit einer wohlgebildeten Oeffnung und einem Canal und jeder mit zahlreichen Muskeln, Nerven, Drüsen und Gefässen versehen, wenn sie nicht früher einmal einen ähnlichen Verlauf der Entwickelung, wie bei den noch jetzt lebenden Beutelthieren, durchschritten hätten. Niemand wird behaupten mögen, dass eine so vollkommene Bildung wie der abnorme doppelte Uterus bei Frauen das

3i s. Dr. A. Farre's bekannten Artikel in der Cyclopaedia of Anatomy and Pkys. Vol. V. 18.30, p. 642. Owen, Anatomy of Vertebratcs. Vol. II. 1868, p. G87. Prof. Turner, in: Edinburgh Medioal Journal, Febr. 1865.

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Cap. 4.

Rückschlag.

107

Resultat blossen Zufalls sein könne. Aber das Princip des Rückschlags, durch welches lange verlorene latente Bildungen von Neuem in's Leben gerufen werden, mag als Führer für die volle Entwicklung des Orgaus dienen, selbst nach dem Verlauf einer enorm langen Zeit.

Professor Canestrini :'6 kommt nach Erörterung der vorstehenden und noch anderer analogen Fälle zu demselben Scbluss, wie der eben mitgetheilte. Er führt als ferneres Beispiel noch das Wangenbein an, welches bei einigen Quadrumanen und andern Säugethieren normal aus. zwei Theilen besteht. Dies ist sein Zustand im zweimonatlichen menschlichen Fötus; und so bleibt es zuweilen in Folge von Entwicklungshemmung beim erwachsenen Menschen und besonders bei den niederen prognathen Rassen. Hieraus schliesst Canestrini, dass irgend ein früherer Urerzeuger des Menschen diesen Knochen normal in zwei Theile getheilt besessen haben muss, welche später mit einander verschmolzen sind. Beim Menschen besteht das Stirnbein aus einem einzigen Stück, aber im Embryo und bei Kindern und bei fast allen niederen Thieren besteht es aus zwei durch eine deutliche Naht getrennten Stücken. Diese Naht bleibt gelegentlich mehr oder weniger deutlich beim Menschen noch nach der Reifeperiode bestehen und findet sich häufiger bei alten als bei neuen Schädeln und besonders, wie Canestrini beobachtet hat, bei den aus der Driftformation ausgegrabenen und zum braehyce-phalischen Typus gehörigen Schädeln. Auch hier gelangt er wieder zu demselben Schlnss, wie bei dem analogen Falle« vom Wangenbein. Bei diesen und andern sofort zu gebenden Beispielen scheint die Ursache des Umstandes, dass ältere Rassen niederen Thieren in gewissen Merkmalen sich häufiger annähern, als es neuere Rassen thun, die zu sein, dass die letzteren durch einen etwas grösseren Abstand in der langen Descen-denzreihe von ihren früheren halbmenschlichen Vorfahren getrennt sind.

Verschiedene andere Anomalien beim Menschen, welche den vorstehenden mehr oder weniger analog sind, sind von verschiedenen Schriftstellern 37 als Fälle von Rückschlag aufgeführt worden; doch scheinen

36 Annuario della Soc. dei Naturalisti in Modena. 1867, p. 83, Prof. Canestrini gibt Auszüge aus verschiedenen Autoren über diesen Gegenstand. Lau-rillard bemerkt, dass er in der Form, den Proportionen und der Verbindung der beiden Wangenbeine bei mehreren menschlichen Körpern und gewissen Atfeu eine vollständige Aehnlichkeit gefunden habe und dass er diese Anordnung der Theile als einen blossen Zufall nicht zu betrachten vermöge.

3' Eine ganze Reihe von Fällen hat Isid. Geoffroy St. Ililaire gegeben Hist. des Anomalies. Tom. III, p. 437.

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Eutwickelungsweise des Menschen.

I. Theil.

dieselben ziemlich zweifelhaft zu sein; denn wir müssen ausserordentlich tief in der Säugethierreihe hinabsteigen, ehe wir derartige Verhältnisse normal vorhanden finden 38.

Beim Menschen sind die Eckzähne vollständig wirkende Kauwerkzeuge; aber ihr eigentlicher Character als Eckzähne wird, wie Owen bemerkt 39 ,durch die conische Form ihrer Krone angedeutet, welche „in einer stumpfen Spitze endet, nach aussen convex, nach innen eben „oder subconvex ist und an der Basis der iirnern Fläche einen schwachen Vorsprang zeigt. Die conische Form ist am besten bei den metallischen Kassen, besonders bei den Australiern ausgedrückt. Der , Eckzahn ist tiefer und durch eine stärkere Wurzel als die Schneidezähne eingepflanzt.- Und docli dient dieser Eckzahn beim Menschen nicht mehr als eine specielle Waffe zum Zerreissen seiner Feinde oder seiner Beute; er kann daher, soweit es seine eigentliche Function be-

38  In meinem „Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domesti-cation", Bd. 2, S. 74 schrieb ich den nicht seltenen Fall überzähliger Milchdrüsen bei Frauen dem Rückschlage zu. Ich war hierzu als zu einem wahrscheinlichen Schlüsse dadurch geführt, dass die überzähligen Drüsen meist symmetrisch auf der Brust stehen, und besonders dadurch, dass in einem Falle, bei der Tochter einer Frau mit überzähligen Brustdrüsen, eine fungirende Milchdrüse in der Weichengegend der Frau auftrat. Prof. Preycr (der Kampf um's Dasein. 1869, S. 45) gibt aber an, dass mammae erraticae auch an andern Stellen beobachtet worden sind, selbst auf dem Rücken; und hierdurch ist die Kraft meines Arguments bedeutend geschwächt, wenn nicht ganz zerstört.

Mit grosser Zögerung schrieb ich in demselben Werke, Bd. 2, S. Iß die häufigen Fälle von Polydactylismus beim Menschen dem Rückschlage zu. Zum Theil wurde ich durch die Angabe Prof. Owen's, dass einige Ichthyopterygier mehr als fünf Finger haben und daher, wie ich annahm, einen ursprünglichen Zustand beibehalten haben, zu dieser Erklärung veranlasst. Nachdem ich aber den Aufsatz Prof. Gegenbaur's, der grössten Autorität in Europa über einen solchen Punkt, gelesen habe (Jenaische Zeitschrift Bd. V, Heft 3, S. 341), worin er Owen's Schlussfolgenmg bekämpft, sehe ich wohl, dass es äusserst zweifelhaft ist, ob überzählige Finger in dieser Weise erklärt werden können. Es war die That-sache, dass derartige Finger nicht bloss häufig vorkommen und streng vererbt werden, sondern auch das Vermögen haben, nach Amputation wieder zu wachsen, wie die normalen Finger der niederen Wirbclthiere, welche mich hauptsächlich zu der obigen Folgerung führte. Diese ausserordentliche Thatsache des Wieder-wachseus bleibt unerklärlich, wenn die Annahme eines Rückschlags zu der Form eines äusserst entfernten Urerzeugers verworfen werden muss. Ich kann indess Prof. Gegenbaur nicht in der Annahme folgen, dass überzählige Finger nicht durch Rückschlag erscheinen könnten, ohne dass gleichzeitig andere Theile des Skelets gemeinsam und ähnlich modificirt würden; denn es erscheinen oft einzelne Merkmale durch Rückschlag wieder.

39  Anatomy of Vertebrates. Vol. III. 1868, p. 323.

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Cap. 4.                                          Rückschlag.                                               109

trifft, als rudimentär betrachtet werden. In jeder grösseren Sammlung menschlicher Schädel können einige gefunden werden, wie Häckel 40 bemerkt, bei denen der Eckzahn beträchtlich, in derselben Weise aber in einem geringeren Grade wie bei den antliropomorphen Affen, über die andern Zähne vorspringt. In diesen Fällen bleiben zwischen den Zähnen der einen Kinnlade offene Stellen zur Aufnahme der Eckzähne, welche dem entgegengesetzten Kiefer angehören. Ein Zwischenraum dieser Art an einem Kaffernschädel, den Wagner abbildete, ist überraschend gross41. Bedenkt man, wie wenig alte Schädel im Vergleich mit neueren untersucht worden sind, so ist es eine interessante Thatsache, dass in mindestens drei Fällen die Eckzähne bedeutend vorspringen und in der Kinnlade von Naulette sind sie, wie man sagt, enorm 4'2.

Nur die Männchen der antliropomorphen Affen haben völlig entwickelte Eckzähne; aber beim weiblichen Gorilla und in" einem geringeren Grade beim weiblichen Orang springen diese Zähne beträchtlich über die andern vor; die Thatsache also, dass, wie man mir versichert hat, Frauen zuweilen beträchtlich vorspringende Eckzähne besitzen, bietet keinen ernstlichen Einwand gegen die Annahme dar, dass ihre gelegentlich bedeutende Entwickelung beim Menschen ein Fall von Rückschlag auf die Form des affcnähnlichen Urerzeugers sei. Wer die Ansicht verlacht, dass die Form seiner eigenen Eckzähne und deren gelegentliche bedeutende Entwickelung bei andern Menschen Folge des Umstands ist, dass unsere frühen Urerzeuger mit diesen furchtbaren Waffen versehen gewesen' sind, wird doch einmal die Entdeckung machen, dass er seine eigene Ahnenreihe verhöhnt hat. Denn obschon er nicht mehr diese Zähne als Waffen zu gebrauchen geneigt ist und nicht einmal die Kraft dazu hat, so wird er doch unbewusster Weise seine Fletschmuskeln (wie sie Sir C. Bell 4S nennt) zusammenziehen und dadurch jene Zähne, ebenso bereit einzugreifen, darbieten, wie ein Hund, der zum Kampfe bereit ist.

Gelegentlich entwickeln sich viele Muskeln beim Menschen, welche andern Vierhändern oder andern Säugethieren eigen sind. Professor

40  Generelle Morphologie 1866.' Bd. 2, S. CLV.

41  C. Vogt, Vorlesungen über den Menschen. 1803. Bd. 1, S. 189, 190.

*- C. Carter Blake, on a jaw from La Naulette. Anthropolog. Review. 1807, p. 295. Sohaaffhansen, ibid. 1808, p. 420. 43 The Anatomy of Expression. 1814, p. 110, 131.

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Entwickelungsweise des Menschen.

I. Theil.

Vlacovich44 untersuchte vierzig männliche Leichen und fand bei neunzehn unter ihnen einen Muskel, den er den ischiopubicus nennt; bei drei andern war ein Band vorhanden, welches diesen Muskel ersetzte, und bei den übrigen achtzehn fand sich keine Spur davon. Unter dreis-sig weiblichen Leichen war dieser Muskel auf beiden Seiten nur bei zweien entwickelt, aber bei drei andern fand sich das rudimentäre Band. Es scheint daher dieser Muskel beim männlichen Geschlecht viel häufiger zu sein als beim weiblichen, und aus dem Princip, nach welchem der Mensch von einer niederen Form abstammt, lässt sich seine Anwesenheit wohl verstehen. Denn bei mehreren niederen Tbieren ist er nachgewiesen worden und dient bei allen ausschliesslich nur den Männchen beim Reproductionsgeschäft.

Mr. J. Wood hat in einer Keilie wertlivoller Aufsätze43 eine ungeheure Anzahl von Muskel Varietäten beim Menschen ausführlich beschrieben, welche normalen Bildungen bei niederen Thiereu gleichen. Betrachtet man nur die Muskeln, welche denen gleichen, die bei nnsern nächsten Verwandten, den Vierhändern, regelmässig vorhanden sind, so sind diese schon zu zahlreich, um hier auch mir angeführt zu werden. Bei einem einzigen männlichen Leichnam, welcher eine starke körperliche Entwicklung und einen wohlgebildeten Schädel besass, wurden nicht weniger als sieben Muskelabweichungen beobachtet, welche sämmt-lich deutlich Muskeln repräseutirten, welche verschiedenen Arten von Affen eigen sind. So hatte dieser Mensch z. B. auf beiden Seiten des Halses einen echten und kräftigen Levator claviculae, so wie er sich bei allen Arten von Affen findet und von dem man sagt, dass er bei ungefähr einer unter sechzig menschlichen Leichen vorkommt46. Ferner

44 Citiit von Prof. Canestrini in dem Anmiario etc. 1867, p. 90.

4' Diese Aufsätze verdienen sämmtlich von allen denen sorgfältig studirt zu werden, welche kennen zu lernen wünschen, wie häufig unsere Muskeln variiren und wie sie bei diesen Abweichungen denen der Qnadrmnanen ähnlich werden. Die folgenden Citate beziehen sich auf die wenigen oben im Texte mitgetheilten Punkte: Proceed. Royal Soc. Vol. XIV. 18G5, p. 379—384. Vol. XV, p. 241, 242. Vol. XV. 18G7, p. 544. Vol. XVI. 1863, p. 524. Ich will hier noch hinzufügen, dass Murie und St. George Mivart in ihrer Arbeit über dieLemuriden gezeigt haben, wie ausserordentlich variabel einige Muskeln bei diesen Tbieren, den niedersten Formen der Primaten, sind (Transact. Zoolog. Soc. Vol. VII. 1869, p. 96). Auch allmähliche Abstufungen an den Muskeln, welche zu Bildungsoigenthünilichkeiten führen, die noch niedriger stehenden Thieren eigen sind, finden sich zahlreich bei den Lemuriden.

46 Prof. Macalister in: Proceed. Roy. Irish Academy. Vol. X, 1868, p. 124.

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Cap. 4.                                          Rückschlag.                                               111

hatte dieser Mensch „ einen speciellen Abdnctor des Metatarsalknochens .der fünften Zehe, einen solchen wie er nach den Demonstrationen „von Professor Huxley und Mr. Flower gleichförmig bei den höheren „und niederen Affen existirt". Die Hände und Anne des Menschen sind ausserordentlich charaeteristische Bildungen, doch sind ihre Muskeln äusserst geneigt, zu variiren, so dass sie dann den entsprechenden Muskeln bei niederen Thieren gleichen 4T. Derartige Aehnlichkeiten sind entweder vollständig und vollkommen oder unvollkommen, im letzteren Fall aber offenbar von einer Uebergangsbeschaffenheit. Gewisse Abweichungen sind häufiger beim Mann, andere häufiger bei der Frau, ohne dass wir im Stande wären, irgend einen Grund hierfür anzuführen. Nach der Beschreibung zahlreicher Fälle macht Mr. Wooti die folgende bezeichnende Bemerkung: „bemerkenswerthe Abweichungen von dem gewöhnlichen Typus der Muskelbildungen laufen in gewissen Richtungen, „welche für Andeutungen irgend eines unbekannten Factors gehalten .,werden müssen, der für eine nmfassende Kenntniss der allgemeinen „und wissenschaftlichen Anatomie von hoher Bedeutung ist" 48.

Dass dieser unbekannte Factor Rückschlag auf einen früheren Znstand der Existenz ist, kann als im höchsten Grade wahrscheinlich angenommen werden. Es ist völlig unmöglich, dass ein Mensch nur in Folge eines blossen Zufalls abnormer Weise in nicht weniger als sieben seiner Muskeln gewissen Affen gleichen sollte, wenn nicht ein genetischer Zusammenhang zwischen ihnen bestände. Stammt auf der andern Seite der Mensch von irgend einer affenähnlichen Form ab, so lässt

47  Macal ister (ebend. p. 121) hat diese Beobachtungen in Tabellen gebracht und findet, dass Muskelvarietäten am allerhäufigsten am Vorderarm sind, dann kommt das Gesicht, dann der Fuss u. s. w,

48  Dr. Haugthon theilt einen merkwürdigen Fall von Abweichung am menschlichen Flexor pollicis longus mit (Proceed. Roy. Irish Academy, June, 27; 1SG4, p.715) und fügt hinzu: „Dieses merkwürdige Beispiel zeigt, dass der Mensch zuweilen diejenige Anordnung der Sehnen des Daumens und der übrigen Finger besitzen kann, welche für den Macacus characteristisch ist; oh man aber einen solchen Fall so beurtheilen solle, dass hier ein Macacus aufwärts in die menschliche Form, oder dass ein Mensch abwärts in die Macacus-Form übergehe, oder ob man darin ein angeborenes Naturspiel sehen darf, vermag ich nicht zu entscheiden.'' Es gewährt wohl Genugthuung, von einem so tüchtigen Anatomen und einem so erbitterten Gegner des Evolutionismus auch nur die Möglichkeit erwähnen zu hören, dass einer der beiden ersten Annahmen zugestimmt werde. Auch Prof. Macalister hat (Proceed. Roy. Irish Academy Vol. X. 18G4, p. 138) Abweichungen am Flexor pollicis longus beschrieben, welche wegen ihrer Beziehungen zu den Muskeln der Quadrumanen merkwürdig sind.

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Entwickelungsweise des Menschen.

I. Tlieil

sich kein triftiger Grund beibringen, warum gewisse Muskeln nach einem Verlauf von vielen tausend Generationen nicht plötzlich in derselben Weise wiedererscheinen sollten, wie bei Pferden, Eseln und Maul-thieren dunkelfarbige Streifen auf den Beinen und Schultern nach einem Verlauf von Hunderten oder wahrscheinlich Tausenden von Generationen plötzlich wieder erscheinen.

Diese verschiedenen Fälle von Bückschlag sind denen von rudimentären Organen, wie sie im ersten Capitel mitgetheilt wurden, so nahe verwandt, dass viele von ihnen mit gleichem Becht in jedem der beiden Capitel hätten untergebracht werden können. So kann man sagen, dass ein menschlicher Uterus, welcher Hörner besitzt, in einem rudimentären Zustande dasselbe Organ gewisser Säugethiere im normalen Zustande repräsentirt. Manche Theile, welche beim Menschen rudimentär sind, wie das Schwanzbein bei beiden Geschlechtern und die Brustdrüsen beim männlichen Geschlecht, sind immer vorhanden, während andere, wie das supracondyloide Loch, nur gelegentlich erscheinen und daher in die Kategorie der Rückschlagsfälle hätten aufgenommen werden können. Diese verschiedenen auf Rückschlag ebenso wie auf Verkümmerung im strengen Sinne zu beziehenden Bildungen, decken die Abstammung des Menschen von irgend einer niederen Form in einer nicht miszuverstehenden AVeise auf.

Correlative Variationen. — Beim Menschen stehen wie bei den niederen Thieren viele Bildungen in einer so intimen Beziehung zu einander, dass, wenn der eine Theil abweicht, ein anderer es gleichfalls thut, ohne dass wir in den meisten Fällen im Stande wären, irgend einen Grund beizubringen. Wir können nicht sagen, ob der eine Theil den andern beherrscht oder ob beide von irgend einem früher entwickelten Theile beherrscht werden. Wie Isin. Geoffroy wiederholt betont hat, sind in dieser Weise verschiedene Monstrositäten ganz eng mit einander verknüpft. Ganz besonders sind homologe Bildungen geneigt, gemeinsam abzuändern, wie wir es an den beiden Seiten des Körpers und an den oberen und unteren Gliedmaassen sehen. Meckel hat schon vor langer Zeit die Bemerkung gemacht, dass, wenn die Armmitskeln von ihrem eigentlichen Typus abweichen, sie fast immer die des Beins nachahmen; und so umgekehrt mit den Beinmuskeln. Die Organe des Gesichts und Gehörs, die Zähne und Haare, die Farbe der Haut und der Haare, Farbe und Constitution stellen mehr oder weniger in Corre-

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Cap. 4.                               Verhältniss der Zunahme.                                    113

lation 49. Professor Schaaffhausen hat zuerst die Aufmerksamkeit auf die Beziehung gelenkt, welche offenbar zwischen einem muskulösen Bau und den stark ausgesprochenen Oberaugenhöhlenleisten existirt, welche für die niederen Menschenrassen so characteristisch sind.

Ausser den Abänderungen, welche mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit unter die vorgenannte Kategorie gruppirt werden können, gibt es noch eine grosse Classe von Variationen, welche provisorisch als spontane bezeichnet werden können; in Folge unserer Unwissenheit scheinen sie nämlich ohne irgendwelche anregende Ursache zu entstehen. Es kann indess gezeigt werden, dass derartige Variationen, mögen sie nun in unbedeutenden individuellen Verschiedenheiten oder in stark mar-kirten und plötzlichen Abweichungen des Baues bestehen, viel mehr von der Constitution des Organismus abhängen als von der Natur der Bedingungen, welchen derselbe ausgesetzt war 5".

Verhältniss der Zunahme. — Man weiss, dass eine civili-sirte Bevölkerung unter günstigen Bedingungen, wie in den Vereinigten Staaten, ihre Zahl in fünfundzwanzig Jahren verdoppelt, und nach einer Berechnung von Euler kann dies in wenig über zwölf Jahren eintreten 51. Nach dem ersterwähnten Verhältniss würde die jetzige Bevölkerung der Vereinigten Staaten, nämlich dreissig Millionen, in 657 Jahren die ganze Erdoberfläche, Wasser und Land, so dicht bevölkern, dass auf einem Quadratyard vier Menschen zu stehen haben würden. Das primäre und fundamentale Hindernis? für die fortgesetzte Zunahme des Menschen ist die Schwierigkeit, Existenzmittel zu erlangen und mit Leichtigkeit zu leben. Dass dies der Fall ist, können wir aus dem schliessen, was wir z. B. in den Vereinigten Staaten sehen, wo die Existenz leicht und Kaum für Viele vorhanden ist. Wurden diese Mittel plötzlich in Grossbritannien verdoppelt, so würde sich auch unsere Einwohnerzahl schnell verdoppeln. Bei civilisirten Nationen wirkt das oben erwähnte primäre Hinderniss hauptsächlich durch das Erschweren

49  Die Autoritäten für diese verschiedenen Angaben sind aufgeführt in meinem Buche „Ueber das Variiren der Thiere und Pflanzen im Znstande der Do-mestication" Bd. 2, S. 425—443.

50  Dieser ganze Gegenstand ist in dem 23. Capitel des 2. Bdes. in dem Buche „Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication" erörtert worden.

51  s. das für immer merkwürdige „Essay on the principle of Population, by The Rev. T. Malthus. Vol. I. 1826, p. 0, 517.

Darwin, Abstimmung. I. Zweite Auflage.                                                    8

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Entvrickelungsweise des Menschen.

I. Theil.

der Heirathen. Auch ist das Sterblichkeitsverhältniss der Kinder in den ärmsten Classen von grosser Bedeutung, ebenso die grössere Sterblichkeit auf allen Altersstufen in Folge verschiedener Krankheiten bei den Bewohnern dicht bevölkerter und elender Häuser. Die Wirkungen schwerer Epidemien und Kriege werden bald bei Nationen ausgeglichen, welche unter günstigen Bedingungen leben, und sogar mehr als ausgeglichen. Auch hilft Auswanderung als ein zeitweises Hinderniss, aber bei den äusserst armen Classen in keiner grossen Ausdehnung.

Wie Malthus bemerkt hat, haben wir Grund zu venuuthen, dass die Keprodiictionskraft bei barbarischen Rassen thatsächlich geringer ist als bei civilisirten. Positives wissen wir über diesen Gegenstand nicht, denn bei Wilden ist eine Volkszählung nie vorgenommen worden; aber nach den übereinstimmenden Zeugnissen der Missionäre und Anderer, welche lange mit solchen Völkern gelebt haben, scheint es, dass ihre Familien gewöhnlich klein, dass dagegen grosse Familien im Ganzen selten sind. Zum Theil wird dies, wie man annimmt, dadurch zu erklären sein, dass die Frauen ihre Kinder eine sehr lauge Zeit hindurch stillen; aber es ist doch auch äusserst wahrscheinlich, dass Wilde, welche oft viel Noth leiden und welche keine so reichliche und nahrhafte Kost erhalten als civilisirte Menschen, factisch weniger fruchtbar sind. In einem früheren Werke 32 habe ich gezeigt, dass alle unsere domesticir-ten Vierfüsser und Vögel und alle unsere cultivirten Pflanzen fruchtbarer sind als die entsprechenden Spccies im Naturzustand. Die That-sachen bieten keinen triftigen Einwand gegen diesen Schluss dar, dass plötzlich mit einem Excess von Nahrung versorgte oder sehr fett gemachte Thiere und dass plötzlich aus einem sehr armen in einen sehr reichen Boden versetzte Pflanzen mehr oder weniger steiil gemacht werden. Wir können daher erwarten, dass civilisirte Menschen, welche in einem gewissen Sinne hoch domesticirt sind, fruchtbarer als wilde Menschen seien. Es ist auch wahrscheinlich, dass die erhöhte Fruchtbarkeit civilisirter Nationen, wie es bei unsern domesticirten Thieren der Fall ist, ein erblicher Character wird; es ist wenigstens bekannt, dass beim Menschen eine Neigung zu Zwilliiigsgebuvten durch Familien läuft53.

Trotzdem, dass Wilde weniger fruchtbar erscheinen als civilisirte

32 Ueber das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestica-tion. Bd. 2, S. 147—150, 219.

53 Sedgwick, British and Foreign Medico-Chirurg. Review, Jnly, 18G3, p. 170.

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Cap. 4.                              Verhäitniss der Zunahme.                                     115

Völker, so würden sie doch an Zahl reissend zunehmen, wenn nicht ihre- Menge durch gewisse Einflüsse stark niedergehalten würde. Die Santali oder Bergstämme von Indien haben in neuerer Zeit für diese Thatsache eine gute Erläuterung gegeben; denn sie haben, wie Mr. Hunter iU gezeigt hat, seitdem die Vaccination eingeführt ist, andere Seuchen gemildert sind und der Krieg rücksichtslos unterdrückt worden ist, sich in einem ausserordentlichen Maasse vermehrt. Diese Zunahme hätte indess nicht möglich sein können, wenn dieses rohe Volk sich nicht in die benachbarten Districte verbreitet und dort um Lohn gearbeitet hätte. Wilde lieirathen fast immer; es tritt aber irgend eine kluge Kückhaltung doch ein, denn sie lieirathen gewöhnlicli nicht in dem Alter, in welchem das Heirathen am frühesten möglich ist. Häufig verlangt man von den jungen Männern den Kachweis, dass sie ein Weib erhalten können, und sie haben gewöhnlich zunächst die Summe zu verdienen, um welche sie die Frau von ihren Eltern kaufen. Bei Wilden beschränkt die Schwierigkeit, eine Subsistenz zu finden, ihre Zahl gelegentlich in viel directerer Weise als bei civilisirteren Völkern; denn alle Stämme leiden periodisch von schweren Hungersnöthen. Zu solchen Zeiten sind die Wilden gezwungen, viel schlechte Nahrung zu verzehren , und es kann nicht ausbleiben, dass ihre Gesundheit hierdurch geschädigt wird. Viele Berichte sind über ihre geschwollenen Bäuche und abgemagerten Gliedmaassen nach und während der Hungersnoth veröffentlicht worden. Ferner sind sie auch dann gezwungen viel um-herzuwandern und, wie man mir in Australien versicherte, kommen ihre Kinder in grossen Zahlen um. Da die Zeiten der Hungersnoth periodisch wiederkehren und hauptsächlich von extremen Verhältnissen der Jahreszeiten abhängen, müssen alle Stämme in ihrer Zahl schwanken, sie können nicht stätig und regelmässig zunehmen, da bei der Versorgung mit Nahrung keine künstliche Zunahme eintritt. Gelangen Wilde in Noth, so greifen sie gegenseitig in ihre Territorien über und das Resultat ist Krieg; doch sind sie in der That fast immer mit ihren Nachbarn in Krieg. Zu AVasser und zu Lande sind sie bei ihren Bemühungen um Nahrung vielen Zufällen ausgesetzt, und in manchen Ländern müssen sie auch von den grösseren Raubthieren viel leiden. Selbst in Indien sind manche Districte durch die Räubereien der Tiger geradezu entvölkert worden.

54 The Annais of Kural Bengal. by W. W. IIunter. 1868, p. 259.

8 *

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Entwickclungsweise des Menschen.

I. Theil.

Malthus hat diese verschiedenen Hindernisse erörtert; er betont aber dasjenige nicht stark genug, welches wahrscheinlich das bedeutungsvollste von allen ist, nämlich Kindesmord, und besonders die Töd-tung weiblicher Kinder, und die Gewohnheit, Fehlgeburten zu veranlassen. Diese Gebräuche herrschen jetzt in vielen Theilen der Erde, und früher scheint Kindesmord, wie Mr. M'Lennan ä5 gezeigt bat, in einem noch ausgedehnteren Grade geherrscht zu haben. Diese Gebräuche scheinen bei Wilden dadurch entstanden zu sein, dass sie die Schwierigkeit oder vielmehr die Unmöglichkeit einsehen, alle Kinder, welche geboren werdeu, zu erhalten. Zügelloses Leben kann auch noch zu deii obenerwähnten Hindernissen hinzugerechnet werden; doch ist dies keine Folge des Mangels an Subsistenzmitteln, obschon Grund zu der Annahme vorhanden ist, dass es in manchen Fällen (wie z. B. in Japan) absichtlich ermuntert worden ist, als ein Mittel, die Bevölkerung niedrig zu erhalten.

Wenn wir auf eine äusserst frühe Zeit zurückblicken, ehe der Mensch die Würde der Menschlichkeit erreicht hatte, so wird er mehr durch lustiuct und weniger durch Vernunft geleitet worden sein als die Wilden zur jetzigen Zeit. Unsere frühen halbmenschlichen Vorfahren werden den Gebrauch des Kindesmords nicht ausgeübt haben; denn die Jnstincte der niederen Thiere sind nie so verkehrt, dass sie dieselben regelmässig zur Zerstörung ihrer eigenen Nachkommenschaft führten. Es wird auch keine kluge Zurückhaltung vom Heirathen stattgefunden haben und die Geschlechter werden sich im frühen Alter reichlich verbunden haben. Daher werden die Uierzeuger des Menschen zu einer rapiden Zunahme geneigt gewesen sein, aber Hindernisse irgendwelcher Art, entweder periodische oder beständige, müssen ihre Zahl niedrig erhalten haben und selbst noch kräftiger als bei den jetzt lebenden Wilden. Was die genaue Beschaffenheit dieser Hindernisse gewesen sein mag, können wir ebensowenig für unsere Vorfahren wie für die meisten andern Thiere sagen. Wir wissen, dass Pferde und Kinder, welche keine sehr stark fruchtbaren Thiere sind, sich, seit sie zuerst in Südamerika dem Verwildern überlassen wurden, in einem enormen Ver-hältniss vermehrt haben. Das Thier, bei welchem die Entwickclung die meiste Zeit erfordert, nämlich der Elephant, würde in wenigen Tausend Jahren die ganze Erde bevölkern. Die Zunahme jeder Art von

55 Primitive Marriage. lölio.

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Cap. 4.

Natürliche Zuchtwahl.

117

Affen muss durch irgendwelches Mittel gehindert worden sein, aber nicht, wie Brehm bemerkt, durch die Angriffe von Raubthieren. Niemand wird annehmen, dass das faetische Reproductionsvermögen der wilden Pferde und Kinder in America anfangs in irgend einem merkbaren Grade vermehrt gewesen wäre oder dass dieses Vermögen, nachdem jeder Bezirk vollständig bevölkert war, abgenommen hätte. Ohne Zweifel wirken in diesem Falle, wie in allen andern, viele Hindernisse zusammen und verschiedene Hindernisse unter verschiedenen Umständen. Zeiten periodischen Mangels, die von ungünstigen Jahreszeiten abhängen, sind wahrscheinlich das bedeutungsvollste von allen, und dasselbe wird von den frühesten Erzeugern des Menschen der Fall gewesen sein.

Natürliche Zuchtwahl. — Wir haben nun gesehen, dass der Mensch an Körper und Geist variabel ist und dass die Abänderungen entweder direct oder indirect durch dieselben allgemeinen Ursachen veranlasst worden sind und denselben allgemeinen Gesetzen unterliegen, wie bei den niederen Thieren. Der Mensch hat sich weit über die Oberfläche der Erde verbreitet und muss während seiner unaufhörlichen Wanderungen 56 den verschiedenartigsten Bedingungen ausgesetzt gewesen sein. Die Einwohner des Feuerlandes, des Caps der guten Hoffnung und Tasmaniens in der einen Hemisphäre und der aretischen Gegenden in der andern müssen durch verschiedene Climate hindurchgegangen sein und ihre Lebensweise viele Male verändert haben, ehe sie ihre jetzigen Wohnstätten erreichten 37. Die frühen Urerzeuger des Menschen müssen auch wie alle andern Thiere die Neigung gehabt haben, über dasMaass ihrerSubsistenzmittel hinaus sich zu vermehren; sie müssen daher gelegentlich einem Kampfe um die Existenz ausgesetzt gewesen und in Folge dessen dem starren Gesetze der natürlichen Zuchtwahl unterlegen sein. Wohlthätige Abänderungen aller Arten werden daher entweder gelegentlich oder gewöhnlich erhalten, schädliche beseitigt worden sein. Ich beziehe mich hierbei nicht auf stark markirte Abweichungen des Baues, welche nnr in langen Zeitintervallen auftreten, sondern nur auf individuelle Verschiedenheiten. Wir wissen z.'B., dass die Muskeln unserer Hände und Füsse, welche unser Bewegungsvermögen bestimmen, wie die der niederen Thiere i8 unaufhörlicher Varia-

56 s. einige gute Bemerkuugen hierüber von W. Stanley Jevons, A de-tluction from Darwin's Theory. „Nature", 1869, p. 231. 5' Latham, Man and his Migrations. 1851, p. 135. ä* Mnrie und St. George Mivart sagen in ihrer Anatomie der Lemuri-

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Entwickelungsweise des Menschen.

I. Theil.

bilität unterliegen. Wenn nun die affenähnlichen Urcrzeuger des Menschen, welche irgend einen District, besonders einen solchen bewohnten, der in seinen Bedingungen irgend eine Abänderung erfuhr, in zwei gleiche. Massen getheilt würden, so würde die eine Hälfte, welche alle die Individuen umfasste, welche durch ihr Bewegungsvermögen am besten dazu ausgerüstet wären, ihre Subsistenz zu erlangen oder sich zu ver-theidigen, im Mittel in einer grösseren Zahl überleben bleiben und mehr Nachkommen hinterlassen als die andere und weniger gut ausgerüstete Hälfte.

Der Mensch ist in dem rohesten Zustand, in welchem er jetzt exi-stirt, das dominirendste Thier, was je auf der Erde erschienen ist. Er hat sich weiter verbreitet afs irgend eine andere hoch organisirte Form und alle andern sind vor ihm zurückgewichen. Offenbar verdankt er diese unendliche Ueberlegenheit seinen intellectuellen Fähigkeiten, seinen socialen Gewohnheiten, welche ihn dazu führten, seine Genossen zu unterstützen und zu vertheidigen, und seiner körperlichen Bildung. Die äusserst hohe Bedeutung dieser Charactere ist durch die endgültige Entscheidung des Kampfes um's Dasein bewiesen worden. Durch seine intellectuellen Kräfte ist die articulivte Sprache entwickelt worden, und von dieser haben seine wundervollen Fortschritte hauptsächlich abgehangen. Er hat verschiedene Waffen, Werkzeuge, Fallen u. s. w. erfunden und ist fähig, sie zu gehrauchen; und damit vertheidigt er sich, tödtet oder fängt er seine Beute und vermag sich auf andere Weise Nahrung zu verschaffen. Er hat Flösse oder Boote gemacht, auf denen er fischen oder zu benachbarten fruchtbaren Inseln übersetzen kann. Er hat die Kunst, Feuer zu machen, entdeckt, durch welches harte, holzige Wurzeln verdaulich und giftige Wurzeln oder Kräuter unschädlich gemacht werden. Diese letztere Entdeckung, wahrscheinlich die grösste mit Ausnahme der Sprache, die je vom Menschen gemacht worden ist, rührt aus der Zeit vor dem Dämmern der Geschichte her. Diese verschiedenen Erfindungen, durch welche der Mensch im rohesten Zustand ein solches Uebergewicht erhalten hat, sind das directe Resultat der Entwicklung seiner Beobachtungskräfte, seines Gedächtnisses, seiner Neugierde, Einbildung und seines Verstandes. Ich kann

den (Transact. Zoolog. Soc. Vol. VII. 1860, p. 96—98) „einige Muskeln sind so „unregelmässig, dass sie keiner der erwähnten Gruppen irgendwie eingeordnet „werden können." Diese Muskeln weichen selbst in den beiden Seiten eines und desselben Individuum von einander ab.

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Cap. 4.                                  Natürliche Zuchtwahl.                                       119

daher nicht verstehen, wie Mr. Wallace behaupten kann50, dass „natürliche Zuchtwahl den Wilden nur mit einem um ein Weniges grösseren Gehirn als dem eines Affen hätte versehen können."

Obgleich die intellectuellen Kräfte und socialen Gewohnheiten von der äussersten Bedeutung für den Menschen sind, so dürfen wir doch die Bedeutung seines körperlichen Zustands, welchem Gegenstand der noch übrige Theil dieses Capitels gewidmet sein wird, nicht unterschätzen. . Die Entwickelung der intellectuellen und socialen oder moralischen Fähigkeiten wird in dem folgenden Capitel erörtert werden.

Selbst mit Präcision zu hämmern ist keine leichte Sache, wie Jeder, der das Tischlern zu erlernen versucht hat, zugeben wird. Einen " Stein so genau nach einem Ziele zu werfen, wie es ein Feuerländer kann im Falle der Selbstvertheidigung oder wenn er Vögel tödtet, erfordert die höchste Vollendung der in Correlation stehenden Wirkungen der Muskeln der Hand, des Arms und der Schultern, einen feinen Gefühlssinn dabei gar nicht zu erwähnen. Um einen Stein oder einen Speer zu werfen, und zu vielen andern Handlungen, muss der Mensch fest auf seinen Füssen stehen, und dies wiederum erfordert die vollkommene Anpassung zahlreicher Muskeln. Um einen Feuerstein in das roheste Werkzeug zu verwandeln, um einen Knochen zu einer mit Widerhaken versehenen Lanzenspitze oder zu einem Haken zu verarbeiten, bedarf es des Gebrauchs einer vollkommenen Hand. Denn wie ein äusserst fähiger Kichter, Mr. Schoolcraft bemerkt 60, das Formen von

"'' Quarterly Review. April, 1869, p. 392. Es ist dieser Gegenstand in Mr. Wallace's Contributions to tlie Theory of Natural Selection, 1870, in welchem alle hier angezogenen Aufsätze wieder veröffentlicht sind, ausführlicher erörtert wor-, den. Der „Essay on Man" ist sehr gut kritisirt worden von Prof. Claparcde, einem der ausgezeichnetsten [jetzt leider verstorbenen] Zoologen in Enropa, in einem Artikel der Bibliotheque Universelle, Juni 1870. Die oben im Texte citirte Bemerkung wird Jeden überraschen, welcher Wallace's berühmten Aufsatz: On the Origin of Human Races deduced from tlie theory of Natural Selection gelesen hat, ursprünglich publicirt in der Anthropological Review, May, 1864, p. CLV1II. Ich kann mir nicht versagen, hier eine äusserst treffende Bemerkung Sir J. Lubbock's in Bezug auf diesen Aufsatz (Prehistoric Times. 1865, p. 479) zu citiren, wo er nämlich sagt, dass Mr. Wallace „mit characteristischer Selbstlosigkeit dieselbe (nämlich die Idee der natürlichen Zuchtwahl) ohne Rückhalt „Hrn. Darwin zuschreibt, trotzdem es bekannt ist, dass er diese Idee ganz „selbständig erfasste und sie, wenn auch nicht in gleich dnrcharbeiteter Fülle, „zu derselben Zeit wie jener veröffentlichte."

6u Citirt von Mr. Lawson Tait in seinem „Law of Natural Selection", in:

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120                          Entwickelungsweise des Menschen.                     I. Theil.

Steinfragmenten zu Messern, Lanzen oder Pfeilspitzen beweist ausserordentliche Geschicklichkeit und lange Uebung. Einen Beweis hierfür haben wir darin, dass die Urmenschen eine Theilung der Arbeit ausführten ; es fabricirte nicht Jeder seine eigenen Feuersteinwerkzeuge oder rohe Töpferei für sich, sondern gewisse Individuen scheinen sich solcher Arbeit gewidmet zu haben und erhielten ohne Zweifel im Tausch hierfür die Erträge der Jagd. Archäologen sind überzeugt, dass eine enorme Zeit verflossen sein nmss, ehe unsere Voreltern daran dachten , abgesprungene Feuersteinstücke zu glatten Werkzeugen zu poliren. Ein menschenähnliches Thier, welches eine Hand und einen Arm besass, hinreichend vollkommen, um einen Stein mit Genauigkeit zu werfen oder einen Feuerstein in ein rohes Werkzeug zu formen, konnte bei hinreichender Uebuug, wie sich wohl kaum zweifeln lässt, fast Alles machen, soweit nur mechanische Geschicklichkeit in Betracht kommt, was ein civilisirter Mensch machen kann. Die Structiir der Hand lässt sich in dieser Beziehung mit der der Stimniorgane vergleichen, welche bei den Affen zum Ausstossen verschiedener Signalrtife oder, wie in einer Species, musikalischer Cadenzen gebraucht werden. Aber beim Menschen sind völlig ähnliche Stiminorgane, iii Folge der vererbten Wirkungen des Gebrauchs, der Aeusserung articulirter Sprache angepasst worden.

Wenden wir uns nun zu den nächsten Verwandten des Menschen und daher auch zu den besten Repräsentanten unserer früheren (Jrer-zenger, so finden wir, dass die Hände bei den Vierhändorn nach demselben allgemeinen Plane wie bei uns gebaut sind, aber viel weniger vollkommen verschiedenartigen Gebräuchen angepasst. Ihre Hände dienen nicht so gut wie die Füsse eines Hundes zur Locomotion, wie wir bei den Allen sehen können, welche auf den äusseren Rändern der Sohlen oder auf dein Bücken ihrer gebogenen Finger gehen, wie der Schim-* panse und Orang61. Indessen sind ihre Hände für das Erklimmen von Bäumen wunderbar geeignet. Allen ergreifen dünne Zweige oder Taue mit dem Daumen auf der einen und den Fingern und der Handfläche auf der andern Seite, in derselben Weise wie wir es thun. Sie können auch ziemlich grosse Gegenstände, wie den Hals einer Flasche, zu ihrem Munde führen. Paviane wenden Steine um und scharren Wurzeln mit ihren Händen aus. Sie ergreifen Nüsse, Insecten oder andere kleine

Dublin Quaterly Journal of Meilieal Science. Febr. 1860. Auch Dr. Keller wird als weitere Bestätigung citirt.

61 Owen, Anatonry of Vertebrates. Vol. III, p. 71.

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Cap. 4.                                  Natürliche Zuchtwahl.                                       121

Gegenstände mit dem Daumen den Fingern entgegengestellt, und ohne Zweifel ziehen sie in dieser Weise Eier und junge Vögel aus den Nestern. Amerikanische Affen schlagen die wilden Orangen auf Zweige auf bis die Rinde geborsten ist und zerren diese dann mit den Fingern ihrer beiden Hände ab. Andere Affen öffnen Muschelschalen mit den beiden Daumen. Mit ihren Fingern ziehen sie Dornen und Grannen aus und suchen einander die Schmarotzer ab. Im Naturzustand öffnen sie harte Früchte mit Hülfe von Steinen. Sie werfen Steine herab oder werfen sie nach ihren Feinden. Nichtsdestoweniger vollziehen sie aber diese verschiedenen Handlungen nngeschickt, und wie ich selbst gesehen habe, sind sie vollständig ausser Stande, einen Stein mit Präcision zu werfen.

Es scheint mir durchaus nicht wahr zu sein, dass, weil „Gegenstände nur ungeschickt von Affen erfasst' werden, ein viel weniger „specialisirtes Greiforgan" ihnen ebensogut gedient haben würde6-, als ihre gegenwärtigen Hände. Im Gegentheil sehe ich keinen Grund zu zweifeln, dass eine noch vollkommener construirte Hand für sie ein Vortheil gewesen wäre, vorausgesetzt, und es ist von Wichtigkeit, dies hervorzuheben, dass ihre Hände damit für das Erklettern von Bäumen nicht weniger geschickt geworden wären. Wir können vermuthen, dass eine vollkommene Hand von Nachtheil für das Klettern gewesen wäre, da die am meisten auf Bäumen lebenden Affen in der Welt, nämlich Aleles in America und Hylobates in Asien, entweder in der Grösse sehr reducirte oder selbst rudimentäre Daumen oder ihre Finger zum Theil mit einander verwachsen haben, so dass ihre Hände in blosse Greifhaken verwandelt worden sind 63.

Sobald irgend ein frühes Glied in der grossen Reihe der Primaten in Folge einer Veränderung der Art und Weise seine Subsistenz zu erlangen oder einer Veränderung in den Bedingungen seines Heimathlandes dazu gelangte, etwas weniger auf Bäumen und mehr auf dem Boden zu leben, würde seine Art, sich fortzubewegen, modificirt worden sein; und in diesem Fall wird die Form entweder noch eigentlicher

6i Quarterly Review. April, 1869, p. 3U2.

6,1 Bei Hylobates syndactyliis- sind, wie der Käme es bezeichnet, zwei Finger regelmässig verwachsen; dasselbe ist, wie mir Mr. Blyth mittheilt, gelegentlich mit den Fingern von H. agüift, lar und leticincun der Fall. Bei üokttmn fehlt der Daumen gleichfalls; diese Affen sind im strengsten Sinne Baumthiere und ausserordentlich lebhaft (Brehm, Thierlehen. Bd. 1, S. 50); ob sie aber bessere Kletterer oder Greifer als die Arten der verwandten Gattungen sind, weiss ich nicht-

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Entwickelungsweise des Menschen.

I. Theil.

vierfflssig oder strenger zweifüssig haben werden müssen. Paviane bewohnen bergige oder felsige Districte und klettern nur nothgedrungen auf hohe Bäume61, sie haben auch fast die Gangart eines Hundes angenommen. Nur der Mensch ist ein Zweifüsser geworden; und wir können, wie ich glaube, zum Theil sehen, wie er dazu gekommen ist, die aufrechte Stellung zu erhalten, welche eine der auffallendsten Differenzen zwischen ihm und seinen nächsten Verwandten bildet. Der Mensch hätte seine jetzige herrschende Stellung in der Welt nicht ohne den Gebrauch seiner Hände erreichen können, welche so wunderbar geeignet sind, seinem Willen folgend zu wirken. Wie Sir C. Bell betont65; „die Hand „ersetzt alle Instrumente und durch ihre Uebereinstimmung mit dem ,Intellect verleiht sie ihm universelle Herrschaft." Die Hände und Arme hätten aber kaum hinreichend vollkommen werden können, Waffen zu fabriciren oder Steine und Speere nach einem bestimmten Ziele zu werfen, solange sie gewohnheitsgemäss zur Locomotion benutzt worden wären, wobei sie das ganze Gewicht des Körpers zu tragen hatten, oder solange sie speciell, wie vorher schon bemerkt wurde, zum Erklettern von Bäumen angepasst wären. Eine derartige rohe Behandlung würde auch den Gefühlssinn abgestumpft haben, von dem ihr fernerer Gebranch zum grossen Theil abhängt. Schon nach diesen Ursachen allein wird es ein Vortheil für den Menschen gewesen sein, dass er ein Zweifüsser geworden ist; aber für viele Handlungen ist es fast nothwendig, dass beide Arme und der ganze obere Theil des Körpers frei seien, und zu diesem Zweck musste er fest auf seinen Füssen stehen. Um diesen grossen Vortheil zu erlangen, sind die Füsse platt geworden und ist die grosse Zehe eigentümlich modificirt, obgleich dies den Verlust der Fähigkeit zum Greifen mit sich gebracht hat. Es ist in Uebereinstimmung mit dem Princip der physiologischen Arbeitsteilung, welches durch das ganze Thierreich herrscht, dass in dem Maasse, als die Hände zum Greifen vervollkommnet wurden, die Füsse sich mehr zum Tragen und zur Locomotion ausbildeten. Doch haben bei einigen Wilden die Füsse ihr Greifvermögen nicht vollständig verloren, wie durch die Art des Erkletterns von Bäumen und durch den Gebrauch, der in verschiedener Weise von ihnen gemacht wird, bewiesen wird fi6.

64 Brehm, Thierleben. Bd. 1, S. 80.

*' The Hand, its mechanism etc. „Bridgewater Treatise". 1833, p. 38. 66 Häckel erörtert in ausgezeichneter Weise die Schritte, durch welche der jMensch ein Zweifiissler wurde: Natürliche Schöpfungsgeschichte, 1868, p. 507.

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Cap. 4,                                  Natürliche Zuchtwahl.                                      123

War es ein Vortheil für den Menschen, seine Hände und Arme frei zu haben und fest auf seinen Füssen zu stehen, woran sich nach seinem so ausgezeichneten Erfolge in dem Kampfe um's Dasein nicht zweifeln lässt, dann kann ich keinen Grund sehen, warum es für die Urerzeuger des Menschen nicht vorteilhaft gewesen sein sollte, immer mehr und mehr aufrecht oder zweifüssig zu werden. Sie würden dadurch besser im Stande gewesen sin, sieh mit Steinen und Keulen zu vertheidigen oder ihre Beute anzugreifen oder auf andere Weise Nahrung zu erlangen. Die am besten gebauten Individuen werden in der Länge der Zeit am besten Erfolg gehabt haben und in grösserer Zahl am Leben geblieben sein. Wenn der Gorilla und einige wenige verwandte Formen ausgestorben wären, würde man mit grosser Macht und scheinbar mit sehr viel Hecht zu dem Schlüsse getrieben werden, dass ein Thier nicht allmählich aus einem Vierfüsser in einen Zweifüsser umgewandelt worden sein könnte, da alle Individuen in einem Zwischenzustand erbärmlich schlecht zum Gehen angelegt gewesen wären. Aber wir wissen (und dies ist wohl der Ueberlegnng werth), dass mehrere Affen jetzt factisch sich in diesem Zwischenzustand befinden, und Niemand zweifelt, dass sie einen im Ganzen ihren Lebensbedingungen gut angepassten Bau haben. So läuft der Gorilla mit einem seitlich watschelnden Gang, sehreitet aber gewöhnlich so fort, dass er sich auf seine gebeugten Hände stützt. Die langarmigen Affen gebrauchen gelegentlich ihre Arme wie Krücken, indem sie ihren Körper zwischen denselben nach vorwärts schwingen, und einige Arten von Hylobates können, ohne dass es ihnen gelehrt worden ist, mit ziemlicher Schnelligkeit aufrecht gehen oder laufen. Doch bewegen sie sich ungeschickt und viel weniger sicher als der Mensch. Kurz, wir sehen bei den jetzt lebenden Affen verschiedene Abstufungen zwischen einer Form der Bewegung, welche streng der eines Vicrfüssers gleicht, und der eines Zweifüssers oder des Menschen.

In dem Maasse als die Urerzeuger des Mensehen mehr und mehr aufrecht wurden und ihre Hände und Arme mehr und mehr zum Greifen und zu andern Zwecken modificirt wurden, werden auch endlose

Dr. Büchner (Vorlesungen über die Darwinsche Theorie. 1SR8, S. 195) hat eine Anzahl von Fällen, wo der Fuss vom Menschen als Greiforgan gebraucht wird, gegeben; ebenso über die Beweguugsweise der höheren Affen, welche ich im nächstfolgenden Satze erwähne. Ueber den letzten Punkt s. auch Owen, Ana-tomy of Vertebrates. Vol. in, p. 71.

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124                            Entwickelungsweise des Menschen.                        I. Theil.

andere Veränderungen im Bau nothwendig geworden sein. Das Becken muss breiter, das Rückgrat eigenthümlich gebogen und der Kopf in einer veränderten Stellung befestigt worden sein; und alle diese Veränderungen sind vom Menschen erlangt worden. Professor Sciiaaff-hausen 61 behauptet,, dass „die kräftigen Zitzenfortsätze des menschlichen Schädels das Resultat seiner aufrechten Stellung sind", und diese Fortsätze fehlen beim Orang, Schimpanse u. s. w. und sind beim Gorilla kleiner als beim Menschen. Es Hessen sich noch verschiedene andere Bildungen hier speciell anführen, welche mit der aufrechten Stellung des Menschen in Zusammenhang zu stehen scheinen. Es ist sehr schwer zu entscheiden, wie weit alle diese in Gorrelation stehenden Modifikationen das Resultat natürlicher Zuchtwahl und wie weit sie das Resultat der vererbten Wirkungen des vermehrten Gebrauchs gewisser Theile oder der Wirkung eines Theils auf einen andern sind. Ohne Zweifel wirken diese Mittel der Veränderung gegenseitig auf einander ein; wenn z.B. gewisse Muskeln und die Knochenleisten, an welche sie befestigt sind, durch beständigen Gebranch vergrössert werden, so zeigt dies, dass gewisse Handlungen gewolinlieitsgemäss ausgeführt werden und von Nutzen sein müssen. Es werden daher diejenigen Individuen, welche sie am besten ausführen, in grösserer Zahl leben zu bleiben neigen.

Der freie Gebrauch der Hände und Arme, welcher zum Theil die Ursache, zum Theil das Resultat der aufrechten Stellung des Menschen ist, scheint auf indirecte Weise noch zu andern Modifikationen des Baus geführt zu haben. Wie vorhin angegeben wurde, waren die früheren männlichen Vorfahren des Menschen wahrscheinlich mit grossen Eckzähnen versehen; in dem Maasse aber, als sie allmählich die Fertigkeit erlangten, Steine, Keulen, oder andere Waffen im Kampfe mit ihren Feinden zu gebrauchen, werden sie auch ihre Kinnladen und Zähne immer weniger und weniger gebraucht haben. In diesem Falle werden die Kinnladen in Verbindung mit den Zähnen an Grösse reducirt worden sein, wie wir nach zahllosen analogen Fällen wohl ganz sicher annehmen können. In einem späteren Capitel werden wir einen streng parallelen Fall anführen, nämlich die Verkümmerung oder das vollständige Verschwinden der Eckzähne bei männlichen Wiederkäuern, welches allem

6~ „Ueber die Urform des Schädels" (auch übers, in der Anthropologie. Review. Oct. 1868, p. 428). Owen (Anatomy of Vevtebrates. Vol. II. 186G, p. 551), über den Mastoidfortsatz bei den höheren Affen.

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Cap. 4.                                  Natürliche Zuchtwahl.                                       125

Anscheine nach zu der Entwickelung ihrer Hörner in Beziehung steht, ebenso bei Pferden, wo jene Verkümmerung mit dem Gebrauch in Bezug steht, mit den Schneidezähnen und Hufen zu kämpfen.

Wie Rütimeier üsl und Andere behauptet haben, ist bei den erwachsenen Männchen der anthropomorphen Aft'en entschieden die Wirkung der Kiefermuskeln, welche durch ihre bedeutende Entwickelung auf den Schädel derselben ausgeübt worden ist, die Ursache gewesen, weshalb dieser letztere in so vielen Beziehungen so beträchtlich von dem des Menschen abweicht und „eine wirklich schreckeuerregende Physiognomie- erhalten hat. In dem Maasse also als die Kinnladen und Zähne bei den Vorfahren des Menschen allmählich an Grösse reducirt wurden, wird auch der erwachsene Schädel nahezu dieselben Charactere dargeboten haben, welche er bei den Jungen der anthropomorphen Aft'en darbietet und wird hierdurch sich immer mehr dem des jetzt lebenden Menschen ähnlich gestaltet haben. Eine bedeutende Verkümmerung der Eckzähne bei den Männchen wird fast sicher, wie wir später noch sehen werden, in Folge der Vererbung auch die Zähue der Weibchen beeinflusst haben.

Wie die verschiedenen geistigen Fähigkeiten nacii und nach sich entwickelt haben, wird auch das Gehirn beinahe mit Sicherheit grösser geworden sein. Ich denke, wohl Niemand zweifelt daran, dass die bedeutende Grösse des Gehirns im Verhältniss zu seinem Körper und im Vergleich mit dem Gehirn des Gorilla oder Drang in enger Beziehung zu seinen höheren geistigen Kräften steht. Streng analogen Thatsachen begegnen wir bei [listeten, unter denen die Kopfganglien von ausserordentlichen Dimensionen bei den Ameisen sind, während überhaupt diese Ganglien bei allen Hymenoptern viele Male grösser sind als bei den weniger intelligenten Ordnungen, wie z. B. bei den Käfernü9. Auf der andern Seite denkt Niemand daran, dass der In-tellect irgend zweier Thiere oder irgend zweier Menschen genau durch den cubischen Inhalt ihrer Schädel gemessen werden kann. Es ist sogar sicher, dass eine ausserordentliche geistige Thätigkeit bei einer

66 Die Grenzen der Thierwelt, eine Betrachtung zu Dar will's Lehre. 1868. S. 51.

69 Dujarilin, Annal. d. scienc. natur. 3. ser. Zoolog. Tom. XIV. 1850. p. 203. s. auch Mr. Lowne, Anatomy and Pliysiology of tlie Musca vomitoria, 1870, p. 14. Mein Sohn, Mr. F. Darwin, hat mir die Cerebralganglien der Formica ni/U prilparirt.

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126

Eutwickelungsweise des Menschen.

I. Theil.

äusserst kleinen absoluten Masse von Nervensubstanz existiren kann. So sind ja die wunderbaren verschiedenen Instincte, geistigen Kräfte und Afl'ecte der Ameisen allgemein bekannt, und doch sind ihre Kopfganglien nicht so gross als das Viertel eines kleinen Stecknadelkopfs. Von diesem letzteren Gesichtspunkte aus ist das Gehirn einer Ameise das wunderbarste Substanzatom in der Welt und vielleicht noch wunderbarer als das Gehirn des Menschen.

Die Annahme, dass beim Menschen irgend eine enge Beziehung zwischen der Grösse des Gehirns und der Entwicklung der intellectuel-len Fähigkeiten besteht, wird durch die Vergleichung von Schädeln wilder und civilisirter Rassen, alter und moderner Völker und durch die Analogie der ganzen Wirbelthierreihe unterstützt. Dr. J. Barnard Davis hat durch viele sorgfältige Messungen nachgewiesen "°, dass die mittlere Schädelcapacität bei Europäern 92,3 Cubikzoll, bei Amerikanern 87,5 bei Asiaten 87,1 und bei Australiern nur 81,9 beträgt. Professor Broca ; ] hat gefunden, dass Schädel aus Gräbern in Paris vom neunzehnten Jahrhundert gegen solche ans Gräbern des zwölften Jahrhunderts in dem Verhältniss von 1484: 1426 grösser waren und auch Prichard ist überzeugt, dass die jetzigen Bewohner Grossbritanniens »viel geräumigere Hirnkapseln" haben als die alten Einwohner. Nichtsdestoweniger muss zugegeben werden, dass einige Schädel von sehr hohem Alter, wie z. B. der berühmte Neanderthalschädel, sehr gut entwickelt und geräumig sind. In Bezug auf die niederen Thiere ist Mr. Lartet 72 durch Vergleichung der Schädel tertiärer und jetzt lebender Säugethiere, welche zu denselben Gruppen gehören, zu dem merkwürdigen Schlüsse gelangt, dass in den neueren Formen das Gehirn allgemein grösser und die Windungen complicirter sind. Auf der andern Seite habe ich gezeigt73, dass die Gehirne domesticirter Kaninchen an Grösse beträchtlich reducirt sind, verglichen mit denen des wilden Kaninchens oder des Hasen; und dies mag dem Umstand zugeschrieben werden, dass sie viele Generationen hindurch in enger Gefangenschaft gehalten wurden, so dass sie ihren Intellect, ihren In-

;0 Philosoph. Transact. 1809, p. 513.

11 Citirt in C. Vogt's Vorlesungen «her den Menschen. Bd. 1, S. 104—108. Prichard, Physic. Hist. of Mankind. Vol. I. 1838, p. 305.

r- Coraptes rendus. Acad. d. Sciences. Paris, Juni, 1, 18G8.

73 Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Znstande der Domesticatiou. Bd. 1, S. 104.

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Cap. 4.                                    Schädel und Gehirn.                                        127

stinet, ihre Sinne und ihre willkührlichen Bewegungen nur wenig ausgeübt haben.

Die allmähliche Gewichtszunahme des Gehirns und Schädels beim Menschen muss die Entwicklung der jenen tragenden Wirbelsäule besonders zu der Zeit beeinflusst haben, als er anfieng, aufrecht zu gehen. Und in dem Maasse als diese Veränderung der Lage allmählich zu Stande kam, wird auch der innere Druck des Gehirns einen Ein-ttuss auf die Form des Schädels geäussert haben; denn viele Thatsachen weisen nach, wie leicht der Schädel auf diese Weise afficirt wird. Ethnologen glauben, dass er durch die Form der Wiege modificirt wird, in welcher die kleinen Kinder schlafen. Habituelle Contractionen von Muskeln und eine Narbe nach einer schweren Verbrennung haben die Gesichtsknochen dauernd modificirt. Bei jungen Individuen, deren Köpfe infolge einer Krankheit entweder nach der Seite oder nach rückwärts fixirt wurden, hat das eine Auge seine Stellung verändert und sind die Knochen des Schädels modificirt worden, und dies ist, wie es scheint, das Resultat davon, dass das Gehirn nun in einer andern Richtung drückt 74. Ich habe gezeigt, dass bei langohrigen Kaninchen selbst eine so unbedeutende Ursache wie das Vorwärtshängen des einen Ohrs auf dieser Seite fast jeden einzelnen Knochen des Schädels nach vorn zieht, so dass die Knochen der beiden sich gegenüberliegenden Seiten sich nicht länger mehr genau entsprechen. Sollte endlich irgend ein Thier an allgemeiner Körpergrösse beträchtlich zu- oder abnehmen, ohne dass die geistigen Kräfte sich irgendwie veränderten, oder sollten die geistigen Kräfte bedeutend vergrössert oder verringert werden, ohne dass irgend eine beträchtliche Aenderuiig in der Körpergrösse einträte, so würde beinahe gewiss die Form des Schädels verändert werden. Ich komme zu dieser Folgerung nach meinen Beobachtungen an domesti-cirten Kaninchen, von denen einige Arten sehr viel grösser geworden sind als das wilde Thier, während andere nahezu dieselbe Grösse behalten haben; in beiden Fällen aber ist das Gehirn im Verhältniss zur Grösse des Körpers beträchtlich kleiner geworden. Ich war nun an-

74 Sc haa ff hausen führt die Fälle von krampfhafter Contractiou und der Narbe nach Blumenbach und Busch an (Anthropolog. Review. Oct. 18G8, p. 420J. Dr. Jarrold (Anthropologia, 1803, p. 115, Hfl) führt nach Camper's und seinen eigenen Beobachtungen Fälle von Modification des Schädels an in Folge einer Fixirung des Kopfes in einer unnatürlichen Stellung. Er glaubt, dass gewisse Handwerke, wie das der Schuhmacher, die Stirn runder und vorspringender machen, weil sie den Kopf beständig vorgebeugt halten lassen.

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Entwickelungsweise des Menschen.

T. Theil.

Bings sehr erstaunt, als ich fand, dass bei allen diesen Kaninchen der Schädel verlängert oder doliehoeephal geworden war; so war z. B. von zwei Schädeln ziemlich derselben Breite, — der eine von einem wilden Kaninchen, der andere von einer grossen domestieirten Form, — der erstere nur 3,15, der letztere 4,3 Zoll lang 7S. Eine der ausgesprochensten Verschiedenheiten bei den verschiedenen Menschenrassen ist die, dass der Schädel bei den einen verlängert, bei den andern abgerundet ist, und hier mag die aus dem Falle mit dem Kaninehen sich ergebende Erklärung zum Theil wohl gelten; denn Welcker findet, dass „kleine Menschen mehr zur Bracliyeephalie, grosse mehr zur Dolieho-„cephalie neigen" 76, und grosse Leute lassen sieh wohl mit den grösseren Kaninchen mit längerem Kopfe vergleichen, welche sämmtlicli verlängerte Schädel haben oder doliehoeephal sind.

Nach diesen verschiedenen Thatsachen können wir bis zu einem gewissen Punkte die Mittel erkennen, durch welche der Mensch' die beträchtliche Grösse und die mehr oder weniger abgerundete Form seines Schädels erlangt hat; und dies sind gerade Merkmale, welche ihm in einer ausgezeichneten Weise im Vergleich mit den niederen Thieren eigen sind.

Eine andere äusserst auffällige Verschiedenheit zwischen dem Menschen und den niederen Thieren ist die Nacktheit seiner Haut. Walfische und Delphine (Cetacea), Dugongs (Sirema) und der Hippopotanius sind nackt. Dies mag für dieselben beim Gleiten durch das Wasser von Vortheil sein; auch wird es kaum wegen dos Wärmeverlusts von Nachtheil für sie sein, da diejenigen ihrer Verwandten unter ihnen, welche kältere Gegenden bewohnen, von einer dicken Schicht von Thran umgeben sind, welche demselben Zwecke dient, wie der Pelz der Seehunde und Ottern. Elephanten und Tthinoeerosse sind fast haarlos, und da gewisse ausgestorbene Arten, welche einstmals unter einem aretischeu Clima lebten, mit langen Haaren oder Wolle bedeckt waren, so dürfte es fast scheinen, als wenn die jetzt lebenden Arten beider Gattungen ihre Haarbedeckuug dadurch verloren hätten, dass sie lange Zeit der Hitze ausgesetzt waren. Dies scheint um so wahrscheinlicher, als diejenigen Elephanten in Indien, welche in höher gelegenen und kälte-

'' Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 1, S. 144 über die Verlängerung des Schädels, S. 147 über die Wirkung des Hängens der Ohren.

76 Citirt von Schaaffhausen in: Anthropolog. Review. Oet. 1868, p. 419.

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Cap. 4.

Nacktheit des Menschen.

129

ren Districten leben, mehr Haare haben 77 als die in den Niederungen. Dürfen wir dann wohl schliessen, dass der Mensch von Haaren ent-blösst wurde, weil er ursprünglich irgend ein tropisches Land bewohnt hat? Die Thatsache, dass er Haare hauptsächlich im männlichen Geschlecht an der Brust und im Gesicht und in beiden Geschlechtern an der Verbindung aller vier Gliedmaassen mit dem Stamme behalten hat, begünstigt jene Folgerung, unter der Annahme freilich, dass das Haar verloren wurde, ehe der Mensch die aufrechte Stellung erlangt hatte; denn die Theile, welche jetzt die meisten Haare behalten haben, würden dann am meisten gegen die Hitze der Sonne geschützt gewesen sein. Die Sehädelhöhe bietet indcss eine merkwürdige Ausnahme dar; denn zu allen Zeiten muss sie einer der am meisten exponirten Theile gewesen sein, und doch ist sie dicht mit Haaren bedeckt. In dieser Beziehung stimmt der Mensch mit der grossen Majorität der Vierfüsser überein, welche im Allgemeinen die obere und exponirte Fläche dichter mit Haaren bekleidet haben als die untere Fläche. Nichtsdestoweniger widerspricht die Thatsache, dass die andern Glieder der Ordnung der Primaten, zu welcher der Mensch gehört, trotzdem sie verschiedene heisse Gegenden bewohnen, doch mit Haaren, und zwar im Allgemeinen auf der oberen Fläche am dichtesten 78, bekleidet sind, sehr nachdrücklich der Annahme, dass der Mensch in Folge der Einwirkung der Sonne nackt wurde. Ich bin geneigt anzunehmen, wie ich in den Ca-piteln über geschlechtliche Zuchtwahl noch weiter zeigen werde, dass der Mensch oder vielmehr ursprünglich die Frau ihr Haarkleid zu ornamentalen Zwecken verlor, und nach dieser Annahme ist es durchaus nicht überraschend, dass der Mensch in Bezug auf das Behaartsein von allen seinen niedriger gestellten Brüdern so beträchtlich abweicht. Denn durch die geschlechtliche Zuchtwahl erlangte Charactere weichen oft bei nahe mit einander verwandten Formen in einem ausserordentlichen Grade von einander ab.

77  Owen, Anatomy of Vertebrates. Vol. III, p. G19.

78  Isidore Geoffroy St. Hilaire gibt in der Ilistoire natur. gener. Tom. II. 1859, p. 21G—217 Bemerkungen über das Bebaartsein des Kopfes beim Menschen, ebenso über den Umstand, dass die obere Kö'rperfläehe bei Affen und anderen Säugcthicren dichter mit Ilaaren bekleidet ist, als die untere. Dies ist auch von verschiedenen anderen Autoren erwähnt worden. Doch führt Prof. Gervais (Hist. natur. des Mammiferes. Tom. I. 1854, p. 2S) an, dass beim Gorilla das Haar am Rücken dünner sei, als au der unteren Fläche, da es oben theil-weise abgerieben werde.

Darwin'. AbstjimrmiiLir. 1 Zweite Aufl;iire.                                                             9

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Entxrickelungswcise des Menschen.

I. Thcil.

Nach einer populären Ansicht ist die Abwesenheit des Schwanzes ein vorwiegend unterscheidendes Merkmal des Menschen; da aber diejenigen Affen, welche dem Menschen am nächsten stehen, gleichfalls dies Organ nicht besitzen, so berührt uns dessen Verschwinden hier nicht besonders. Trotzdem müssen wir bereitwillig zugeben, dass, so viel mir bekannt ist, für den Verlust des Schwanzes bei gewissen Affen und dem Menschen bis jetzt noch keine Erklärung gegeben worden ist. Sein Verlust ist indessen nicht überraschend, denn seine Länge ist zuweilen bei Species einer und derselben Gattung merkwürdig verschie-' den; so ist er bei einigen Arten von Macacus länger als der ganze Körper und besteht aus vierundzwanzig Wirbeln; bei anderen existirt er nur als ein kaum sichtbarer Stumpf und enthält nur drei oder vier Wirbel. Bei einigen Arten ven Pavianen sind fünfundzwanzig Schwanzwirbel vorhanden, während beim Mandrill nur zehn sehr kleine abgestutzte Wirbel und uach Cuvieb's Angabe79 zuweilen nur fünf solche vorhanden sind. Diese grosse Verschiedenheit in der Bildung und der Länge des Schwanzes bei Thieren, welche denselben Gattungen angehören und nahezu dieselben Lebeusgewolmheiten haben, macht es wahrscheinlich, dass der Schwanz für sie von keiner grossen Bedeutung ist; und wenn dies der Fall ist, so dürfen wir wohl erwarten, dass er zuweilen mehr oder weniger rudimentär geworden ist, in Uebereinstim-mung mit dem, was wir beständig bei andern Structurverhältnissen eintreten sehen. Der Schwanz läuft beinahe immer nach dem Ende hin spitz zu, mag er nun kurz oder lang sein, und ich vermnthe, dass dies ein Eesultat der durch Nichtgebrauch eintretenden Atrophie der terminalen Muskelu in Verbindung mit der der Arterien und Nerven ist, welche zuletzt zu einer Atrophie der endständigen Kochen führt. In Bezug auf das Os coecygis, welches beim Menschen und den höheren Affen offenbar nur ans den wenigen basalen und spitz auslaufenden Segmenten eines gewöhnlichen Schwanzes besteht, habe ich die Frage aufwerfen hören, wie diese vollständig in den Körper eingebettet werden konnten; doch ist in dieser Hinsicht keine Schwierigkeit vorhaudeu, denn bei vielen Affen sind die basalen Abschnitte des echten Schwanzes bereits in dieser Weise eingebettet. So theilt mir z. B. Mr. Murie mit,

79 St. Gorge Mivart in Proceed. Zoolog. Soc. 1SG5, p. 562, 5$3. J. E. Gray, Catalogue Brit. Mus. „Skeletons". Owen, Anatomy of Vertebrates. Vol. II. p. 517. Isid. Geoffroy Saint-Hilaire, Hist. natur. gener. Tom. II. p. 244.

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Cap. 4.                                      Sclrwanzlosigkeit.                                           131

dass er am Skelet eines nicht völlig erwachsenen Mitcacm inomatus neun oder zehn Schwanzwirbel gezählt habe, welche alle zusammen nur 1,8 Zoll lang waren. Von diesen schienen die drei vorderen oder basalen i» den Körper eingebettet gewesen zu sein; die übrigen bildeten den freien Theil des Schwanzes, welcher nur einen Zoll lang und einen halben Zoll breit war. Hier entsprechen denn die drei eingebetteten Schwanzwirbel ganz deutlich den vier verwachsenen Wirbeln des menschlichen Os coecygis.

Ich habe nun zu zeigen versucht, dass einige der uiiterscheidend-sten Merkmale des Menschen aller Wahrscheinlichkeit nach entweder di-rect oder und zwar häufiger indirect durch natürliche Zuchtwahl erlangt worden sind. Wir müssen im Auge behalten, dass Modificatioaeu in der Bildung oder der Constitution, welche für einen Organismus zur Anpassung an Lebensgewohnheiten oder an die von ihm verzehrte Nahrung oder passiv an die ihn umgebenden Bedingungen von keinem Nutzen sind, auf diese Weise nicht erlangt werden können. Wir dürfen indessen bei der Entscheidung, welche Modifikationen für jedes Wesen von Nutzen sind, nicht zu sicher sein; wir müssen uns daran erinnern, wie wenig wir über den Gebrauch vieler Theile wissen oder was für Veränderungen im Blute oder den Geweben einen Organismus für ein neues Clima oder irgend eine neue Art von Nahrung geeignet zu machen dienen können. Auch dürfen wir das Princip der Correlation nicht vergessen, durch welches, wie Isidore Geoffroy beim Menschen gezeigt hat, viele fremdartige Biidungsabweichungen unter einander verbunden werden. Unabhängig von der Correlation führt eine Veränderung in einem Tlieile oft in Folge des vermehrten oder verminderten Gebrauchs andrer Theile zu andern Veränderungen einer vollständig unerwarteten Art. Auch ist es gut sich solcher Thatsachen zu erinnern wie des wunderbaren Wachsthums von Gallen auf Pflanzen, welches das Gift eines Insects veranlasste, und der merkwürdigen Farbenveränderungen im Gefieder von Papageien, wenn sie sich von gewissen Fischen ernähren oder wenn ihnen das Gift von Kröten eingeimpft wird so. Denn wir sehen hieraus, dass die Körperfiüssigkeiten, wenn sie zu irgend einem bestimmten Zweck geändert werden, andre merkwürdige

m Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication, Bd. 2, S. 371. 372. 371.

'J*

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132                             Entwielcelungsweise des Menschen.                       I. Theil.

Veränderungen herbeiführen können.- Ganz besonders müssen wir im Auge behalten, dass Modifikationen, welche im Verlaufe vergangener Zeiten zu irgend einem nützlichen Zweck erlangt und gebraucht worden sind, wahrscheinlich sicher fixirt und schon lange vererbt worden sind.

Man kann daher den directen und indirecten Resultaten natürlicher Zuchtwahl eine sehr beträchtliche, wennschon imbestimmte, Ausdehnung geben; doch gebe ich jetzt, nachdem ich die Abhandlung von Nägeli über die Pflanzen und die Bemerkungen verschiedener Schriftsteller, besonders die neuerdings von Professor Broca in Bezug auf die Thiere geäusserten, gelesen habe, zu, dass ich in den früheren Ausgaben meiner Entstehung der Arten wahrscheinlich der Wirkung der natürlichen Zuchtwahl oder des Ueberlebens des Passendsten zu viel zugeschrieben habe. Ich habe die fünfte Ausgabe der „Entstehung" dahin geändert, dass ich meine Bemerkungen nur auf die adaptiven Veränderungen des Körperbaus beschränkte. Ich hatte früher die Existenz vieler Structurverhältuisse nicht hinreichend betrachtet, welche, soweit wir es beurtheilen können, weder wohlthätig noch schädlich zu sein scheinen, und ich glaube, dies ist eines der grössten Versehen, welches ich bis jetzt in meinem Werke entdeckt habe. Es mag mir als Entschuldigung zu sagen gestattet sein, dass ich zwei bestimmte Absichten vor Augen hatte, erstlich, zu zeigen, dass Species nicht einzeln geschaffen worden sind, und zweitens, dass natürliche Zuchtwahl das bei der Veränderung hauptsächlich Wirksame war, wenn sie auch in grossem Maasse durch die vererbten Wirkungen des Gebrauchs und in geringerem Maasse durch die directe Wirkung der umgebenden Bedingungen unterstützt würde. Nichtsdestoweniger bin ich nicht im Stande gewesen, den Einfluss meines früheren und damals sehr verbreiteten Glaubens, dass jede Species absichtlich erschaffen worden sei, zu annul-liren, und dies führte mich zu der stillschweigenden Annahme, dass jedes einzelne Structurdetail, mit Ausnahme der Rudimente, von irgendwelchem speciellen, wenn auch unerkannten Nutzen sei. Mit dieser Annahme im Sinne würde wohl ganz natürlich Jedermann die Wirkung der natürlichen Zuchtwahl, sei es während früherer oder jetziger Zeit, zu hoch anschlagen. Einige von Denen, welche das Princip der Evolution annehmen, aber natürliche Zuchtwahl verwerfen, scheinen zu vergessen, während sie mein Buch kritisiren, dass ich die beiden eben erwähnten Absichten vor Augen hatte. Wenn ich daher auch darin ge-

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Cap. 4.                                       Natürliche Zuchtwahl.                                  133

irrt haben sollte, dass ich der natürlichen Zuchtwahl eine grosse Kraft zuschrieb, was ich aber durchaus nicht zugebe, oder dass ich ihren Ein-fluss übertrieben hätte, was an sich wahrscheinlich ist, so habe ich, wie ich hoffe, wenigstens dadurch etwas Gutes gestiftet, dass ich beigetragen habe, das Dogma einzelner Schöpfungen mnzustossen.

Dass alle organischen Wesen mit Einschluss des Menschen viele Modificationen des Körperbaus darbieten, welche für dieselben jetzt von keinem Nutzen sind und es auch früher nicht gewesen sind, ist, soviel ich jetzt erkennen kann, wahrscheinlich. Wir wissen, nicht, was die zahllosen unbedeutenden Verschiedenheiten zwischen den Individuen einer jeden Species hervorbringt; denn der Rückschlag verlegt das Problem nur wenige Schritte rückwärts; und doch muss jede Eigentümlichkeit ihre eigene wirksame Ursache gehabt haben. Sollten diese Ursachen, welcher Art sie auch gewesen sein mögen, gleichförmiger und energischer längere Zeit hindurch wirken (und es lilsst sich kein Grund dafür annehmen, warum dies nicht zuweilen eintreten sollte), so würde das Resultat das Auftreten nicht bloss unbedeutender individueller Verschiedenheiten, sondern scharf markirter, constanter Modificationen sein. Modificationen nun, welche in keiner Weise wohlthätig sind, können durch natürliche Zuchtwahl nicht gleichförmig gehalten worden sein, wennschon alle solche,-welche nachtheilig waren, durch dieselbe beseitigt worden sind. Indessen würde Gleichförmigkeit des Characters natürliche Folge der angenommenen Gleichförmigkeit der anregenden Ursachen sein, wie auch in gleicher Weise Folge der ungehinderten Kreuzung vieler Individuen. Derselbe Organismus kann daher auf diese Weise im Verlauf aufeinanderfolgender Zeiträume nach einander mehrere Modificationen erlangen, und diese werden in einem nahezu gleichförmigen Zustande überliefert werdeu, so lange die anregenden Ursachen dieselben bleiben und freie Kreuzung eintreten kann. In Bezug auf diese anregenden Ursachen können wir hier, ebenso wie bei Besprechung der sogenannten spontanen Abänderungen, nur sagen, dass sie in einer viel innigeren Beziehung zu der Constitution des abändernden Organismus als zu den Naturbedingungen, denen jener ausgesetzt war, stehen.

S c h 1 u s s. — Wir haben in diesem Capitel gesehen, dass in derselben Weise, wie der Mensch heutzutage so wie jedes andere Thier verschiedenartigen individuellen Verschiedenheiten oder unbedeutenden Abänderungen ausgesetzt ist, auch ohne Zweifel die früheren Urerzenger

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Entwickclungsweisc des Menschen.

1. Theil.

des Mcnsclien es waren. Die Abänderungen waren damals, wie sie es jetzt sind, Folgen derselben allgemeinen Ursachen und unterlagen denselben allgemeinen und complicirten Gesetzen. Wie alle Thiere sich über die Grenzen ihrer Subsistenzmittel hinaus zu vervielfältigen streben, so muss dies auch mit den Urerzeugern des Menschen der Fall gewesen sein, und dies wird unvermeidlich za einem Kampfe nm's Dasein und zu natürlicher Zuchtwahl geführt haben. Dieser letztere Vorgang wird in grossem Maasse durch die vererbten Wirkungen des vermehrten Gebrauchs der Theile unterstützt worden sein, da beide Vorgänge unablässig gegenseitig auf einander zurückwirken. Es scheint auch, wie wir hernach noch sehen werden, dass verschiedene bedeutungslose Charactere vom Menschen durch geschlechtliche Zuchtwahl erlangt worden sind. Ein noch unerklärter Kost von Veränderungen, und vielleicht ein grosser, muss der Annahme einer gleichförmigen Wirkung jener unbekannten Einflüsse ülierlassen bleiben, welche gelegentlich scharf gezeichnete 'und plötzlich auftretende Abweichungen des Bans bei unsern domesti-cirten Erzeugnissen hervorbringen.

Nach den Gewohnheiten der Wilden und der grösseren Zahl der Quadrunianen zu iirtheilen, lebte der Urmensch und selbst die affenähnlichen Urerzeuger des Menschen wahrscheinlich gesellig. Bei im strengen Sinne socialen Thieren wirkt natürliche Zuchtwahl zuweilen in-direct auf das Individuum durch die Erhaltung von Abänderungen, welche nur der Genossenschaft wohlthätig sind. Eine Genossenschaft, welche eine grosse Anzahl gut angelegter Individuen umfasst, nimmt an Zahl zu und besiegt andere und weniger gut begabte Gesellschaften, wennschon jedes einzelne Glied über die anderen Glieder derselben Gesellschaft keinen Vortheil erlangen mag. Bei gesellig lebenden Insecten sind viele merkwürdige Bildungs-Eigenthümliclikeiten, welche dem Individuum oder seinen Nachkommen von geringem oder gar keinem Nutzen sind, wie z. B. der pollensammelnde Apparat oder der Stachel der Ar-beiterbieuen oder die grossen Kiefer der Soldatenameisen, erlangt worden. Von den höheren gesellig lebenden Thieren ist mir nicht bekannt, dass irgendwelche Bildungs-Eigenthümlichkeit nur zum Besten der ganzen Gesellschaft modifkirt worden wäre, wenn auch einige für dieselbe von secuiidärem Nutzen sind. So erscheinen z. ß. die Hörner der Wiederkäuer und die grossen Eckzähne der Paviane von den Männchen als Waffen für den geschlechtlichen Kampf erlangt worden zu sein, sie werden aber auch zur Verteidigung der Heerde oder Truppe benutzt.

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Cap. 4.                                     Hülfloser Zustand.                                          135

Was gewisse geistige Fähigkeiten betrifft, so liegt der Fall, wie wir im folgenden Capitel sehen werden, gänzlich verschieden; denn diese Fälligkeiten sind hauptsächlich oder selbst ausschliesslich zum Nutzen der Gesellschaft erlangt worden, wobei die Individuen, welche die Gesellschaft zusammensetzen, zu derselben Zeit indirect eine Begünstigung erfahren haben.

Den im Vorstehenden entwickelten Ansichten ist oft entgegengehalten worden, dass der Mensch eines der hülflosesten und vertheidigungs-loscsten Geschöpfe in der Welt ist und das er während seines frühen und weniger gut entwickelten Zustandes noch hülfloser gewesen sein wird. Der Herzog vonÄRGYLL81 behauptet z. B., „dass der menschliche Körperbau von der Bildung der Thiere nach der Richtung grosser physi-„scher Haltlosigkeit und Schwäche hin abgewichen ist; d. h. es ist eine .Divergenz eingetreten, welche von allen Uebrigen am unmöglichsten „blosser natürlicher Zuchtwahl zugeschrieben werden kann." Er führt an: den nackten und unbeschützten Zustand des Körpers, das Fehlen grosser Zähne und Klauen zur Verteidigung, die geringe Körperkraft des Menschen, seine geringe Schnelligkeit im Piennen und sein unbedeutendes Geruchsvermögen, durch welches Nahrung gefunden und Gefahr vermieden werden könne. Diesen Mangelhaftigkeiten hätte sich noch der noch bedenklichere Verlust der Fähigkeit, schnell Bäume zu erklettern und dadurch vor Feinden zu entfliehen, hinzufügen lassen. Wenn man sieht, dass die unbekleideten Feuerländer in ihrem schauerlichen Clima existiren können, so wird der Verlust des Haarkleides für den Urmenschen keine grosse Schädigung gewesen sein, wenn er ein warmes Land bewohnte. Wenn man den vertheidigungslosen Menschen mit den Allen vergleicht, von denen viele mit fürchterlichen Eckzähnen ausgerüstet sind, so müssen wir uns daran erinnern, dass im völlig entwickelten Zustande nur die Männchen solche besitzen, indem sie sie hauptsächlich zum Kampf mit ihren Nebenbuhlern brauchen; und doch sind die Weibchen, welche nicht damit versehen sind, völlig im Stande, leben zu bleiben.

In Bezug auf die körperliche Grösse oder Kraft wissen wir nicht, ob der Mensch von irgend einer vergleichsweise kleinen Art, wie der Schimpanse, abstammt oder von einer so mächtigen wie der Gorilla, und wir können daher auch nicht sagen, ob der Mensch grösser und stärker oder kleiner und schwächer im Vergleich zu seinen Urerzeugern 81 Primoval man 18(30, p. GG.

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Entwickelungsweise des Menschen.

I. Theil.

geworden ist. Wir müssen indess im Auge behalten, dass ein Thier, welches bedeutende Grösse, Kraft und Wildheit besitzt und welches, wie der Gorilla, sieh gegen alle Feinde vertheidigen kann, wahrscheinlich, wenn auch nicht nothwendig, nicht social geworden sein wird, und dies würde in äusserst wirksamer Weise die Entwicklung jener höheren geistigen Eigenschaften beim Menschen, wie Sympathie und Liebe zu seinen Mitgeschöpfen, gehemmt haben. Es dürfte daher von einem unendlichen Vortheil für den Menschen gewesen sein, von irgend einer verhältnismässig schwachen Form abgestammt zu sein.

Die geringe körperliche Kraft des Menschen, seine geringe Schnelligkeit, der Mangel natürlicher Waffen u. s. w. werden mehr als ausgeglichen erstens durch seine intellectnellen Kräfte, durch welche er sich, während er noch im Zustande der Barbarei verblieb, Waffen, Werkzeuge u. s. w. formen lernte, und zweitens durch seine sociale Eigenschaften, welche ihn dazu führten, seinen Mitmenschen Hülfe angedeihen zu lassen und solche wiederum von ihnen zu empfangen. Kein Land auf der Erde ist in einem grösseren Grade so dicht mit gefährlichen Thieren erfüllt als Südafrika, kein Land bietet fürchterlichere Leidensquellen dar als die aretischen' Gegenden, und doch behauptet sieh eine der schwächsten Rassen, nämlich die Buschmänner, in Südafrika ebenso wie es die zwergischen Eskimo's in den aretischen Gegenden thun. Die früheren Urerzeuger des Menschen kamen ohne Zweifel an Tntellect und wahrscheinlich an socialen Anlagen den niedrigsten jetzt existirenden Wilden nicht gleich; es ist aber völlig gut einzusehen, dass sie existirt und sogar geblüht haben können, wenn sie in derselben Zeit an intel-lectueller Ausbildung gewannen, während sie allmählich ihre thierähn-lichen Fähigkeiten, wie die zum Klettern auf Bäumen u. s. w. verloren. Aber zugegeben, dass die Urerzeuger des Menschen bei Weitem hülfloser und vertheidigungsloser waren als irgendwelche -jetzt existirende AVildo: sobald sie irgend einen warmen Continent oder eine grosse Insel, wie Australien oder Neuguinea oder Borneo bewohnten (die letztere Insel bewohnt jetzt der Orang), so würden sie keiner besonderen Gefahr ausgesetzt gewesen sein. Auf einem Bezirk, welcher so gross als eine dieser Inseln ist, würde die Concurrenz zwischen den einzelnen Stämmen hinreichend gewesen sein, um unter günstigen Bedingungen den Mensehen durcli das Ueberlebenbleiben des Passendsten in Verbindung mit den vererbten Wirkungen der Gewohnheit auf die jetzige hohe Stellung in der Reihe der Organismen zu erhoben.

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Fünftes Capitel.

lieber die Entwicklung der intelle.ctu eilen und moralischen Fähigkeiten während der Urzeit und der civilisirten Zeiten.

Fortschritt der intellectnellen Kräfte durch natürliche Zuchtwahl. — Bedeutung der Nachahmung. — Sociale und moralische Fähigkeiten. — Ihre Entwicke-lung innerhalb der Grenzen eines und desselben Stammes. — Natürliche Zuchtwahl in ihrem Einfluss auf civilisirte Nationen. — Beweise, dass civi-lisirte Nationen einst barbarisch waren.

Die in diesem Capitel zu erörternden Gegenstände sind von dem höchsten Intoresse, werden aber von mir in einer sehr unvollkommenen und fragmentaren Weise behandelt werden. In einem schon vorhin erwähnten ausgezeichneten Aufsatze meint Mr. Waixace ', dass der Mensch, nachdem er zum Theil jene intellectuellen und moralischen Fähigkeiten erlangt hätte, welche ihn von den niederen Thieren unterschieden, nur wenig eine weitere, in Folge natürlicher Zuchtwahl oder anderer Ursachen eintretende Modification seiner körperlichen Bildung erfahren haben würde. Denn durch seine geistigen Fähigkeiten ist der Mensch in den Stand gesetzt, sich bei einem nicht weiter veränderten Körper mit dem sich weiter veränderten Universum in Harmonie zu erhalten. Er hat eine bedeutende Fähigkeit, seine Gewohnheiten neuen Lebensbedingungen anzupassen, er erfindet Waffen, Werkzeuge und verschiedene Pläne, um sich Nahrung zu verschaffen und sich zu vertheidigen. Wenn er in ein kälteres Clima wandert, benutzt er Kleider, baut sich Hütten und macht Feuer, und mit Hülfe des Feuers bereitet er sich durch Kochen Nahrung aus sonst unverdaulichen Stoffen. Er hilft seinen Mitmenschen in mannichfacher Weise und schliesst auf zukünftige Ereignisse. Selbst in einer sehr entfernten Zeit schon wandte er eine Theilung der Arbeit an.

Andererseits müssen die niederen Thierc Modifikationen ihres Körperbaues erleiden, um unter bedeutend veränderten Bedingungen leben

1 Anthropological Review. May 1864. p. CLVIII.

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Intcllcctucllc Fälligkeiten.

I. Theil.

zu bleiben. Sie müssen stärker werden oder wirksamere Zähne oder Klauen erhalten, um sich gegen neue Feinde zu vertheidigen, oder sie müssen an Grösse redneirt werden, um weniger leicht entdeckt werden zu können und Gefahren zu entgehen. Wandern sie in ein kälteres Clima aus, so müssen sie mit dickerem Pelze bekleidet werden und ihre Constitution muss sieh ändern. Werden sie nicht in dieser Weise modificirt, so werden sie aufhören, zu existiren.

Wie indessen Mr. Wallace mit Beeht betont hat, liegt der Fall in Bezug auf die intellectuellen und moralischen Fähigkeiten des Menschen sehr verschieden. Diese Fähigkeiten sind variabel, und wir haben allen Grund zu glauben, dass die Abweichungen zur Vererbung neigen. Wenn sie daher früher für den Urmenschen und seine affenäliulicheu Urerzeugcr von grosser Bedeutung waren, so werden sie durch natürliche Zuchtwahl vervollkommnet oder fortgeschritten sein. Ueber die grosse Bedeutung der intellectuellen Fähigkeiten kann kein Zweifel bestehen, denn der Mensch verdankt ihnen hauptsächlich seine hervorragende Stellung auf der Erde. Wir sehen ein, dass auf dem rohesten Zustande der Gesellschaft diejenigen Individuen, welche die scharfsinnigsten waren, welche die besten Waffen oder Fallen erfanden und benutzten und welche wohl am besten im Stande waren, sich zu vertheidigen, die grösste Zahl von Nachkommen erzogen haben werden. Diejenigen Stämme, welche die grösste Anzahl von begabten Menschen umfassten, müssten an Zahl vermehrt worden sein und andere Stämme unterdrückt haben. Die Zahl hängt an erster Stelle von den Sub-sisteuzmitteln ab und diese wieder theil weise von der plrysikalischen Beschaffenheit des Landes, aber in einem bedeutend höheren Grade von den dort ausgeübten Künsten. In dem Maasse als ein Stamm sich vergrössert und siegreich ist, wird er sich oft noch weiter durch die Absorption anderer Stämme vergrössem '-. Die Körpergrösse und Kraft der Menschen eines Stammes sind gleichfalls für seinen Erfolg von ziemlicher Bedeutung und hängen zum Theil von der Beschaffenheit und der Menge der Nahrung ab, welche erlangt werden kann. In Europa wurden die Menschen der Bronzeperiode von einer kräftigeren und, nach ihren Schwertgriffen zu urtheilen, auch grosshändigeren Basse ver-

- Wenn die Glieder eines Stammes oder ganze Stämme eine Zeit lang in einem andern Stamm aufgegangen sind, nehmen sie, wie Mr. Maine bemerkt (Ancient'Law, 1861, p. 131) an, dass sie Nachkommen derselben Voreltern wie die Glieder des letzteren seien.

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Cap. 5.                                  Natürliche Zuchtwahl.                                       139

drängt 3; der Erfolg dieser war aber wahrscheinlich in einem bedeutend höheren Grade Folge ihrer Ueberlegenheit in den Künsten.

Alles was wir über Wilde wissen oder was wir aus ihren Traditionen und alten Denkmälern, deren Geschichte von den jetzigen Einwohnern vollständig vergessen ist, schliessen können, weist darauf hin, dass von den entferntesten Zeiten an erfolgreiche Stämme andere Stämme verdrängt haben. Ueberreste ausgestorbener oder vergessener Stämme sind in allen civilisirten Gegenden der Erde, auf den wilden Steppen von Amerika und auf den isolirten Inseln des Stillen Oceans entdeckt worden. Noch heutigen Tages verdrängen überall civilisirte Nationen barbarische, ausgenommen da wo das Clima eine tödtliche Grenze zieht, und sie haben hauptsächlich, wenn auch nicht ausschliesslich, ihren Erfolg ihren Kunstfertigkeiten zu danken, welche wiederum das Product ihres Verstandes sind. Es ist daher höchst wahrscheinlich, dass beim Menschen die intellectneilen Fähigkeiten allmählich durch natürliche Zuchtwahl vervollkommnet worden sind, und dieser Schlnss genügt für unseren vorliegenden Zweck. Unzweifelhaft würde es sehr interessant gewesen sein, die Entwickelung jeder einzelnen Fälligkeit von dem Zustande, in welchem sie bei niederen Thieren existirt, zu dem, in welchem sie beim Menschen vorhanden ist, zu verfolgen, doch gestatten mir weder meine Fähigkeit noch meine Kenntnisse, diesen Versuch zu machen.

Es verdient Beachtung, dass, sobald die Urerzeuger des Menschen social wurden (und dies trat wahrscheinlich zu einer sehr frühen Periode ein) die Fortschritte der intellectneilen Fähigkeiten in einer bedeutungsvollen Weise, und zwar in einer Weise unterstützt und motivirt sein werden, von welcher wir jetzt bei den niederen Thieren nur Spuren sehen, nämlich durch das Prineip der Nachahmung in Verbindung mit Verstand und Erfahrung. Affen ahmen sehr gern Alles nach, wie es auch die niedrigsten Wilden thun, und die einfache, früher schon erwähnte Thatsache, dass nach einer gewissen Zeit kein Thier an demselben Ort durch dieselbe Art von Fallen gefangen werden kann, zeigt, dass Thiere durch Erfahrung lernen und die Vorsicht ihrer Genossen nachahmen. Wenn nun in einem Stamme irgend ein Mensch, welcher scharfsinniger war als die Uebrigen, eine neue Finte oder Waffe oder irgend ein anderes Mittel des Angriffs oder der Vertheidigung erfand,

:i Morlot, Soe. Vaucl. Scienc. Not. 1860, p. 294.

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140                       Intellcctnelle und moralische Fälligkeiten.                  I. Theil.

so würde das offenbarste eigene Interesse, ohne die Unterstützung grosser Verstandesthätigkeit, die andern Glieder des Stammes dazu bringen, ihm nachzuahmen, und hierdurch würden Alle Vortheile haben. Die gewohnheitsgemässe Uebung jeder neuen Kunst muss gleichfalls in einem unbedeutenden Grade den Verstand kräftigen. Wäre die neue Erfindung von grosser Bedeutung, so würde der Stamm an Zahl zunehmen, sich verbreiten und andere Stämme verdrängen. In einem hierdurch zahlreicher gewordenen Stamme würde auch die Wahrscheinlichkeit immer grösser sein, dass andere ausgezeichnete und erfinderische Glieder geboren werden. Hinterliessen solche Leute Kinder, welche deren geistige Ueberlegenheit erben konnten, so wird die Wahrscheinlichkeit der Geburt von noch ingeniöseren Mitgliedern wieder grösser werden und bei einem sehr kleinen Stamme besonders ganz entschieden grösser. Selbst wenn sie keine Kinder hinterliessen, würde doch der Stamm wenigstens Blutverwandte von ihnen noch enthalten, und es ist von Landwirthen 4 nachgewiesen worden, dass durch das Erhalten einer Familie und das Nachzuchten von ihr, wenn sich überhaupt nur ein Thier aus derselben beim Schlachten als ein werthvolles herausstellte, die gewünschte Beschaffenheit erlangt worden ist.

Wenden wir uns nun zu den socialen und moralischen Fähigkeiten. Damit die Urmenschen oder die affenähnlichen Urerzeuger des Menschen social würden, mussten sie dieselben instinctiven Gefühle erlangt haben, welche andere Thiere dazu treiben, in Menge beisammen zu leben, und sie boten ohne Zweifel dieselbe allgemeine Disposition dazu dar. Sie werden sich uugemüthlich gefühlt hsben, wenn sie von ihren Kameraden getrennt waren, für welche sie einen gewissen Grad von Liebe gefühlt haben; sie werden einander vor Gefahr gewarnt haben und werden sich gegenseitig beim Angriff oder bei der Verteidigung geholfen haben. Alles dies setzt einen gewissen Grad von Sympathie, von Treue und von Muth voraus. Derartige sociale Eigenschaften, deren wichtige Bedeutung für die niederen Thiere Niemand bestritten hat, wurden ohne Zweifel von den Urerzeugern des Menschen auch in einer ähnlichen Weise erlangt, nämlich durch natürliche Zuchtwahl mit Unterstützung einer vererbten Gewohnheit. Kamen zwei Stämme des Urmenschen, welche in demselben Lande wohnten, mit einander in

1 Beispiele habe ich in meinem Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 2, S. 2G3 gegeben.

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Cap. 5.                     Moralische Fähigkeiten eines Stammes.                          141

Coiicurrenz, so wird, wenn der eine Stamm bei völliger Gleichheit aller übrigen Umstünde eine grössere Zahl muthiger, sympathischer und treuer Glieder umfasste, welche stets bereit waren, einander vor Gefahr zu warnen, einander zu helfen und zu vertheidigen, dieser Stamm ohne Zweifel am besten gediehen sein und den andern besiegt haben. . Man darf nicht vergessen, von welcher unendlichen Bedeutung bei den nie aufhörenden Kriegen der Wilden Treue und Muth sein müssen. Die Ueberlegenheit, welche disciplinirte Soldaten über undisciplinirte Massen zeigen, ist hauptsächlich eine Folge des Vertrauens, welches Jeder "in seine Kameraden setzt. Gehorsam ist, wie Mr. Bagehot sehr gut entwickelt hat 5, von der höchsten Bedeutung, denn irgend eine Form von Regierung ist besser als gar keine. Selbstsüchtige und streitsüchtige Leute werden nicht zusammenhalten , und ohne Zusammenhalten kann nichts ausgerichtet werden. Ein Stamm, welcher die obengenannte Eigenschaft in hohem Grade besitzt, wird sich verbreiten und anderen Stämmen gegenüber siegreich sein; aber im Laufe der Zeit wird nach dem Zeugniss der ganzen vergangenen Geschichte auch er an seinem Theil von irgend einem andern und noch höher begabten Stamme überflügelt werden. Hierdurch werden die socialen und moralischen Eigenschaften sich langsam-zu erhöhen und durch die ganze Erde zu verbreiten neigen. Man könnte aber nun fragen: woher kam es, dass innerhall) der Grenzen eines und desselben Stammes eine grössere Anzahl seiner Glieder zuerst mit socialen und moralischen Eigenschaften begabt wurde und wodurch wurde der Maassstab der Vorzüglichkeit erhöht ? Es ist äusserst zweifelhaft, ob die Nachkommen der sympathischeren und wohlwollenderen Eltern oder derjenigen, welche ihren Kameraden am treuesten waren, in einer grösseren Anzahl aufgezogen wurden als die Kinder selbstsüchtiger und verräterischer Eltern desselben Stammes. Wer bereit war, sein Leben eher zu opfern als seine Kameraden zu verrathen, wie es gar mancher Wilde gethan hat, der wird oft keine Nachkommen hinterlassen, seine edle Natur zu vererben. Die tapfersten Leute, welche stets sich willig fanden, sich im Krieg an die Spitze ihrer Genossen zu stellen, und welche ihr Leben für Andere in die Schanze schlugen, werden im Mittel in einer grösseren Zahl umkommen als andere MenschenT Wenn wir uns daher hier erinnern, dass wir nicht davon sprechen, dass ein Stamm einen andern besiegt, so

5 s. eine'Reihe merkwürdiger Artikel „ou Physics and Politics" in: Fort-nightly Review. Nov. 1867, 1. Apr. 1808, 1. Juli 1809.

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142                                      Moralische Fälligkeiten.                               I. Tlieil.

scheint es kaum möglich , dass die Zahl mit solchen Tugenden ausgerüsteter Menschen oder der Maassstab ihrer Vortrefflichkeit durch natürliche Zuchtwahl, d. h. durch das Ueberlebenbleiben des Passendsten erhöht werden könnte.

Wenngleich die Umstände, welche zu einer Zahlenzunahme so begabter Leute innerhalb eines und desselben Stemme« führen, zu com-plicirt sind, um einzeln deutlich verfolgt zu werden, so können wir doch einige der wahrscheinlichen Schritte, verfolgen. So wird an erster Stelle in der Weise wie die Verstandeskräfte und die Voraussicht der einzelnen Glieder sich bessern, jeder Mensch bald aus Erfahrung lernen, dass, wenn er seine Mitmenschen unterstützt, er auch gewöhnlich in Erwiderung Hülfe von ihnen erfahren wird. Aus diesem niedrigen Motive kann er die Gewohnheit, seinen Genossen zu helfen, erlangen; und die Gewohnheit, wohlwollende Handlungen auszuüben, kräftigt sicherlich das Gefühl der Sympathie, welches den ersten Antrieb zu wohlwollenden Handlungen abgibt. Ueberdies neigen Gewohnheiten, welchen mehrere Generationen hindurch die Menschen gefolgt sind, wahrscheinlich zur Vererbung.

Es gibt aber einen andern und noch Kräftigeren Antrieb zur Ent-wickeluug der socialen Tugenden, nämlich das Lob und den Tadel unserer Mitmenschen. Die Sucht nach Anerkennung und die Furcht vor Beschimpfung, ebenso wie die Aussprache von Lob und Tadel sind, wie wir im dritten Capitel gesehen haben, au erster Stelle Folge des In-stinets der Sympathie und dieser Instinct wurde ursprünglich wie alle übrigen socialen Instincte durch natürliche Zuchtwahl erlangt. In was für einer frühen Periode die Urerzeuger des Menschen im Lauf ihrer Entwickelung fähig wurden, das Lob oder den Tadel ihrer Mitgeschöpfe zu fühlen und durch sie beeinflusst 'zu werden, können wir natürlich nicht sagen; aber es scheint, dass selbst Hunde Ermuthigung, Lob und Tadel wohl zu schätzen wissen. Die rohesten AVilden keimen das Ge-

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fühl des Ruhms, wie sie deutlich durch das Aufbewahren der' Trophäen ihrer Tapferkeit, durch die Gewohnheit des excessiven Sich-Rühmens und selbst durch die extreme Sorgfalt zeigen, welche sie auf ihre persönliche Erscheinung und Decoration verwenden. Denn wenn sie die Meinung ihrer Kameraden gar nicht beachteten, so würden derartige Gewohnheiten sinnlos sein.

Gewiss empfinden sie Scham bei dem Verletzen einiger ihrer einfacheren Gesetze; inwieweit sie aber Gewissensbisse empfinden, ist zwei-

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Cap. 5.

Moralische Fähigkeiten eines Stammes.

143

felhaft. Ich war anfangs erstaunt, dass ich mich keiner irgendwo erzählten Beispiele für dieses Gefühl bei Wilden erinnern konnte, und auch Sir J. Lubbock führt anG, dass ihm keines bekannt sei. AVenn wir aber alle in ßomaneu und Schauspielen gegebenen Fälle und alle auf dem Sterbebette deu Priestern anvertraute Bekenntnisse aus unserer Erinnerung streichen, so zweifle ich, ob Viele von uns wirklich Zeugen von Gewissensbissen gewesen sind, trotzdem wir oft Scham und Zerknirschung wegen kleinerer Vergehen mit angesehen haben. Innere Vorwürfe sind ein sehr tief verheimlichtes Gefühl. Es ist unglaublich, dass ein AVilder, welcher sein Leben eher opfert, als dass er seinen Stamm verräth, oder dass Einer, der sich selbst eher als Gefangener überliefert, .als dass er sein AArort bricht 7, nicht in seiner innersten Seele Vorwürfe fühlen sollte, wenn er sie auch verbirgt, sobald er eine Pflicht versäumt hat, welche er für heilig hält.

Wir können daher schliessen, dass der Urmensch in eiuer äusserst entfernten Zeit durch das Lob und den Tadel seiner Genossen beein-flusst worden sein wird. Offenbar werden die Mitglieder eines und desselben Stammes ein Benehmen, welches ihnen als ein das allgemeine Beste förderndes erschien, lobend anerkennen und ein solches verwerfen, welches ihnen übelbringend erschien. Andern Gutes zu thuu, — Andern zu thun als Ihr wollt, dass man Euch thue — ist der Grundstein der Moralität. Es ist daher kaum möglich, die während der Zeiten der Rohheit bedeutungsvolle Wirkung des Wunsches nach Lob und der Furcht vor Tadel zu überschätzen. Ein Mensch, welcher durch kein tiefes instinetives Gefühl dazu getrieben wurde, sein Leben für das Beste Anderer zu opfern, dagegen zu solchen Handlungen durch ein Gefühl des Kuhms veranlasst wurde, würde durch sein Beispiel denselben Wunsch nach Buhm bei andern Menschen erregen- und würde durch Uebung das edle Gefühl der Bewunderung kräftigen. Er kann auf diese AVeise seinem Stamme viel mehr Gutes thuu, als durch Erzeugung einer Nachkommenschaft, welcher die Tendenz innewohnt, seinen eigenen edeln Character zu erben.

Mit der Zunahme der Erfahrung und des A'erstandes lernt der Mensch die entfernteren Wirkungen seiner Handlungen erkennen und

6  Origin of Civilisation. 1870, p. 2G5.

7  Mr. Wallace führt Fälle hiervon an in seinen Contrihutions to the theory of Xatural Seleetion. 1870, p. 354.

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144                                     Moralische Fähigkeiten.                                I. Theil.

lernt auch die das Individuum betreffenden Tugenden, wie Massigkeit, Keuschheit u. s. w., welche während sehr früher Zeiten, wie wir vorher gesehen haben, vollständig unbeachtet bleiben werden, nun sehr hochschätzen oder selbst für heilig halten. Ich brauche indessen nicht zu wiederholen, was ich im dritten Capitel über diesen Gegenstand gesagt habe. Zuletzt wird sich denn unser moralisches Gefühl oder Gewissen gebildet haben, jene äusserst complicirte Erscheinung, die ihren ersten Ursprung in den socialen Instincten hat, die in grossem Maasse von der Anerkennung unserer Mitmenschen geleitet, von dem Verstand, dem eigenen Interesse und in späteren Zeiten von tiefreligiösen Gefühlen beherrscht, durch Unterricht und Gewohnheit befestigt und durch alle die genannten Momente im Verein zur Aeusserung gebracht wird.

Es darf nicht vergessen werden, dass, wenn auch eine hohe Stufe der Moralität nur einen geringen oder gar keinen Vortheil für jeden individuellen Menschen und seine Kinder über die andern Menschen in einem und demselben Stamme darbietet, doch ein Fortschritt in dem allgemeinen Maasse der Moralität und eine Zunahme in der Zahl gut begabter Menschen sicher .dem einen Stamm einen unendlichen Vortheil über einen andern verleiht. Es lässt sich nicht zweifeln, dass ein Stamm, welcher viele Glieder umfasst, die in einem hohen Grade den Geist des Patriotismus, der Treue, des Gehorsams, Muths und der Sympathie besitzen und daher stets bereit sind, einander zu helfen und sich für das allgemeine Beste zu opfern, über die meisten andern Stämme den Sieg davontragen wird, und dies würde natürliche Zuchtwahl sein. Zu allen Zeiten haben über die ganze Erde einzelne Stämme andere verdrängt, und da die Moralität ein Element bei ihrem Erfolg ist, so wird die Stufe der Moralität und die Zahl gut begabter Menschen überall zuzunehmen und sich zu vergrössern streben.

Es ist indessen sehr schwer sich irgend ein Urtheil darüber zu bilden, warum ein besonderer Stamm und nicht ein anderer erfolgreich gewesen und in derCivilisationsstufe gestiegen ist. VieleWilde sind noch in demselben Zustande, in welchem sie sich vor mehreren Jahrhunderten befanden als sie entdeckt wurden. Wie Mr. Bagehot bemerkt hat, sind wir geneigt, den Fortschritt als die normale Kegel bei der menschlichen Gesellschaft zu betrachten, aber die Geschichte widerlegt dies. Die Alten hatten nicht einmal diese Idee, ebensowenig wie die orientalischen Nationen sie heutigen Tages haben. Eine andere bedeutende

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Cap. 5. .               Natürliche Zuchtwahl hei Cultnrvölkern.                           145

Autorität, Mr. Maine sagt8: „der grösste Theil der Menschheit hat .niemals auch nur eine Spur eines Wunsches gezeigt, dass seine bürgerlichen Institutionen verbessert werden sollten." Fortschritt scheint von vielen zusammenwirkenden günstigen Bedingungen abzuhängen, die viel zu complicirt sind, um sie hier einzeln zu verfolgen. Es ist aber oft bemerkt worden, dass ein kühleres Clima, weil es zur Industrie und den verschiedenen Kunstfertigkeiten führt, zu jenem Zwecke äusserst günstig oder selbst unentbehrlich gewesen ist. Die Eskimos haben, von starrer Notwendigkeit bedrückt, viele ingeniöse Erfindungen gemacht , aber ihr Clima ist zu streng gewesen, um einen beständigen Fortschritt zu gestatten. Nomadisches Leben, mag es auf weiten Ebenen oder in den dichten Wäldern der Tropenländer oder den Seeküsten entlang geführt worden sein, ist in allen Fällen äusserst nachtheilig gewesen. Bei Beobachtung der barbarischen Einwohner des Feuerlandes fiel es mir auf, dass der Besitz irgendwelchen Eigenthums, ein fester Wohnsitz und die Verbindung vieler Familien unter einem Häuptlinge die unentbehrlichen Requisiten zur Civilisation sind. Derartige Gebräuche fordern fast mit Notwendigkeit die Cultur des Bodens; und die ersten Fortschritte in der Cultur würden wahrscheinlich, wie ich an einem andern Ort gezeigt habe 9, des Resultat irgend solcher Zufälle sein, wie wenn die Samenkörner eines Fruchtbaums auf einen Abraumhaufen fallen und eine ungewöhnlich schöne Varietät hervorbringen. Indessen ist das Problem des ersten Fortschritts der Wilden im Sinne ihrer Civilisation vorläufig viel zu schwer, um gelöst zu werden.

Natürliche Zuchtwahl in ihrem Einfhiss auf civilisirte Nationen. — In dem letzten und dem vorliegenden Capitel habe ich den Fortschritt des Menschen von einem früheren halbmenschlichen zu seinem jetzigen Zustand als ein Barbareiivolk betrachtet. Es dürfte aber doch der Mühe werth sein, einige Bemerkungen über die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl auf civilisirte Nationen hier noch hinzuzufügen. Es ist dieser Gegenstand von Mr. W. ß. Greg ,0 recht gut erörtert worden und früher schon von Mr. Wallace und Mr. Gal-

8  Ancient Law. 1861, p. 22. AVegen Bagehot's Bemerkungen s. Fort-nightly Review, 1. Apr. 18C8, p. 452.

9  Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 1, S. 384, 385.

10  Fraser's Magazine. Sept. 1868, p. 353. Es scheint dieser Aufsatz viele Personen sehr frappirt zu haben; auch hat er zwei merkwürdige Abhandlungen

IHRWix, Abstammung. I. Zwuite Auflage.                                                    10

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{46                       Intellectuelle und moralische Fähigkeiten.                  I. Theil.

ton l'. Die meisten meiner Bemerkungen sind diesen drei Schriftstellern entnommen. Bei Wilden werden die an Geist und Körper Schwachen bald beseitigt und die, welche leben bleiben, zeigen gewöhnlich einen Zustand kräftiger Gesundheit. Auf der andern Seite thun wir civilisirte Menschen alles nur Mögliche, um den Process dieser Beseitigung aufzuhalten. Wir bauen Zufluchtsstätten für die Schwachsinnigen, für die Krüppel und die Kranken, wir erlassen Arniengesetze und unsere Aerzte strengen die grösste Geschicklichkeit an, das Leben eines Jeden bis zum letzten Moment noch zu erhalten. Es ist Grund vorhanden, anzunehmen, dass die Impfung Tausende erhalten hat, welche in Folge ihrer schwachen Constitution früher den Pocken erlegen wären. Hierdurch geschieht es, dass auch die schwächeren Glieder der civili-sirten Gesellschaft ihre Art fortpflanzen. Niemand, welcher der Zucht domesticirter Tliiere seine Aufmerksamkeit gewidmet bat, wird daran zweifeln, dass dies für die Rasse des Menschen im höchsten Grade schädlich sein muss. Es ist überraschend, wie bald ein Mangel an Sorgfalt oder eine unrecht geleitete Sorgfalt zur Degeneration einer domesticirten Basse führt; aber mit Ausnahme des den Menschen betreffenden Falls ist kein Züchter so unwissend, dass er seine schlechtesten Thiere zur Nachzucht zulässt.

Die Hülfe, welche dem Hülflosen zu widmen wir uns getrieben fühlen, ist hauptsächlich das Resultat des Instincts der Sympathie, welcher ursprünglich als ein Theil der socialen Instincte erlangt, aber später in der oben bezeichneten Art und Weise zarter und weiter verbreitet gemacht wurde. Auch könnten wir unsere Sympathie, wenn sie durch den Verstand hart bedrängt würde, nicht hemmen, ohue den edelsten Theil unserer Natur herabzusetzen. Der Chirurg kann sich abhärten, wrenn er eine Operation ausführt, denn er weiss, dass er zum Besten seines Patienten handelt; aber wenn wir absichtlich den Schwa-

hervorgerufen, ebenso eine Entgegnung in The Spectator, 3. Oct. und 17. Oct. 18G8. Ebenso hat er Erörterungen veranlasst im Quart. Journal of Science, 18G9, p. 152, von Mr. Lawson Tait in: The Dublin Quart. Journ. of Medical Science, Febr. 18GU und von E.Kay Laukester in seiner: Comparativc Longe-vity. 1870, p. 128. Aehnliche Ansichten wurden früher schon geäussert in „Au-stralasian" 13. Juli, 1867. Von mehreren dieser Schriftsteller habe ich Ideen entlehnt.

11 "Wallace, in der Anthropolog. Review, am früher angeführten Orte; Galton, in Macmillan's Magazine, Aug. 1805, p. 318. s. auch sein grösseres Werk „Hereditary Genius". 1870.

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Cap. 5.                    Natürliche Zuchtwahl bei Culturvölkern.                         147

chen und Hülflosen vernachlässigen sollten, so könnte es nur geschehen wegen einer aus dieser Vernachlässigung entspringenden grossen Wohl-that trotz dem Vorhandensein eines sicheren und grossen Unglücks. Wir müssen daher die ganz zweifellos schlechte Wirkung des Ueber-lebenbleibens und Vermehreiis der Schwachen ohne weitere Klagen ertragen ; doch scheint wenigstens ein Hinderuiss für die beständige Vermehrung derselben zu existiren, in dem Umstände nämlich, dass die schwächeren und untergeordneteren Glieder "der Gesellschaft nicht so häufig als die Gesunden heirathon; und dies Hemmniss könnte noch ganz ausserordentlich verstärkt werden, trotzdem mau es mehr hoffen als erwarten kann, wenn die an Körper und Geist Schwachen sich des Heirathens enthielten.

In allen civilisirten Ländern häuft der Mensch Besitzthum an und hinterlässt es seinen Kindern, so dass alle Kinder eines und desselben, Landes durchaus nicht gleich gut ausgerüstet ihr Streben nach Erfolg beginnen. Doch ist dies durchaus nicht allein ein Uebel. Denn ohne die Anhäufung von Capital könnten die Künste keine Fortschritte machen und es ist hauptsächlich durch die Kraft dieser geschehen, dass die civilisirten Rassen sich verbreitet haben und jetzt noch immer ihren Bezirk erweitern, so dass sie die Stelle der niedrigeren Rassen einnehmen. Auch stört die massige Anhäufung von Wohlstand den Pro-cess der Zuchtwahl durchaus nicht. Wenn ein armer Mensch reich wird, so beginnen seine Kinder den Handel oder ein Gewerbe, in welchem es des Kampfes genug gibt, so dass der an Körper und Geist Fähigere am besten fortkommt. Das Vorhandensein einer Menge gut unterrichteter Leute, welche nicht um ihr täglich Brod zu arbeiten haben, ist in einem Grade bedeutungsvoll, welcher nicht überschätzt werden kann; denn alle intellectuelle Arbeit wird von ihnen verrichtet und von solcher Arbeit hängt der materielle Fortschritt in allen Formen hauptsächlich ab, um andere und höhere Vortheile gar nicht zu erwähnen. Wird der Wohlstand sehr gross, so verwandelt er ohne Zweifel leicht die Menschen in unnütze Drohnen, aber ihre Zahl ist niemals gross und ein Eliminationsprocess tritt in einem gewissen Grade auch hier ein, da wir täglich sehen, wie reiche Leute närrisch oder verschwenderisch werden und allen ihren Wohlstand vergeuden.

Primogenituren mit Majoritätsgütern ist ein directeres Uebel, trotzdem es früher von grossem Vortheil gewesen sein mag, nämlich wegen der durch sie erreichten Bildung einer vorherrschenden Classe; denn

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148                       Intellectuelle und moralische Fähigkeiten.                   I. Theil.

irgend eine Regierung ist besser als Anarchie. Die ältesten Söhne, mögen sie auch an Körper oder Geist schwach sein, heirathen gewöhnlich, während die jüngeren Söhne, so überlegen sie auch in den eben-genannten Beziehungen sein mögen, nicht so allgemein heirathen. Auch können unwürdige älteste Söhne mit Familiengiitern ihren Reichthum nicht verschwenden. Aber hier sind, wie in andern Punkten, die Beziehungen des civilisirten Lebens so complicirt, dass noch andere com-pensatorische Hemmnisse eingreifen. Die Männer, welche durch Primogenitur reich sind, sind im Stande, Generation nach Generation sich die schöneren und reizvolleren Frauen zu wählen, und diese müssen allgemein an Körper gesund und an Geist lebendig sein. Den schlimmen Folgen, wie deren hier auftreten können, einer beständigen Reinhaltung derselben Descendenzreihe ohne irgendwelche "Wahl wird stets von Männern von Rang vorgebeugt, welche ihre Macht und ihren Reichthum zu vergrössern wünschen; und diese bewirken sie dadurch, dass sie Erbinnen heirathen. Aber die Töchter von Eltern, welche nur einzige Kinder erzeugt haben, sind für sich schon, wie Mr. Galton '- gezeigt hat, leicht steril. Daher werden beständig Adelsfamilien in der direc-ten Linie aussterben, so dass ihr Reichthum in irgend eine Seitenlinie überfliesst; unglücklicherweise wird aber diese Linie nicht durch Supe-riorität irgend welcher Art bestimmt.

Obgleich hiernach die Civilisation auf viele "Weisen die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl hemmt, so begünstigt dieselbe offenbar mittelst der verbesserten Nahrung und des Befreitseins von gelegentlichen Nothständen die bessere Entwickelung des Körpers. Dies lässt sich daraus schliessen, dass, wo man auch den Vergleich angestellt haben mag, civilisirte Leute immer physisch kräftiger gefunden wurden als Wilde. Sie scheinen auch gleiche Kraft der Ausdauer zu haben, wie in vielen abenteuerlichen Expeditionen sich gezeigt hat. Selbst der grosse Luxus der Reichen kann nur in geringem Grade liachtheilig sein. Denn die wahrscheinliche Lebensdauer unserer Aristokratie ist auf allen Altersstufen und in beiden Geschlechtern sehr unbedeutend geringer als diejenige gesunder Engländer der niederen Classen 13.

Wir wollen nun die intellectuellen Fähigkeiten allein betrachten. "Wenn wir auf jeder Stufe der Gesellschaft die Glieder in zwei gleiche

12  Hereditary Genius, 1870, id. 132—140.

13  s. die fünfte und sechste nach guten Quellen zusammengestellte Columne der Tahelle in E. Ray Lankester's Comparative Longevity. 1870, \i. 115.

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Cap. 5.                    Natürliche Zuchtwahl bei Culturvölkern.                          149

Massen thcilten, von denen die eine diejenigen umfasste, welche intel-lectuell höher begabt wären, die andere die ihnen untergeordneteren, so lässt sich kaum zweifeln, dass die erstere in allen Beschäftigungen bessere Erfolge erzielen und eine grössere Anzahl von Kindern aufbringen würde. Selbst in den niedrigsten Schichten des Lebens muss Geschick und Fälligkeit von irgendwelchem Vortlieil sein, wenn auch wegen der grossen Arbeitstheilung in vielen Thätigkcitszweigen nur von sehr geringem. Es wird daher bei civilisirten Nationen eine Neigung bestehen, sowohl der Zahl als dem Grade der intellectuellen Fähigkeiten nach zuzunehmen. Doch möchte ich nicht behaupten, dass diese Neigimg nicht auf anderem Wege mehr als ausgeglichen wird, wie z. B. durch die Vervielfältigung der Leichtsinnigen und Sorglosen; aber selbst für diese muss Geschicklichkeit von irgendwelchem Vortlieil sein.

Ansichten wie den eben vorgetragenen ist oft entgegengehalten worden, dass die ausgezeichnetsten Leute, welche je gelebt haben, keine Nachkommen hinterlassen haben, um ihren grossen Intcllect zu vererben. Mr. Galton bemerkt14: „ich bedaure, nicht im Stande zu sein, „die einfache Frage zu lösen, ob und in wie weit Männer und Frauen, „welche Wunder des Genies waren, unfruchtbar sind. Ich habe indessen gezeigt, dass hervorragende Männer dies durchaus nicht sind." Grosse Gesetzgeber, die Gründer segensreicher Religionen, grosse Philosophen und wissenschaftliche Entdecker unterstützen den Fortschritt der Menschheit in einem viel höheren Grade durch ihre Werke, als

\ durch das Hinterlassen einer zahlreichen Nachkommenschaft. Was die körperliche Structur betrifft, so ist es die Auswahl der unbedeutend besser begabten und die Beseitigung der ebenso unbedeutend weniger gut begabten Individuen und nicht die Erhaltung scharf markirter und

seltener Anomalien, welche zur Verbesserimg einer Species führt13. Dasselbe wird auch für die intellectuellen Fälligkeiten der Fall sein. Es werden nämlich auch hier die in irgend etwas fähigeren Menschen auf jeder Stufe der Gesellschaft bessere Erfolge erzielen als die weniger fähigen und, wenn sie nicht auf andere Weise daran gehindert werden, in Folge dessen stärker an Zahl zunehmen. Hat sich in irgend einer Nation die Höhe des Intellects und die Anzahl intellectueller Leute vermehrt, so können wir nach dem Gesetze der Abweichung vom Mittel,

14  Hereditary Genius. 1870, p. 330.

15  Entstehung der Arten. 4. Aufl. S. 104.

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150                         Intellectuelle und moralische Fähigkeiten.                 I. Theil.

wie Mr. Galton gezeigt hat, erwarten, dass Wunder des Genies etwas häufiger als früher erscheinen werden.

In Bezug auf die moralischen Eigenschaften ist eine geringe Beseitigung der schlechtesten Dispositionen stets in Thätigkeit, selbst bei den civilisirten Nationen. Uebelthiiter werden hingerichtet oder auf lange Zeit gefangen gesetzt, so dass sie .nicht ihre schlechten Eigenschaften in grösserer Menge fortpflanzen können. Melancholische und geisteskranke Personen werden in Gewahrsam gehalten oder begehen Selbstmord. Heftige und streitsüchtige Leute finden oft ein blutiges Ende. Ruhelose Leute, welche keiner stetigen Beschäftigung Folge leisten wollen — und dies Ueberbleibsel der Barbarei ist ein grosses Hemm-uiss für die Civilisation '6 — wandern nach neugegründeten Staaten aus, wo sie sich als nützliche Pioniere erweisen. Unmässigkeit ist in so hohem Grade zerstörend, dass die wahrscheinliche Lebensdauer der Un massigen z. B. im Alter von dreissig, nur 13,8 Jahre beträgt, während sie für die Arbeiter auf dem Lande von demselben Alter in England 40,59 beträgt n. Lüderliche Frauen haben wenig Kinder und lüder-liche Männer heirathen selten; Beide leiden durch das Vorherrschen von Krankheiten. Bei der Zucht von domesticirten Thieren ist die Beseitigung derjenigen Individuen, welche, wenn sie auch der Zahl nach wenig sind, in irgendwelchem inarkirten Grade untergeordneter sind, ein durchaus nicht bedeutungsloses Moment in Bezug auf den Erfolg. Dies gilt vorzüglich für die schädlichen Merkmale, welche durch Rückschlag wieder aufzutreten neigen, wie z..ß. schwarze Farbe bei Schafen; und auch beim Menschen können einige der schlechtesten Anlagen, welche gelegentlich ohne irgendwelche nachweisbare Ursache in Familien auftreten, vielleicht als Rückschlag auf einen wilden Zustand angesehen werden, von welchem wir durch nicht gar zu viele Generatio- nen getrennt sind. Diese Ansicht scheint in der That durch die gewöhnliche Redensart anerkannt zu werden, dass derartige Leute die „schwarzen Schafe" der Familien seien.

Soweit es einen vorgeschrittenen Zustand der Moralität und eine erhöhte Zahl ziemlich gut begabter Menschen betrifft, scheint bei civi-

16 Hereditary Genius. \ 1870, p." 347.

" E. Ray Lankester, Comparative Longevity. 1870, p. 115. Die Tabelle der Unmässigkeit ist aus Xeison's Vital Statistics. In Bezug auf Ausschweifungen s. Dr. Farr, Influence of Marriage on Mortality: Nat. Assoc. for the Promotion of Social Science. 1858.

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Cap. 5.                    Natürliche Zuchtwahl hei Culturvölkern.                         151

lisirten Nationen die natürliche Zuchtwahl nur wenig zu bewirken, trotzdem die fundamentalen socialen Instincte ursprünglich hierdurch erlangt wurden. Ich habe aber, als ich von den niederen Rassen handelte, mich schon hinreichend über die Ursachen verbreitet, welche zum Fortschritt der Moralität führen, nämlich die billigende Zustimmung unserer Mitmenschen — die Kräftigung unserer Sympathien durch Gewohnheit — Beispiel und Nachahmung — Verstand — Erfahrung und selbst eigenes Interesse — Unterricht während der Jugend und religiöse Gefühle.

Ein äusserst bedeutungsvolles Hemmniss für die Zunahme der Zahl von Menschen einer höheren Classe in civilisirten Ländern ist von Mr. Greg und Mr. Galton sehr schaff hervorgehoben worden18, nämlich die Tliatsaclie, dass die sehr Armen und Leichtsinnigen, welche oft durch Laster heruntergekommen sind, fast unabänderlich früh heirathen, während die Sorgsamen und Massigen, welche meist auch in anderer Beziehung tugendhaft sind, spät im Leben heirathen, so dass sie im Stande sind, sich selbst und ihre Kinder mit Leichtigkeit zu erhalten. Diejenigen, welche früh heirathen, erzeugen innerhalb einer gegebenen Zeit nicht bloss eine grössere Anzahl von Generationen, sondern sie bringen, wie Dr. Duncan gezeigt hat19, auch viel mehr Kinder hervor. Ausserdem sind die Kinder, welche von Müttern während der Blüthe ihres Lebens geboren werden, schwerer und grösser und daher wahrscheinlich kräftiger als diejenigen, welche in andern Perioden geboren werden. Hierdurch streben die leichtsinnigen, heruntergekommenen und oft lasterhaften Glieder der Gesellschaft sich in einem schnelleren Maasse zu vermehren als die vorsichtigen und im Allgemeinen tugendhaften Glieder. Oder wie Mr. Greg den Fall darstellt: „der „sorglose, schmutzige, nicht höher hinaus wollende Irländer vermehrt „sich wie die Kaninchen; der frugale, vorsichtige, sich selbst achtende „ehrgeizige Schotte, welcher streng in seiner Moralität, durchgeistigt „in seinem Glauben und disciplinirt in seinem Wesen ist, verbringt „die besten Jahre seines Lebens im Kampfe und im Stande des Cölibats „zu, heirathet spät und hinterlässt nur wenig Nachkommen. Man nehme

18  Fräsers Magazine, Sept. 18G8, p. 353. Macmillan's Magazine, Aug. 18C5 p. 318. F. W. Farrer (Fraser's Magaz. Aug. 1870, p, 2C4) ist verschiedener Ansicht.

19  On the laws of the Fertility of Women, in: Transact. Roy. Soc. Edinburgh. Vol. XXIV, p. 287. s. auch Galton, Hereditary Genius, p. 352—357, wo sich Beobachtungen zu Gunsten der obigen Ansicht finden.

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£52                        Intellectuelle und moralische Fähigkeiten.                  I. Theil.

„ein Land, welches ursprünglich von tausend Sachsen und tausend Cel-„ten bevölkert sei; und nach einem Dutzend Generationen werden 3/6 „der Bevölkerung Cclten sein, aber ,3/6 des Besitzes, der Macht, des „Intellects werden dem einen übrig gebliebenen Sechstel der Sachsen „angehören. In dem ewigen Kampfe um's Dasein wird die untergeordnete und weniger begünstigte Basse es sein, welche vorherrscht und „zwar vorherrscht nicht kraft ihrer guten Eigenschaften, sondern kraft „ihrer Fehler."

Es sind indessen mehrere Hemmnisse gegen diese nach abwärts strebende Bewegung vorhanden. Wir haben gesehen, dass die Unmäs-sigen einem hohen Sterblichkeitsverliältniss unterliegen und die im höchsten Grade Liederlichen wenig Nachkommen hinterlassen. Die ärmsten Classen häufen sich in Städten an und Dr. Stark hat nach den statistischen Ergebnissen von zehn Jahren in Schottland bewiesen2", dass auf allen Altersstufen das Sterblichkeitsverliältniss in Städten höher ist als in ländlichen Bezirken, „und während der ersten fünf Lebensjahre „ist das Mortalitätsverhältniss der Stadt fast genau das doppelte von „dem der ländlichen Bezirke." Da diese Angaben sowohl die Reicheren als die Armen umfassen, so würde ohne Zweifel mehr als die doppelte Anzahl von Geburten nöthig sein, um die Zahl der sehr armen Einwohner in Städten im Verhältniss zu denen auf dem Lande in gleicher Höhe zu erhalten. Bei Frauen ist das Verheirathen in einem zu frühen Alter in hohem Grade schädlich ; denn in Frankreich hat man gefunden, dass „zweimal soviel verheirathete Frauen im Alter von unter zwanzig »Jahren im Jahre starben, als unverheirathete desselben Alters." Auch die Sterblichkeit von verheiratheteii Männern unter zwanzig Jahren ist ganz „excessiv hoch" 2I; was aber die Ursache hievon sein mag, scheint zweifelhaft. Sollten endlich diejenigen Männer, welche in kluger Weise das Heirathen aufschieben, bis sie ihre Familien mit Comfort erhalten können, Frauen in der Blüthe des Lebens nehmen, wie sie es ja oft thun, so würde das Verhältniss der Zunahme in den bessern Classen nur unbedeutend verringert werden.

Nach einer enormen Menge statistischer Angaben, welche im Ver-

20 Tenth Anuual Report of Births, Deaths etc. in Scotland, 1867, p. XXIX.

*' Diese Citate sind unserer höchsten Autorität über solche Fragen entnommen, nämlich Dr. Farr in seinem Aufsatz: On the Influence ofMarriage on the Mortality of the French People, gelesen vor der Xat. Assoc. for the Promotion of Social Science. 1858.

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Cap. 5.                       Natürliche Zuchtwahl bei Culturvölkern.                      153

laufe des Jahres 1853 aufgenommen wurden, ist ermittelt worden, dass die unverheiratheten Männer in ganz Frankreich zwischen dem Alter von zwanzig und achtzig Jahren in einem viel grösseren Verhältnisse starben als die verheiratheten. So starben von jedem Tausend unverheirateter Männer zwischen dein Alter von zwanzig und dreissig Jahren jährlich 11,3, während von den verheiratheten nur 6,5 starben22. Die Gültigkeit eines ähnlichen Gesetzes wurde während der Jahre 1863 und 1864 in Bezug auf die ganze Bevölkerung über das Alter von zwanzig in Schottland nachgewiesen. Es starben z. B. von jedem Tausend uuverheiratheter Männer zwischen dem Alter von zwanzig und dreissig Jahren 14,97 jährlich, während von den verheiratheten nur 7,24 starben, also weniger als die Hälfte 23. Dr. Stark bemerkt hierzu: „ Junggesellenthum ist viel zerstörender für das Leben als es die „ungesundesten Handwerke sind oder als der Aufenthalt in einem „ungesunden Hause oder Bezirke es ist, wo niemals auch nur der entfernteste Versuch zu einer gesundheitlichen Verbesserung gemacht „worden ist." Er ist der Ansicht, dass die verringerte Mortalität das directe Resultat „der Verheirathung und der regelmässigen häuslichen „Gewohnheiten ist, welche diesem Zustande eigen sind." Er gibt indessen zu, dass die unmässigen, lüderlichen und verbrecherischen Clas-sen, deren Lebensdauer gering ist, für gewöhnlich nicht heirathen, und es muss zugegeben werden, dass Männer mit schwacher Constitution, übler Gesundheit oder irgend einer bedeutenden Schwäche an Körper oder Geist oft nicht wünschen werden zu heirathen oder zurückgewiesen werden. Dr. Stark scheint zu dem Schlüsse, dass das Verheirathetsein an sich eine hauptsächliche Ursache des verlängerten Lebens ist, dadurch gekommen zu sein, dass er fand, dass bejahrte verheirathete Männer noch immer einen beträchtlichen Vortheil in dieser Beziehung vor den unverheiratheten desselben hohen Alters voraus haben. Jedermann wird aber Beispiele erfahren haben, wo Männer von schwacher Gesundheit, welche während ihrer Jugend nicht heiratheten, doch ein hohes Alter erreicht haben, trotzdem sie schwach blieben und daher immer

22 Dr. Farr, ebenda. Die weiter unten angeführten Angaben sind derselben merkwürdigen Arbeit entnommen.

w Ich habe das fünfjährige Mittel genommen aus The Tenth Anuual Report of Fürths, Deaths etc. in Scotland. 18ß7. Das Citat nach Dr. Stark ist aus _ einem Artikel in den Daily Xews, 17. Oct. 1868, welcher nach Dr. Farr's Ur-theil mit grosser Sorgfalt verfasst i*t.

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154                        Intcllectuelle und moralische Fähigkeiten.                  I. Theil.

eine wahrscheinlich geringere Lebensdauer zu erwarten hatten. Noch ein anderer merkwürdiger Umstand scheint die Folgerung des Dr. Stark zu unterstützen, dass nämlich Wittwen und Wittwer in Frankreich im Vergleich mit den verheiratheten Personen einem sehr ungünstigen Mortalitätsverhältnisse unterliegen; doch schreibt Dr. Fahr dies der Armuth und den üblen Gewohnheiten zu, welche der Auflösung der Familie folgen, ebenso wie dem Kummer. Im Ganzen können wir mit Dr. Farr schliessen, dass die geringere Mortalität verheiratheter Personen gegenüber derjenigen unverheiratheter, welche ein allgemeines Gesetz zu sein scheint, „hauptsächlich Folge der constanten Beseitigung unvollkommener „Formen und der geschickten Auswahl der schönsten Individuen innerhalb „jeder der aufeinander folgenden Generationen ist*, wobei die Zuchtwahl sich nur auf den verheiratheten Zustand bezieht und auf alle körperlichen, intellectuellen und moralischen Eigenschaften wirkt. Wir können daher wohl schliessen, dass gesunde und gute Männer, welche aus Klugheit eine Zeitlang unverheirathet blieben, keinem hohen Mor-talitätsverhältniss unterliegen.

Wenn die verschiedenen, in den letzten beiden Absätzen speciell angeführten und vielleicht noch andere für jetzt unbekannte Hemmnisse es nicht verhindern, dass die leichtsinnigen, lasterhaften und in anderer Weise untergeordneten Glieder der Gesellschaft sich in einem schnelleren Verhältnisse vermehren als die bessere Classe der Menschen, so wird die Nation rückschreiten, wie es in der Geschichte der Welt nur zu oft vorgekommen ist. Wir müssen uns daran erinnern, dass Fortschritt keine unabänderliche Regel ist. Es ist äusserst schwer zu sagen, warum die eine civilisirte Nation emporsteigt, machtvoller wird und sich weiter verbreitet als eine andere; oder warum eine und dieselbe Nation zu einer Zeit mehr fortschreitet als zu einer andern. Wir können nur sagen, dass dies von einer Zunahme der factischen Anzahl der Bevölkerung, von der Zahl der Menschen, die mit hohen intellectuellen und moralischen Fähigkeiten begabt sind, ebenso wie von der Höhe dessen abhängt, was bei ihnen für ausgezeichnet gilt. Körperliche Bildung scheint nur geringen Einfluss zu haben, ausgenommen insofern, als körperliche Kraft zu geistiger Kraft führt.

Es ist von mehreren Schriftstellern hervorgehoben worden, dass, weil hohe intellectuelle Kräfte einer Nation vorteilhaft sind, die alten Griechen, welche in Bezug auf den Intellect einige Grade höher standen

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Cap. 5.                    Natürliche Zuchtwahl hei Culturvölkem.                         155

als irgend eine Kasse, welche je existirt hat24, in ihrer ganzen Ent-wickelung noch höher gestiegen, an Zahl noch mehr zugenommen und ganz Europa bevölkert haben müssten, wenn die Wirksamkeit der natürlichen Zuchtwahl wirklich bestände. Wir sehen hier die stillschweigende Annahme, die so oft in Bezug auf körperliche Bildung gemacht wird, dass irgend eine angeborene Tendenz nach einer beständigen Weiterentwickelimg an Geist und Körper vorhanden sei. Aber Ent-wickelung aller Art hängt von vielen zusammenwirkenden günstigen Umständen ab. Natürliche Zuchtwahl wirkt nur in der Weise eines Versuchs. Individuen und Kassen mögen gewisse unbestreitbare Vorteile erlangt haben und können doch, weil ihnen andere Charactere fehlen, untergegangen sein. Die Griechen können wegen eines Mangels an Zusammenhalten zwischen den vielen kleinen Staaten, wegen der geringen Grösse ihres ganzen Landes rückwärts geschritten sein, eben so wegen der Ausübung der Sclavcroi oder wegen ihrer extremen Sinnlichkeit; denn sie unterlagen nicht eher, als bis „sie entnervt und bis „in's innerste Mark verderbt waren" -5. Die westlichen Nationen Eu-ropa's, welche jetzt so unmessbar ihre früheren wilden Urerzeuger übertreffen und auf dem Gipfel der Civilisation stehen, verdanken wenig oder gar nichts von ihrer Superiorität der directen Vererbung von den alten Griechen, obwohl sie den schriftlich hinterlassenen Werken dieses wunderbaren Volks viel verdanken.

Wer kann positiv angeben, warum die spanische Nation, die zu einer Zeit so dominirend war, in dem Wettlaufe der Völker überflügelt worden ist? Das Erwachen der Nationen Europa's aus den Jahrhunderten der Dunkelheit ist ein noch venvirrcnderes Problem. In dieser frühen Zeit hatten, wie Mr. Galton26 bemerkt hat, fast alle Männer einer weicheren Natur, die, welche sich einer.beschaulichen Betrachtung oder der.Cultur des Geistes ergaben, keinen anderen Zufluchtsort als den Busen der Kirche, und diese forderte das Cölibat; und dieses wieder

2,"siehe die geistvolle und originelle Erörterung dieses Gegenstandes von Galton, Hereditary Genius, p. 340—342.

23 Greg in Fraser's Magazine. Sept. 1868, p. 357.

26 Hereditary Genius. 1870, p. 357—350. F. II. Farrar bringt Gründe für die gegentlieilige Ansicht hei (Fraser's: Magazine, August 1870, p. 257). Sir Ch. Lyell hat bereits in einer merkwürdigen Stelle (Principles of Geologie, Vol. II. 1868, p. 489) die Aufmerksamkeit auf den üblen Einfluss der Inquisition auf die durch Zuchtwahl herbeigeführte Herabsetzung des allgemeinen Standes der Intelligenz in Europa gelenkt.

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156                       Intellektuelle und moralische Fähigkeiten.                  I. Tlieil.

musste fast sicher einen verschlechternden Einfluss auf jede der folgenden Generationen ausüben. Während dieser selben Periode wählte die heilige Inquisition mit der äussersten Sorgfalt die freisinnigsten und kühnsten Männer aus, um sie zu verbrennen oder gefangen zu setzen. Allein in Spanien wurden von den besten Leuten — von denen welche zweifelten und Fragen aufwarfen, und ohne Zweifeln ist kein Fortschritt möglich — während dreier Jahrhunderte jährlich eintausend eliniinirt. Das Uebel, welches die katholische Kirche hierdurch bewirkt hat, ist unberechenbar, wenn es auch in gewisser, vielleicht grosser Ausdehnung auf andere Weise ausgeglichen wurde. Nichtsdestoweniger ist Europa in einem Verhältniss ohne Gleichen fortgeschritten.

Der merkwürdige Erfolg der Engländer als Colonisten gegenüber anderen europäischen Nationen, welche durch einen Vergleich der Fortschritte der Canadier englischen und französischen Ursprungs erläutert wird, ist deren „unerschrockener und ausdauernder Energie" zugeschrieben worden; wer kann aber sagen, wie die Engländer ihre Energie erlangten. Wie es scheint, liegt in der Annahme sehr viel Wahres, dass der wunderbare Fortschritt der Vereinigteil Staaten ebenso wie der Character des Volks die Resultate natürlicher Zuchtwahl sind. Die energischeren, rastloseren und muthigeren Menschen aus allen Theilen Europa's sind während der letzten zehn oder zwölf Generationen in jenes grosse Land eingewandert und haben dort den grössten Erfolg gehabt 27. Blicken wir auf die weiteste Zukunft, so glaube ich nicht, dass die Ansicht des Mr. Zincke übertrieben ist, wenn er sagt28: „alle übrigen Reihen von Begebenheiten, — z. B. die, welche das Resultat „der Geistescultur in Griechenland waren, und die, welche die Folge „der römischen Herrschaft waren — scheinen nur Zweck und Bedeutung zu erhalten, wenn sie im Zusammenhange oder noch eher als „Unterstützung für den grossen Strom anglosächsiseher Auswanderung „nach dem Westen hin betrachtet werden." So dunkel das Problem des Fortschritts der Civilisation ist, so können wir wenigstens sehen, dass eine Nation, welche eine lange Zeit hindurch die grösste Zahl hoch intellectueller, energischer, tapferer, patriotischer und wohlwollender Männer erzeugte, im Allgemeinen über weniger begünstigte Nationen das Uebergewicht erlangen wird.

-' Galton in Maemillan's Magazine, Aug. 18G5, p. 325, s. auch „Nature", Dec. 1SG9, p. 184: On Darwinism and National Life. '" Last Winter in the United States. 1808, p. 29.

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Cap. 5.                        Civilisirte Nationen einst Barbaren.                             157

Natürliche Zuchtwahl ist die Folge des Kampfes um's Dasein, und dieser ist die Folge eines rapiden Verhältnisses der Vermehrung. Es ist unmöglich, das Verhältniss, in welchem der Mensch an Zahl zuzunehmen strebt, nicht tief m bedauern, — ob dies freilich weise ist, ist eine andere Frage, — denn dies führt bei barbarischen Stämmen zum Kindesmord und vielen anderen Uebeln, und bei civilisirten Nationen zu der grässlichsten Verarmung, zum Cölibat und zu den späten Heirathen der Klügeren. Da aber der Mensch unter denselben physischen Uebeln leidet, wie die niederen Thiere, so hat er kein Hecht, eine Immunität diesen Uebeln gegenüber als eine Folge des Kampfes um's Dasein zu erwarten. Wäre er nicht der natürlichen Zuchtwahl unterlegen, so würde er zuversichtlich niemals den hohen Rang der Menschlichkeit erreicht haben. Wenn wir in vielen Theilen der Erde enorme Strecken des fruchtbarsten Landes von einigen wenigen herum-wandernden Wilden bewohnt sehen, Strecken, welche im Stande sind, zahlreiche glückliche Heimstätten zu tragen, so möchte man wohl behaupten, dass der Kampf um's Dasein nicht hinreichend heftig gewesen sei, um den Menschen aufwärts auf seine höchste Stufe zu treiben. Nach alle dem was wir vom Menschen wissen zu schliessen, hat es stets eine hinreichende Variabilität in den intellectuellen und moralischen Eigenschaften zum stetigen Fortschritt durch natürliche Zuchtwahl gegeben. Ohne Zweifel erfordert ein solches Fortschreiten viele günstig zusammenwirkende Umstände; aber es dürfte wohl zu bezweifeln sein, ob die günstigsten dazu hingereicht haben würden, wenn nicht das Verhältniss der Zunahme ein rapides und der in Folge davon auftretende Kampf um's Dasein bis zum äussersten Grade heftig gewesen wäre.

Ueber die Beweise, dass alle civilisirten Nationen einst Barbaren waren. — Da wir die Schritte zu betrachten hatten, auf denen irgend ein halb menschliches Wesen allmählich zum Rang des Menschen in seinem vollkommensten Zustand sich ei hoben hat, so kann der ebengenannte Gegenstand nicht übergangen werden. Er ist indessen in einer so eingehenden und vorzüglichen Weise von Sir J. Lub-bock 26, Mr. Tylor, Mr. M'Lexnan und Anderen behandelt worden, dass ich hier nur nöthig habe, einen sehr kurzen Auszug ihrer Resultate zu

-9 Oii tlie origin of Civilisation; Proc. Etlmolog. Soe. Nov. 2G, 1867.

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158                       Intellectuelle und moralische Fähigkeiten.                  I. Theil.

geben. Die früher vom Herzog von Aegtll 30 und noch früher vom Erzbischof von Whately zu Gunsten der Annahme, dass der Mensch als ein civilisirtes Wesen auf die Welt kam und dass alle Wilden seit jener Zeit einer Entartung unterlegen sind, vorgebrachten Argumente scheinen mir im Vergleich mit den auf der andern Seite vorgebrachten schwach zu sein. Ohne Zweifel sind viele Nationen in ihrer Civilisa-tion rückwärts gegangen und einige mögen in vollständige Barbarei verfallen sein, trotzdem ich in Bezug auf den letzteren Punkt keine Beweise gefunden habe. Die Feuerländer wurden wahrscheinlich durch andere erobernde Horden gezwungen, sich in ihrem unwirthbaren Lande niederzulassen und sie können in Folge davon wohl noch etwas weiter entartet sein; es dürfte aber schwer zu beweisen sein, dass sie viel unter den Zustand der Botokuden gesunken sind, welche die schönsten Thoile von Brasilien bewohnen.

Die Zeugnisse für die Annahme, dass alle civilisirten Nationen die Nachkommen von Barbaren sind, bestehen auf der einen Seite aus deutlichen Spuren ihres früheren niedrigen Zustandes in noch immer existirenden Gebräuchen, Glaubensansichten, der Sprache u. s. w., auf der andern Seite aus Beweisen, dass Wilde unabhängig und selbständig im Stande sind, einige wenige Schritte in der Civilisationsstnfe sich zu erheben und auch wirklich sich erhoben haben. Der thatsächliche Beweis für den ersten Punkt ist im äussersten Giade merkwürdig, kann aber hier nicht gegeben werden: ich beziehe mich auf solche Fälle wie z. B. die Kunst des Zählens, welche, wie Mr. Tylor an den an einigen Orten noch immer gebrauchten Worten nachgewiesen hat, ihren Ursprung in dem Zählen der Finger, zuerst der einen Hand, dann der andern und endlich auch der Zehen gefunden hat. Wir haben Spuren hiervon in unserem eigenen Decimalsystem und in den römischen Zahlzeichen, welche, nachdem sie die Ziller V erreicht hatten, dieselbe in VI u. s. w. verwandelten, nämlich dann ohne Zweifel, wenn die andere Hand gebraucht werden musste; — so ferner wenn die Engländer von three score and ten sprechen, wo sie im Vigesimalsystem zählen, wobei jedes score ideel gofasst für zwanzig steht — für „ein Mann", wie es ein Mexicaner oder Caraibe ausdrücken würde31. Den Ansichten einer grossen und an Anhängern noch zunehmenden Philologen-

30  Primeval Man, 1869.

31  Royal Institution of Great Britain. March 15, 1867; s. auch Researches into the Early of Ilistory of Mankind. 1805.

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Cap. 5.                         Civilisirte Nationen einst Barbaren.                            159

schule nach trägt jede Sprache Merkzeichen ihrer langsamen und allmählichen Entwickelung an sich. Dasselbe ist der Fall mit der Kunst zu schreiben, da die Buchstaben Rudimente bildlicher Darstellungen sind. Es ist kaum möglich, Mr. M'Lennan's Work32 zu lesen, ohne zuzugeben, dass fast alle civilisirten Nationen noch immer gewisse Spuren derartiger roher Gewohnheiten, wie das zwangsweise Gefangennehmen der Weiber beibehalten. Welche Nation des Alterthums, fragt derselbe Schriftsteller, kann angeführt werden, welche ursprünglich monogam gewesen wäre? Die ursprüngliche Idee der Gerechtigkeit, wie sie sich durch das Gesetz des Kampfes und anderer Gebräuche zeigt, deren Spuren noch jetzt übrig sind, war gleichMls äusserst roh. Viele noch jetzt existirende abergläubische Züge sind die Ueberblcibsel früherer falscher religiöser Glaubensansichten. Die höchste Form der Religion — die grossartige Idee eines Gottes, welcher die Sünde hasst und die Gerechtigkeit liebt — war wahrend der Urzeiten unbekannt.

Wenden wir uns jetzt zu der andern Form von Beweisen: Sir J. Lubbock hat nachgewiesen, dass einige Wilde neuerdings in einigen ihrer einfacheren Kunstfertigkeiten fortgeschritten sind. Nach dem äusserst merkwürdigen Berichte, welchen er von den Waffen, Werkzeugen und Künsten gibt, welche Wilde in verschiedenen Theilen der Welt-gebrauchen oder üben, lässt sich nicht zweifeln, dass dies fast alles unabhängige Entdeckungen gewesen sind, vielleicht mit Ausnahme der Kunst, Feuer zu machen33. Der australische Bumerang ist ein gutes Beispiel einer solchen unabhängigen Entdeckung. Als man zuerst die Bewohner von Tahiti besuchte, waren sie in vielen Beziehungen gegen die Einwohner der meisten andern polynesischen Inseln vorgeschritten.. Für die Annahme, dass die hohe Cultur der eingeborenen Peruaner und Mexicaner aus irgend einer fremden Quelle geflossen sei, lassen sich keine triftigen Gründe anführen34; viele eingeborene Pflanzen wurden

31 Primitive Marriage, 1865; s. auch einen offenbar von demselben Verfasser herrührenden ausgezeichneten Artikel in der North British Review, Jury, 1869. Auch L. H. Morgan, A Conjcctural Solution of the Origin of the Class. System' of Relationship. in: Proceed. American Acad. of Sciences. Vol. VII. Febr. 1868. Prof. Schaaffhausen erwähnt (Anthropol. Review, Oct. 18C9, p. 373) „die Spu-„ren von Menschenopfern im Homer und im alten Testament."

33  Sir J. Lubbock, Prehistoric Times. 2. edit. 1869. Cap. XV und XVI, an mehreren Stellen.

34  Dr. Ferd. Müller hat einige gute Bemerkungen hierüber gemacht in der „Reise der Novara". Anthrop. Theil. Abtheil. III. 18G8. S. 127.

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160                        Intellectuelle und moralische Fälligkeiten.                  I. Theil.

dort cultivirt und einige wenige eingeborene Thiere domesticirt. Wir müssen im Auge behalten, dass eine wandernde Truppe aus irgend einem halb civilisirten Lande, wenn sie an die Küsten von Amerika angetrieben würde, nach dem geringen Einflüsse der meisten Missionäre zu urtheilen, keine ausgesprochene Wirkung auf die Eingeborenen geäussert haben würde, wenn diese nicht bereits in einem gewissen Grade fortgeschritten gewessen wären. Werfen wir unsern Blick auf eine äusserst entfernt zurückliegende Zeit in der Geschichte der AVeit, so finden wir, um Sir J. Lubbock's bekannte Ausdrücke zu gebrauchen, eine paläolithisclie und eine neolithische Periode; und Niemand wird behaupten, dass die Kunst, rohe Feuersteinwerkzeuge zu poliren, eine erborgte gewesen sei. In allen Theilen von Europa, und zwar im Osten bis nach Griechenland, dann in Palästina, Indien, Japan, Neuseeland und Afrika, mit Einschluss Egyptens, sind Feuersteinwerkzeuge in grosser Menge entdeckt worden, und von ihrem Gebrauche hat sich bei den jetzigen Einwohnern auch nicht einmal eine Tradition erhalten. Wir haben auch indirecte Belege dafür, dass solche Werkzeuge früher von den Chinesen und alten Juden gebraucht wurden. Es besteht daher wohl kaum ein Zweifel darüber, dass die Bewohner dieser zahlreichen Länder, welche nahezu die ganze civilisirte AVeit umfassen, einstmals in einem barbarischen Zustande sich befanden. Zu glauben, dass der Mensch vom Ursprung an civilisirt gewesen und dann in so vielen Gegenden einer Entartung unterlegen sei, hiesse eine sehr erbärmliche Ansicht von der menschlichen Natur hegen. Allem Anscheine nach ist es eine richtigere und befriedigendere Ansicht, dass Fortschritt viel allgemeiner gewesen ist als Rückschritt, dass der Mensch, wenn auch mit langsamen und unterbrochenen Schritten, sich von einem niedrigeren Zustande zu dem höchsten jetzt in Kenntnissen, Moral und Religion von ihm erlangten erhoben hat.

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Sechstes Capitel.

Uefoer die Verwandtschaften und die Genealogie des Menschen.

Stellung des Menschen in der Thierreihe. — Das natürliche System ist genealogisch. — Adaptive Charactere von geringer Bedeutung. — Verschiedene kleine Punkte der Uebereinstimmung zwischen dem Menschen und den Qua-druraanen. — Rang des Menschen in dem natürlichen System. — Geburtsstelle und Alter des Menschen. — Fehlen von fossilen Uebergangsgliedern. — Niedere Stufen in der Genealogie des Menschen, wie sie sich erstens aus seinen Verwandtschaften und zweitens aus seinem Haue ergeben. — Früher lierniaphroditer Zustand der Wirbelthiere. — Schluss.

Selbst wenn es zugegeben wird, dass die Verschiedenheit zwischen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten in Bezug auf seine körperliche Bildung so gross ist, wie einige Naturforscher behaupten, und obgleich wir zugeben müssen, dass die Verschiedenheit zwischen ihnen in Bezug auf die geistigen Kräfte ungeheuer ist, so zeigen doch, wie mir scheint, die in den vorausgehenden Capiteln mitgetheilten That-sachen in der deutlichsten Weise, dass der Mensch von irgend einer niedrigeren Form abstammt, trotzdem dass verbindende Zwischenglieder bis jetzt noch nicht entdeckt worden sind.

Der Mensch bietet zahlreiche unbedeutende und niannichfaltige Abänderungen dar, welche durch dieselben allgemeinen Ursachen herbeigeführt und nach denselben allgemeinen Gesetzen bestimmt und überliefert werden wie bei den niederen Thieren. Der Mensch strebt in einem so rapiden Verhältnisse sich zu vervielfältigen, dass seine Nachkommen nothwendig einem Kampfe nm's Dasein und in Folge hiervon natürlicher Zuchtwahl ausgesetzt sind. Er hat viele Kassen entstehen lassen, von denen einige untereinander so abweichend sind, dass sie oft von Naturforschern als distiucte Arten classificirt worden sind. Sein Körper ist nach demselben homologen Plane gebaut wie der anderer Sänge-thiere, ganz unabhängig von dem Gebrauche,, welchen er von den verschiedenen Theilen desselben machen mag. Er durchläuft dieselben Zustände embryonaler Entwickelung. Er behält viele rudimentäre und

DAltwIS, Abstammung. I. Zweite Auflage.                                                            11

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IQ2                                   Genealogie des Menschen.                              I. Theil.

nutzlose Bildungen bei, welche ohne Zweifel einstmals eine Function verrichteten. Gelegentlich erscheinen Merkmale wieder bei ihm, welche, wie wir allen Grund zu glauben haben, im Besitze seiner früheren Urerzeuger waren. Wäre der Ursprung des Menschen von dem aller übrigen Thiere völlig verschieden, so wären diese verschiedenen Erscheinungen blosse nichtssagende Täuschungen; eine solche Annahme ist indessen unglaublich. Auf der andern Seite aber sind sie wenigstens in einer grossen Ausdehnung verständlich unter der Annahme, dass der Mensch, wie andere Säugethierc, von irgend eiuer unbekannten und niederen Form abstammt. In Folge des tiefen Findrucks, welchen die geistigen und seelischen Kräfte des Menschen gemacht haben, haben einige Naturforscher die ganze organische Welt in drei Reiche eingetheilt, das Menschenreich, das Thicrreich und das Pflanzenreich, womit sie also dem Menschen ein besonderes Reich einräumen '. Geistige Kräfte können von dem Naturforscher nicht verglichen oder classificirt werden; er kann aber zu zeigen versuchen, wie ich es. gethan habe, dass die geistigen Fähigkeiten des Menschen und der niederen Thiere nicht der Art nach, wennschon ungeheuer im Grade von einander abweichen. Eine Verschiedenheit des Grades, so gross sie auch sein mag, berechtigt uns nicht dazu, den Menschen in ein besonderes Reich zu stellen, wie vielleicht am besten durch eine Vergleiclumg der geistigen Kräfte zweier Insecteu gezeigt wird, nämlich eines Coccus oder Schildlaus und einer Ameise, welche unzweifehaft zu einer und derselben Classe gehören. Die Verschiedenheit ist hier grösser, wenn auch von einer etwas verschiedeneu Art, als zwischen dem Menschen und dem höchsten Säugethiere. Der weibliche Coccus befestigt sich in seiner Jugend mit seinem Rüssel an eine Pflanze, saugt deren Saft, aber bewegt sich nicht mehr, wird befruchtet und legt Eier; und dies ist seine ganze Geschichte. Andererseits aber die Gewohnheiten und geistigen Kräfte einer weiblichen Ameise zu beschreiben, würde, wie Piekee Hubek gezeigt hat, einen ganzen Band füllen. Ich möchte indessen kurz einige wenige Punkte anführen. Ameisen tauschen unter einander Mittheilungen aus und mehrere vereinigen sich zu derselben Arbeit oder zum Spielen. Sie erkennen die Mitglieder ihres Haufens selbst nach monatelanger Ab-

. l Isiilore Geoffroy Saint-Hilaire gibt einen detaillirten Bericht über die Stellung, welche dem Menschen von verschiedenen Naturforschern in ihren Classificationen eingeräumt worden ist, in seiner: Hist. natur. geuer. Tom. II. 1S59, p. 170—189.

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Cap. H.                        Stellung des Menschen inf System.                              \Q$

Wesenheit wieder. Sie errichten grosse Gebäude, halten sie reinlich, schliessen am Abend die Thüren und stellen "Wachen aus. Sie bauen Strassen und selbst Tunnels unter Flüssen. Sie sammeln Nahrung für die ganze Genossenschaft, und wenn ein für das Einbringen zu grosser Gegenstand an das Nest gebracht wird, so erweitern sie die Thüre und bauen sie nachher wieder auf2. Sie ziehen in regelmässigen Reihen zum Kampfe aus und opfern ohne Besinnen ihr Leben für das allgemeine Wohl. Sie wandern nach einem vorher gefassten Plane aus. Sie fangen sich Sclaven. Sie halten sich Blattläuse als milchende Kühe. Sie bewegen die Eier ihrer Aphiden ebenso wie ihre eigenen Eier und Co-cons nach den wärmeren Theilen des Nests, damit sie schneller zum Auskriechen gelangen; und es lieson sich noch endlose ähnliche That-sachen anführen. Im Ganzen ist der Unterschied in den geistigen Kräften zwischen einer Ameise und einem Coccus ganz ungeheuer, und doch hat sich Niemand auch nur im Traume einfallen lassen, beide in verschiedene Classen und noch viel weniger in verschiedene Reiche zu stellen. Ohne Zweifel wird dieser Abstand von den zwischenliegenden Graden geistiger Kräfte vieler andern Insecten überbrückt, und dies ist beim Menschen und den höheren Affen nicht der Fall. Wir haben aber allen Grund zu glauben, dass die Unterbrechungen der Reihe einfach das Resultat des Umstands sind, dass viele Formen ausgestorben sind.

Professor Owen hat die Säugethierreihe mit besonderer Berücksichtigung der Bildung ihres Gehirns in vier Unterclassen eingetheilt. Eine derselben umfasst den Menschen, in eine andere stellt er die beiden Abtheilungen der Marsupialien und Monotremen, so dass er den Menschen allen übrigen Säugethieren gegenüber als so verschieden hin-" stellt wie die beiden letzten Gruppen zusammengenommen. Soviel mir bekannt ist, ist diese Ansicht von keinem Naturforscher angenommen worden, welcher der Bildung eines unabhängigen Urtheils fähig ist, und braucht daher hier nicht weiter betrachtet zu werden.

Wir können wohl einsehen, warum eine Classification, welche auf irgend ein einzelnes Organ oder Merkmal — selbst auf ein Organ von einer so wunderbaren Complicirtheit oder von solcher Bedeutung wie das Gehirn — oder auf hohe Entwicklung der geistigen Fähigkeiten sich gründet, sich fast mit Gewissheit als unbefriedigend herausstellt. Der Versuch, nach diesem Principe cinzutheilen, ist in der That bei den

* Siehe den sehr interessanten Artikel „L'Instinct chez les Insectes" von George Pouchet in: Revue des Deux Mondes. Febr. 1870, p. 682.

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Genealogie des Menschen.

I. Theil.

Hymenopteru unter den Insecten angestellt worden. Wurden aber diese nach ihrer Lebensweise oder ihren Instincten classificirt, so erwies sich die Anordnung als durchaus künstlich 3. Die Classificationen können natürlich auf irgendwelchen natürlichen Character basirt werden, so auf die Grösse, die Farbe und das Element, welches die Thicre bewohnen. Es haben aber die Naturforscher schon seit langer Zeit die tiefe Ueberzeugung gehabt, dass es ein natürliches System gebe. Wie jetzt allgemein zugegeben wird, muss dieses System soweit als nur möglich genealogisch in seiner Anordnung sein, — d. h. die verschiedenen Nachkommen einer und derselben Form müssen zu einer Gruppe zusammengehalten werden und zwar getrennt von den verschiedenen Nachkommen einer andern Form. Sind aber die Stammformen mit einander verwandt, so werden es auch deren Nachkommen sein und die beiden Gruppen zusammen werden dann eine gemeinsame grössere Gruppe bilden. Der Betrag der Verschiedenheit zwischen den verschiedenen Gruppen, — welcher den Betrag der Modifikationen, denen eine jede derselben unterlegen ist, bezeichnet, — wird durch solche Ausdrücke wie Gattungen, Familien, Ordnungen und Classen angegeben. Da wir keine Urkunden über die Descendenzreihen besitzen, so können diese Abstam-mungslinien nur durch Beobachtung der Aehnlichkeitsgrade zwischen den einzelnen zu classificirenden AVesen entdeckt werden. Zu diesem Zwecke sind zahlreiche einzelne Punkte der Üebereinstimmung von viel grösserer Bedeutung als der Betrag von Aehnlichkeit oder Unähnlich-keit in einigen wenigen Punkten. Wenn nachgewiesen würde, dass zwei Sprachen einander in einer Menge von Worten und Constructionsweisen glichen, so würden sie ganz allgemein als aus einer gemeinsamen Quelle stammend anerkannt werden, trotzdem sie in einigen wenigen Punkten oder Constructionsweisen bedeutend von einander abwichen. Aber bei organischen Wesen dürfen die Punkte der Üebereinstimmung nicht aus Anpassungen an ähnliche Lebensgewohnheiten bestehen. Es können z. B. zwei Thiere ihren ganzen Körperbau zum Leben im Wasser mo-dificirt haben und werden doch trotzdem in keine irgend grössere Nähe zu einander im natürlichen Systeme gestellt werden. Wir können hieraus erkennen, woher es kommt, dass Uebereinstimmungen in unbedeutenden Bildungen, in nutzlosen und in rudimentären Organen und in Theilen, welche noch nicht völlig entwickelt oder noch nicht functionell tliätig

3 Westwood, Modem Classification of Insccts. Vol. II. 1840, p. 87.

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Caj). C.                         Stellung des Menschen im System.                              | (35

sind, für die Classification bei Weitem die zweckdienlichsten sind; denn sie können kaum Folgen von Anpassungen sein, die in einer späteren Zeit etwa eingetreten wären. Sie offenbaren uns daher die alten Dcs-cendenzlinien oder die eigentliche Verwandtschaft.

Wir können ferner einsehen, warum ein grosser Retrag von Modifikationen an einem und demselben Merkmale uns nicht veranlassen darf, zwei Organismen deshalb weit von einander zu trennen. Ein Theil, welcher bereits von demselben Theile bei andern verwandten Formen sehr verschieden ist, variirt auch nach der Entwickelungstheorie bedeutend ; und so lange der Organismus denselben anregenden Bedingungen ausgesetzt ist, würde jener Theil daher auch noch weiteren Abweichungen derselben Art unterliegen, und diese würden, wenn sie wohlthätig sind, erhalten und dadurch beständig vergrössert werden. Tn vielen Fällen, wie z. B. bei dem Schnabel eines Vogels oder bei dem Zahne eines Säugethiers, würde die beständige Weiterentwickelung dieses einen Theils für die Speeics von keinem Vortheil zur Erlangung ihrer Nahrung oder zu irgend einem andern Zwecke sein; bei Menschen indessen können wir keine bestimmte Grenze für die fortgesetzte Entwicklung des Gehirns und der geistigen Fähigkeiten sehen, soweit ein Vortheil für die Art dabei in Eede kommt. Bei der Bestimmung der Stellung des Menschen in dem natürlichen oder genealogischen Systeme darf dabei- die extreme En'twiekelung des Gehirns eine Menge von Ueberein-stimmungen in andern weniger bedeutungsvollen oder völlig bedeutungslosen Punkten nicht überwiegen.

Die grössere Zahl der Naturforscher, welche die ganze Structur des Menschen mit Einschhiss seiner geistigen Fähigkeiten in Betracht gezogen haben, ist Blumenbach und Cuvier gefolgt und hat den Menschen in eine besondere Ordnung unter dem Titel der Zweihänder gebracht und daher auf gleiche Classificationsstufe mit den Ordnungen der Vierhänder, Fleischfresser u. s. w. Neuerdings sind viele unserer besten Naturforscher zu der zuerst von Linne, der so merkwürdig wegen seines Scharfsinns war, ausgesprochenen Ansicht zurückgekehrt und haben den Menschen in eine und dieselbe Ordnung mit den Quadru-manen unter dem Titel der Primaten gebracht. Die Eichtigkeit dieser Folgerung wird zugegeben werden, wenn man an erster Stelle die soeben gemachten Bemerkungen über die vergleichsweise geringe Bedeutung der grossen Entwicklung des Gehirns beim Menschen für seine Classification im Auge behält, wenn man sich ferner daran erinnert,

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166

s Genealogie des Menschen.

I. Theil.

dass dicscharf ausgesprochenen Verschiedenheiten zwischen den Schädeln des Menschen und der Quadrumanen, welche neuerdings von Bischöfe, Aeby und Anderen hervorgehoben worden sind, offenbar Folge ihrer verschieden entwickelten Gehirne sind. An zweiter Stelle müssen wir uns aber erinnern, dass fast alle die anderen und bedeutungsloseren Verschiedenheiten zwischen dem Menschen und den Quadrumanen offenbar ihrer Natur nach adaptiv sind und sich hauptsächlich auf die aufrechte Stellung des Menschen beziehen. Dahin gehört die Bildung seiner Hände, seines Fusses und Beckens, die Krümmung seines Rückgrats und die Stellung seines Kopfes. Die Familie der Kobben bietet eine gute Erläuterung für die geringe Bedeutung adaptiver Charactere in Bezug auf die Classification dar. Diese Thiere weichen von allen andern Fleischfressern in der Form ihres Körpers und in der Bildung ihrer Gliedmaassen viel mehr ab, als der Mensch von den höheren Affen abweicht; und doch werden in jedem Systeme, von dem Cuyier's bis zu den neuesten von Mr. Flowek 4 die Kobben als eine blosse Familie in der Ordnung der Carnivora! angesehen. Wäre der Mensch nicht in der Lage gewesen, sich selbst zu classificiren, so würde er niemals auf den Gedanken gekommen sein, eirt'e besondere Ordnung zur Aufnahme seiner selbst zu errichten.

Es würde über die mir gesteckten Grenzen uud auch völlig über meine Kenntnisse gehen, die zahllosen Bildungsverhältnisse auch nur namentlich anzuführen, in welchen der Mensch mit den andern Primaten übereinstimmt. Unser grosser Anatom und Philosoph, Professor HuxLEy, hat diesen Gegenstand ausführlich erörtert5 und ist zu dem Schlüsse gekommen, dass der Mensch in allen Theilen seiner Organisation weniger von den höheren Affen abweicht, als diese von den niedrigeren Gliedern derselben Gruppe verschieden sind. Folglich „ist es „nicht gerechtfertigt, den Menschen in eine besondere Ordnung zu stellen."

In einem früheren Theile dieses Bandes habe ich verschiedene That-sachen angeführt, welche zeigten, wie eng der Mensch in seiner Constitution mit den höheren Säugethieren übereinstimmt, und diese Ueber-einstimmung hängt ohne Zweifel von der grossen Aehnlichkeit unseres Körpers mit dem jener Thiere in der mikroskopischen Structur und chemischen Zusammensetzung ah. Ich führte das Beispiel an, dass wir

4  Proceed. Zoolog. Soc. 1869, p. 4.

5  Zeugnisse für die Stellung des Menschen in der Natur. Uebcrs. S. 79 und an andern Orten.

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Cap. 0.                Uebereiustimmuug zwischen Mensch und Affen.                     167

denselben Krankheiten und Angriffen verwandter Parasiten ausgesetzt sind; ferner unsere gemeinsame Neigung zu denselben Reizmitteln und die ähnlichen durch diese hervorgerufenen Wirkungen, ebenso die Wirkung verschiedener Arzneimittel und ähnliche Thatsachen.

Da geringe und nicht bedeutungsvolle Punkte der Uebereinstim-nuing zwischen dem Menschen und den höheren Affen in den systematischen Werken gewöhnlich nicht erwähnt werden und da dieselben, wenn sie zahlreich sind,- deutlich unsere Verwandtschaft aufdecken, will ich einige wenige dieser Punkte speciell anführen. Die relative Stellung der Gesichtszüge ist offenbar dieselbe beim Menschen und den Quadru-manen; und die verschiedenen Gemüthserregungen werden von nahezu ähnlichen Bewegungen der Muskeln und der Haut oberhalb der Augenbrauen und um den Mund hemm ausgedrückt. Einige wenige Gesichtsausdrücke sind in der That fast ganz dieselben, wie das Weinen bei gewissen Affenarten und das lärmende Lachen anderer, wobei die Mundwinkel rückwärts gezogen und die unteren Augenlider gerunzelt werden. Die äusseren Ohren sind merkwürdig gleich. Beim Menschen ist die Nase in viel höherem Maasse hervorstehend als bei den meisten Affen; wir können aber den Anfang zur Krümmung einer Adlernase an der Nase des Hoolock-Gibbon's sehen; und dies ist bei dem Sem-nopifliectta nasica bis zu einem lächerlichen Extrem geführt.

Das Gesicht vieler Affen ist mit Barten, Backenbärten oder Schnurr-bärten geziert. Bei manchen Arten von Semnopithecus6 wächst das, Haar auf dem Kopf zu einer bedeutenden Länge und bei dem Mützenaffen strahlt es von einem Punkte auf dem Scheitel aus, mit einer auf der Mitte herablaufenden Scheitelung wie beim Menschen. Es wird gewöhnlich gesagt, dass die Stirn dem Menschen sein edles und intellec-tuelles Ansehen gibt; aber das dichte Haar auf dem Kopfe des Mützenallen (Macacus radiatus) endet nach unten ganz plötzlich und es folgt ihm hier so kurzes und feines Haar oder Wolle, dass von einer geringen Entfernung aus die Stirn mit Ausnahme der Augenbrauen vollständig nackt erscheint. Man hat irrthümlicher Weise angeführt, dass Augenbrauen bei keinem Affen vorhanden wären. In der eben genannten Species ist der Grad von Nacktheit an der Stirn bei verschiedenen Individuen verschieden, und Eschkicht 7 gibt an, dass die Grenze zwischen der be-

6 Isid. Geoffroy Saint-Hilaire, Eist, natur. gener. Tom. II. 1850, p. 217. 1 Ueliei- die Richtung der Haare u. s. w. in: Müller's Archiv für Anat. und Physiol. 1837. S. 51.

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Genealogie des Menschen,

I. Theil.

haarten Kopfhaut und der nackten Stirn zuweilen nicht scharf bestimmt ist, so dass wir hier beiläufig einen Fall von Rückschlag auf einen Ur-erzeuger vor uns zu haben scheinen, bei welchem die Stirn noch nicht völlig nackt geworden war.

Es ist eine bekannte Thatsache, dass die Haare an unsern Armen von oben und unten am Ellbogen in eine Spitze zusammenzukommen streben. Diese merkwürdige Anordnung, welche der bei den meisten niederen Säugethieren so ungleich ist, findet sich in gleicher Weise beim Gorilla, dem Schimpanse, dem Orang, einigen Arten von Hylo-bales und selbst einigen wenigen amerikanischen Alten. Aber bei Hy-lobates agilis ist das Haar am Unterarm abwärts gerichtet, oder nach der gewöhnlichen Weise nach der Hand zu, und bei //. Lar ist es fast aufrecht mit einer nur sehr geringen Neigung nach vorn, so dass in dieser letzteren Art das Haar sich in einem Uebergangszustand befindet. Es kann kaum bezweifelt werden, dass bei den meisten Säugethieren die Dichte des Haars und seine Pachtung auf dem Rücken dem Zwecke angepasst ist, den Regen abzuhalten; selbst die querstehenden Haare auf den Vorderbeinen eines Hundes können zu diesem Zwecke dienen, wenn er beim Sciilafen sich zusammengerollt hat. Mr. Wallace macht die Bemerkung, dass das Convergiren der Haare nach dem Ellbogen zu an den Armen des Orang (dessen Lebensweise er sorgfältig studirt hat) dazu dient, den Regen abzuhalten, wenn die Arme, wie es der Gebrauch dieses Thicres ist, gebogen und die Hände um einen Zweig oder selbst auf seinem eigenen Kopf zusammengefaltet sind. Wir müssen indess anch beachten, dass die Haltung eines Thiers zum Theil vielleicht durch die Richtung seiner Haare bestimmt sein mag und nicht umgekehrt die Richtung der Haare durch die Haltung. Ist die eben gegebene Erklärung iu Bezug auf den Orang correct, so bietet das Haar an unsern Vorderarmen ein merkwürdiges Zeugniss für unsern frühern Zustand dar; denn Niemand kann die Vermuthung hegen, dass es jetzt von irgendwelchem Nutzen ist zur Abhaltung des Regens; es wäre auch bei unserer jetzigen aufrechten Stellung für diesen Zweck entschieden nicht passend gerichtet.

Es würde indessen voreilig sein, dem Principe der Anpassung in Bezug auf die Richtung der Haare beim Menschen oder seinen frühen Urerzeugern zu sehr zu vertrauen; denn es ist unmöglich, die von Eschricht über die Anordnung der Haare am menschlichen Fötus (und diese ist dieselbe wie beim Erwachsenen) gegebenen Figuren zu

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Cap. ti.               Uebereiustimmung zwischen Mensch und Affen.                     169

betrachten, ohne mit diesem ausgezeichneten Beobachter darin übereinzustimmen, dass noch andere und noch complicirtere Ursachen dazwischen getreten sind. Die Convergenzpunkte scheinen in einer gewissen Beziehung zu den Punkten beim Embryo zu stehen, welche sich während seiner Entwickelung zuletzt geschlossen haben. Es scheint auch irgendwelche Beziehung zwischen der Anordnung der Haare an den Gliedmaassen und dem Verlaufe der Markarterien zu bestehen s.

Man darf nun aber auch nicht etwa annehmen, dass die Aehnlich-keit, in den eben genannten und .vielen andern Punkten, zwischen dem Menschen und gewissen Affen — wie der Besitz einer nackten Stirn, eines wallenden Haarwuchses auf dem Kopfe u. s. w. — sämmtlich nothwendig das Resultat einer ununterbrochenen Vererbung von einem mit diesen Merkmalen versehenen Urerzeuger oder eines später eingetretenen Rückschlags sind. Viele von diesen Übereinstimmungen sind wahrscheinlich eine Folge analoger Abänderungen, welche, wie ich an einem andern Orte zu zeigen versucht habe 9, daher rühren, dass von gemeinsamen Stammformen ausgehende Organismen eine ähnliche Constitution haben und von ähnlichen, Variabilität hervorrufenden Ursachen beeinfliisst worden sind. In Bezug auf die ähnliche Richtung der Haare am Vorderarme des Menschen und gewisser Affen lässt sich, da dieses Merkmal fast allen anthropomorphen Affen gemeinsam zukommt, wohl annehmen, dass es wahrscheinlich auf Vererbung zu beziehen ist; indessen doch nicht sicher, da auch einige sehr weit abstehende ameri-kanische Affen in gleicher Weise characterisirt sind. Diese Bemerkung lässt sich auch auf den schwanzlosen Zustand des Menschen anwenden; denn der Schwanz fehlt bei allen anthropomorphen Affen. Nichtsdestoweniger lässt sich dieses Merkmal nicht mit Sicherheit der Vererbung zuschreiben, da der Schwanz, wenn er auch nicht völlig fehlt, doch bei verschiedenen andern Arten der alten Welt und bei einigen der neuen Welt rudimentär ist und bei mehreren zu der verwandten Gruppe der Lemuren gehörenden Species völlig fehlt.

* Ueber das Haar bei Hylobates s. C. L. Martin, Natur. Hist. of Mam-mals. 1841, p. 415, auch Isid. Geoffroy Sahu-Hilai re, über die amerikanischen Affen und andere Arten in: Hist. uatur. gener. Tom. II. 1859, ]>. 210, 243. Eschricht, a.a.O. S. 40, 55, Gl. Owen, Anatomy of Yertebrates. Vol. III. r. Gl». Wallace, Contributions to the Theory of Natural Selection. 1870, p. 344.

9 Entstehung der Arten. (Uebers.) 4. Aufl. S. 181. Das Variiren der Thierc und Pflanzen etc. Bd. 2, S. 459.

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Genealogie des Menschen.

I. Theil.

Obgleich nun, wie wir jetzt gesehen haben, der Mensch kein begründetes Recht hat, eine besondere Ordnung für sich zu bilden, so könnte er doch vielleicht eine besondere Unterordnung oder Familie beanspruchen. Professor Huxley tlieilt in seinem neuesten Werk ,0 die Primaten in drei Unterordnungen-, die Anthropiden mit allein dem Menschen, die Simiaden, welche die Affen aller Arten umfassen, und die Lemuriden mit den mannichfaltigen Gattungen der Lemuren. Soweit Verschiedenheiten in gewissen wichtigen Theilen des Baues in Betracht kommen, kann der Mensch ohne Zweifel mit Recht den Rang einer Unterordnung beanspruchen, und diese Stellung ist zu niedrig, wenn wir hauptsächlich auf seine geistigen Fähigkeiten blicken. Nichtsdestoweniger scheint es von einem genealogischen Gesichtspunkte aus, als sei dieser Kang zu hoch und dürfe der Mensch nur eine Familie oder möglicherweise selbst nur ^eiue Unterfamilie bilden. Stellen wir uns vor, es giengen drei Descendenzliiiien von einer gemeinsamen Stammform aus, so ist es völlig begreiflich, dass zwei von ihnen nach dem V.erlauf langer Zeiten so unbedeutend verändert sein könnten, dass sie noch immer Species einer und derselben Gattung blieben, während die dritte Desceiidenzlinie so bedeutend modificirt sein könnte, dass sie den Rang einer bestimmten Unterfamilie oder selbst Ordnung verdiente. Aber in diesem Falle ist es fast sicher, dass die dritte Linie noch immer in Folge der Vererbung zahlreiche kleine Punkte der Uebereinstimmung mit den andern beiden Linien darbieten würde. Hier würde denn nun die für jetzt unlösliche Schwierigkeit eintreten, wie viel Gewicht wir in uiisern Classificationen auf scharf ausgesprochene Verschiedenheiten in einigen wenigen Punkten, d. h. dem Betrage an eingetretenen Modifikationen legen sollen und wie viel auf eine nahe Uebereinstimmung in zahlreichen bedeutungslosen Punkten als Andeutung der Descendenz-reihe oder der Genealogie. Die erste Alternative ist die am meisten in die Augen springende und vielleicht die sicherste, obgleich die letztere die correctere zu sein scheint, da sie eine wirklich natürliche Classification gibt.

Um uns in Bezug auf den Menschen ein Urtheil über diesen Punkt zu bilden, müssen wir einen Blick auf die Classification der Simiaden werfen. Diese Familie wird fast von allen Zoologen in die Gruppe der Catarhinen oder Aften der alten Welt und in die Gruppe

10 An Introduction to the Classification of Animals. 1869, p. 99.

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Cap. 0.                          Rang des Menschen im System.                                171

der Platyrhinen oder Afl'en der neuen Welt getheilt. Die erstere ist iii ihren sämmtliclien Gliedern, wie schon ihr Name ausdrückt, durch die eigenthümlichc Structur ihrer Nasenlöcher und durch den Besitz von vier falschen Backzähnen in jeder Kinnlade characterisirt; die letztere, welche zwei sehr verschiedene Untergruppen enthält, umfasst Formen, welche sämmtlich durch verschieden gebaute Nasenlöcher und durch den Besitz von sechs falschen Backzähnen in jeder Gruppe characterisirt sind. Es lassen sich noch einige andere kleinere Verschiedenheiten anführen. Der Mensch gehört nun ohne Frage riieksichtlich seiner Bezahnung, des Baues seiner Nasenlöcher und in einigen anderen Beziehungen zu der Abtheilung der Catarhinen oder der altweltlichen Formen, und den Platyrhinen gleicht er nicht mehr als die Catarhinen in irgend welchen Merkmalen, mit Ausnahme einiger weniger von nicht besonderer Bedeutung und offenbar von einer adaptiven Natur. Es würde daher gegen alle Wahrscheinlichkeit sein, wollte man annehmen, dass irgend eine alte Species der neuweltlichen Gruppe variirt und dadurch ein menschenähnliches Wesen mit allen den distinetiven Merkmalen, welche der altweltlichen Abtheilung eigen sind, hervorgebracht habe, wobei sie gleichzeitig auch ihre sämmtliclien eigenen Unterscheidungsmerkmale verloren haben müsste. Es lässt sich folglich kaum irgend bezweifeln, dass der Mensch ein Zweig des altweltlichen Simia-denstammes ist und dass er von einem genealogischen Gesichtspunkte aus in die Abtheilung der Catarhinen einzuordnen ist u.

Die anthropomorphen Affen, nämlich der Gorilla, Schimpanse, Orang und Hylobates, -werden von den meisten Zoologen als eine besondere Untergruppe von den übrigen Affen der alten Welt getrennt. Es ist mir wohl bekannt, dass Gratiolet unter Bezugnahme auf die Bildung des Gehirns das Vorhandensein dieser Untergruppe nicht zugibt, und sie ist auch ohne Zweifel eine unterbrochene. So ist der Orang, wie Mr. St. George Mivart bemerkt12; „eine der eigenthüm-, lichsten und aberrantesten Formen , die sich in der ganzen Ordnung ,finden lässt." Die übrigen, nicht anthropomorphen Affen der alten Welt werden ferner von einigen Zoologen in zwei oder drei kleinere

11 Dies ist ziemlich dieselbe Classification wie die -provisorisch von St. George Jlivart angenommene (Philos. Transact. Roy. Soc. 1SG7, p. 200), welcher nach Abscheidung der Lenmriden die übrigen Primaten in die Hominiden, die Simiaden. den Catarhinen entsprechend, die Cebiden und die Hapaliden theilt wobei die beiden letzteien Gruppen den Platyrhinen entsprechen.

n Transact. Zoolog. Soc. Vol. VI. 1867, p. 214.

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Untergruppen getheilt. Die Gattung Semnopithecus mit ihrem eigentümlich zusammengesetzten Magen bildet den Typus der einen dieser Untergruppen. Es scheint aber aus den wunderbaren Entdeckungen Mr. Gaudry's in Griechenland hervorzugehen, dass dort während der Miocenperiode eine Form existirte, welche Senmopilhecus und Macacus verband, und dies erläutert wahrscheinlich die Art und Weise, in welcher die andern und höheren Gruppen einst mit einander zusammenhielten.

Wird zugegeben, dass die anthroporaorphen Affen eine natürliche Untergruppe bilden, so kann man auch schliessen, dass irgend ein altes Glied dieser anthropomorplien Untergruppe dem Menschen Entstehung gegeben habe. Denn der Mensch stimmt mit ihnen nicht bloss in allen denjenigen Merkmalen überein, welche er mit der ganzen Gruppe der Catarhinen in Gemeinschaft besitzt, sondern auch in andern eigenthüm-lichen Characteren, so in der Abwesenheit eines Schwanzes und der Ge-sässschwielen und in der ganzen äusseren Erscheinung. Es ist nicht wahrscheinlich, dass ein Glied einer der andern niederen Untergruppen durch das Gesetz analoger Abänderungen ein menschenähnliches Geschöpf, welches den anthroporaorphen Affen in so vielen Beziehungen gleicht, hätte entstehen lassen können. Ohne Zweifel ist der Mensch im Vergleich mit den meisten seiner Verwandten einem ausserordentlichen Betrage von Modification unterlegen, und zwar hauptsächlich in Folge seines bedeutend entwickelten Gehirns und seiner aufrechten Stellung. Nichtsdestoweniger dürfen wir nicht vergessen, dass er nur „eine „der verschiedenen exceptionellen Formen der Primaten ist" ,3.

Jeder Naturforscher, welcher an das Princip der Entwickelung glaubt, wird zugeben, dass die beiden Hauptabteilungen der Simiaden, nämlich die catarhinen und platyrhinen Affen mit ihren Untergruppen, sämmtlich von einem äusserst weit zurückliegenden alten Urerzeuger ausgegangen sind. Die frühen Nachkommen dieses Urerzeugers werden, ehe sie in irgend beträchtlichem Maasse von einander abgewichen waren, noch immer eine einzige natürliche Gruppe gebildet haben; aber einige dieser Arten oder dieser beginnenden Gattungen, werden bereits angefangen haben, durch ihre divergirenden Merkmale die künftigen Unterscheidungszeichen der beiden Abteilungen der Catarhinen und Platyrhinen anzudeuten. Es worden daher die Glieder dieser angenommenen

13 St. George Mivart, Philos. Transact. 1867, p. 410.

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Cap. 0.

Geburtsort und Alter des Menschen.

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alten Gruppe weder in ihrer Bezahlung noch in der Natur ihrer Nasenlöcher so gleichförmig gewesen sein, wie es auf der einen Seite die jetzt lebenden catarliinen, auf der andern die jetzt lebenden platyrliinen Affen sind, sondern sie werden in dieser Beziehung den verwandten Le-muriden geglichen haben, welche in der Form ihrer Schnauze l4 bedeutend und in Bezug auf ihre Bezahlung in einem ganz ausserordentlichen Grade von einander abweichen.

Die catarliinen und platyrliinen Affen stimmen in einer Menge von Merkmalen mit einander überein, wie sich schon aus dein Umstände ergibt, dass sie ohne Frage in eine und dieselbe Ordnung gestellt werden. Die vielerlei Charactere, welche sie in Gemeinschaft besitzen, können kaum von so vielen verschiedenen Species unabhängig erlaugt worden sein, es müssen also diese Merkmale vererbt sein. Aber eine alte Form, welche Charactere besass, von denen viele den catarliinen und platyrliinen Affen gemeinsam eigen sind, von denen andere in einem intermediären Zustande und einige wenige in einer von den gegenwärtig in beiden Gruppen vorhandenen vielleicht ganz verschiedenen Weise vorhanden waren, würde unzweifelhaft, wenn sie ein Zoolog zu bestimmen hätte, als ein Affe bezeichnet werden. Und da der Mensch von dem genealogischen Standpunkte aus zu dem Stamme der catarliinen oder altweltlichen Formen gehört, so müssen wir schliessen, wie sehr sich auch unser Stolz gegen diesen Schluss empören mag, dass unsere frühen Urerzeuger wahrscheinlich in dieser Weise bezeichnet worden wären 15. Wir dürfen aber nicht in den Irrthum verfallen, etwa anzunehmen, dass der frühe Urerzeuger des ganzen Stammes der Simiaden, mit Ein-schluss des Menschen, mit irgend einem jetzt existirenden Affen identisch oder ihm auch nur sehr ähnlich gewesen sei.

Ueber den Geburtsort und das Alter des Menschen. — Wir werden natürlich darauf geführt zu untersuchen, wo der Geburtsort des Menschen gewesen ist, d. h. auf derjenigen Stufe seiner Desceu-denzreihe, wo unsere Urerzeuger von dem Stamme der Catarliinen sich abzweigten. Die Thatsache, dass sie zu diesem Stamme gehörten, zeigt

11 Murie and St. George Mivart, On the Lemuridae in: Transact. Zool-log. Soo. Vol. VII. 186'J, p. 5.

13 Häckel ist. zu demselben Schlüsse gekommen, s. Ueber die Entstehung des Menschengeschlechts in Virchow's Samml. gemein, wissenseh. Vorträge. 18GS, S. 61. s. auch seine „Natürliche Schöpfungsgeschichte", in welcher er seine Ansichten über die Genealogie des Menschen im Einzelnen entwickelt.

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Genealogie des Mensehen.

I. Theil.

ganz entschieden, dass sie die alte Welt bewohnten, aber weder Australien noch irgend eine oceanische Insel, wie wir aus den Gesetzen der geographischen Verbreitung schliessen können. In jedem grossen Bezirk der Erde sind die dort lebenden Säugethiere nahe mit den ausgestorbenen Arten desselben Bezirks verwandt. Es ist daher wahrscheinlich, dass Afrika früher von jetzt ausgestorbenen Affen bewohnt wurde, welche dem Gorilla und dem Schimpanse nahe verwandt waren; und da diese beiden Species jetzt die nächsten Verwandten des Menschen sind, so ist es fast noch mehr als wahrscheinlich, dass unsere frühen Urerzeuger auf dem afrikanischen Festlande, und zwar liier eher als irgendwo anders, lebten. Es ist aber ganz unnütz, über diesen Gegenstand Speculationen anzustellen; denn ein Afi'e, fast so gross als der Mensch, nämlich der Dryopilhecns von Labtet, welcher mit dem an-thropomorphen Hylobates nahe verwandt war, existirte in Europa während der oberen Miocenperiode, und seit dieser so entfernt liegenden Periode hat die Erde sicher viele Ecvoliitionen erfahren und es ist auch hinreichende Zeit für Wanderungen im grössten Maassstabe vergangen.

Zu der Zeit und an dem Orte, wann und wo dies auch gewesen sein mag, als der Mensch zuerst sein Haarkleid verlor, bewohnte- er wahrscheinlich ein warmes Land, und dies würde einer Ernährung von Früchten, von denen er nach Analogie, zu urtheilen lebte, günstig gewesen sein. Wir sind weit davon entfernt, wirklich zu wissen, wanu der Mensch zuerst von dem Stamme der Catarhinen abzweigte; indess kann dies schon in einer so entfernten Periode eingetreten sein, wie der eocenen; denn die höheren Affen waren von den niedrigeren Formen der Ordnung bereits zu einer so frühen Zeit wie der oberen iniocenen abgezweigt, wie durch die Existenz des Dryopithecus eben bewiesen wird. Wir sind auch vollständig unwissend darüber, in einem wie schnellen Verhältnisse Organismen überhaupt, mögen sie nun hoch oder niedrig in der Stufenleiter stehen, unter günstigen Umständen modifi-cirt werden können ; indessen wissen wir, dass einige Organismen eine und dieselbe Form während eines enormen Zeitraums beibehalten haben. Nach dem, was wir im Zustande der Domestication an Thieren vor sich gehen sehen, bemerken wir, dass innerhalb einer und derselben Periode einige der gleichzeitigen Nachkommen einer und derselben Art gar nicht geändert zu haben brauchen, einige nur wenig und andere wieder bedeutend. So mag es mit dem Menschen der Fall gewesen sein, wel-

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Cap. G.                        Geburtsort und Alter des Menschen.                            175

eher im Vergleich mit den höheren Affen einen grossen Betrag an Modifikationen iu gewissen Merkmalen erfahren hat.

Die grosse Unterbrechung in der organischen Stufenreibe zwischen dem Menschen und seinen nächsten Verwandten, welche von keiner ausgestorbenen oder lebenden Specics überbrückt werden kann, ist oft als ein schwer wiegender Einwurf gegen die Annahme vorgebracht worden, dass der Mensch von einer niederen Form abgestammt ist; für Diejenigen aber, welche durch allgemeine Gründe überzeugt an das allgemeine Princip der Evolution glauben, wird dieser Einwurf nicht als ein Einwurf von sehr grossem Gewichte erscheinen. Solche Unterbrechungen treten unaufhörlich an allen Punkten der Reihe auf, einige sind weit, sehr scharf abgeschnitten und bestimmt, andere in verschiedenen Graden weniger nach diesen Beziehungen hin, so z. B. zwischen dem Orang und seinen nächsten Verwandten — zwischen dem Tarsius und den andern Lcmuriden — zwischen dem Elcphanten und in einer noch auffallenderen Weise zwischen dem Ornüliorhynchus oder der Echiclna und den andern Sängethieren. Aber alle diese Unterbrechungen beruhen lediglich auf der Zahl der verwandten Formen, welche ausgestorben sind. In irgend einer künftigen Zeit, welche nach Jahrhunderten gemessen nicht einmal sehr entfernt ist, werden die civilisirten Rassen der Menschheit beinahe mit Bestimmtheit auf der ganzen Erde die wilden Rassen ausgerottet und ersetzt haben. Wie Professor Sciiaaffhaüsen bemerkt hat1J, werden zu derselben Zeit ohne Zweifel auch die anthropomor-piien Affen ausgerottet sein. Die Unterbrechung wird dann noch weiter gemacht werden, denn sie tritt dann zwischen dem Menschen in einem noch civilisirteren Znstande als dem kaukasischen, wie-wir hoffen können, und irgend einem so tief in der Reihe stehenden Affen wie einem Pavian auf, statt dass sie sich gegenwärtig zwischen dem Nege'r oder Australier und dem Gorilla findet.

Was das Fehlen fossiler Reste betrifft, welche den Menschen mit seinen affenähnlichen Urerzeugern zu verbinden dienen, so wird Niemand auf diese Thatsache viel Gewicht legen, welcher Sir C. Ta-ell's Erörterung ,7 gelesen hat. worin er zeigt, dass in sämmtlichen Classen der Wirbelthierreihe die Entdeckung fossiler Reste -ein äusserst langsamer und vom Zufall abhängiger Vorgang gewesen ist. Auch darf man nicht

16  Anthropological Review. Apr. 18G7, p. 23G.

17  Elements of Geology. 1865, p. 583—585. Das Alter des Menschengeschlechts (Uebers.J. S. 07.

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Genealogie des Menschen.

I. Theil.

vergessen, dass diejenigen Gegenden, welche am wahrscheinlichsten solche Reste darbieten, welche den Menschen mit irgend einem ausgestorbenen affenähnlichen Geschöpfe verbinden, bis jetzt von Geologen noch nicht untersucht sind.

Die niederen Stufen in der Genealogie des Menschen.— Wir haben gesehen, dass der MensctJ sich als von der Abtheilung der Catarhinen oder altweltlichen Formen der Simiaden abgezweigt darstellt, welche Abzweigung also eintrat, nachdem diese Abtheilung von der der neuweltlichen Formen verschieden geworden war. Wir wollen jetzt versuchen, den noch entfernteren Zügen seiner Genealogie zu folgen, wobei wir uns an erster Stelle auf die gegenseitigen Verwandtschaften zwischen den verschiedenen Gassen und Ordnungen beziehen und eine, wenn auch untergeordnete Unterstützung von den Perioden hernehmen, in welchen dieselben, soweit bis jetzt ermittelt ist, nach einander auf der Oberfläche der Erde erschienen sind. Die Lemuriden stehen unter und dicht bei den Simiaden, indem sie eine sehr verschiedene Familie der Primaten oder nach Häckel selbst eine besondere Ordnung bilden. Diese Gruppe ist in einem ganz ausserordentlichen Grade verschiedenartig geworden und auseinandergefallen und umfasst viele aberrante Formen. Sie hat daher wahrscheinlich viel unter dem Aussterben einzelner Formen gelitten. Die meisten der Ueberbleibsel leben noch auf Inseln , namentlich auf Madagascar und auf den Inseln des malayischeu Archipels, wo sie keiner so scharfen Concurrenz ausgesetzt gewesen sind, als dies auf gut bevölkerten Continenten der Fall gewesen sein würde. Diese Gruppe bietet auch viele gradweise Verschiedenheiten dar, welche, wie Huxtjey bemerktl8 „unmerklich von der Krone und Spitze der thierisclien Schö-„pfung zu Geschöpfen herabführt, von denen scheinbar nur ein Schritt „zu den niedrigsten, kleinsten, und wenigst intelligenten Formen der „placentalen Säugethiere ist." Nach diesen verschiedenen Betrachtungen ist es wahrscheinlich, dass die Simiaden sich ursprünglich aus den Vorfahren der jetzt noch lebenden Lemuriden entwickelt haben und diese wiederum aus Formen, welche in der Reihe der Säugethiere sehr tief standen.

Die Beutelthiere stehen in vielen bedeutungsvollen Merkmalen unterhalb der placentalen Säugethiere. Sie erscheinen in einer früheren

,s Stellung des Menschen in der Natur. S. 119.

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Cap. C>.               Niedere Stnfen dos menschlichen Stammbaums.                    177

geologischen Periode und ihr Verbreitungsbezirk war früher ein viel ausgedehnterer, als sich derselbe jetzt darstellt. Es wird daher allgemein angenommen, dasfls die Placentalen sich von den Implacentalen oder den Beutelthieren heraus entwickelt haben, indessen nicht etwra von Formen, welche den jetzt existirenden Marsupialien sehr gleichen, sondern von deren frühen Urerzeugern. Die Monotremen sind ganz offenbar mit den Marsupialien verwandt, sie bilden eine dritte und noch niedrigere Abtheilung. In der ganzen Reihe der Säugethiere heutigen Tages werden sie nur von dem Ornithorhynclms und der Echidna re-präsentirt, und man kann diese beiden Formen wohl getrost als Ueber-bleibsel einer bedeutend grösseren Gruppe betrachten, welche in Folge des Zusammentreffens besonders günstiger Umstände in Australien erhalten worden sind. Die Monotremen sind ganz ausserordentlich interessant, da sie in mehreren bedeutungsvollen Punkten ihres Körperbaus nach der Classe der Keptilien hinführen.

Wenn wir den Versuch machen, die Genealogie der Säugethiere und daher auch des Menschen noch weiter abwärts in der Thierreihe zu verfolgen, so kommen wir auf immer dunklere Gebiete der Wissenschaft. Wer hier zu erfahren wünscht, was Scharfsinn und Kenntnisse hervorbringen können, mag die Schriften Professor Häckrl's zu Käthe ziehen 19. Ich will mich mit einigen allgemeinen Bemerkungen hier begnügen. Jeder Anhänger der Evolutionstheorie wird zugeben, dass die fünf grossen Wirbelthierclassen, nämlich Säugethiere, Vögel, Keptilien, Amphibien und Fische, sämmtlich von einem gemeinsamen Pro-totype oder von einer Stammform abgestammt sind; denn sie haben sehr viel, besonders während ihrer embiyonaleu Zustände, gemeinsam. Da die Classe der Fische die am niedrigsten organisirte ist und vor den übrigen auf der Erde erschienen ist, so können wir schliessen, dass sämmtliche Glieder des Wirbelthierreichs von irgend einem fischälm-lichen Thiere herrühren, welches noch weniger hoch organisirt war als irgend eines, welches bis jetzt in den bekannten tiefsten Formationen

19 Ausgeführte Tabellen sind mitgetheilt in seiner „Generellen Morphologie". Bd. 2, S. CLIII und S. 425 und mit speciellerer Beziehung auf den Menschen in seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte" 1870. Bei der kritischen Anzeige des letzteren Werkes iu The Academy, 1869, p. 42 sagt Prof. Huxley, dass er das Phylum oder die Descendenzlinien der Vertebraten für ausgezeichnet von Häckel erörtert hält, wenngleich er von ihm in einigen Punkten abweicht. Er drückt auch seine hohe Wertbschätzung der allgemeinen Haltung und des Geistes des ganzen Werkes aus.

DAttWIN, Abstammung. I. Zweite Auflage.                                                   12

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178

Genealogie des Menschen.

I. Theil.

gefunden worden ist. Die Annahme, dass von einander so verschiedene Thiere, wie ein Elephant oder Affe und ein Kolibri, eine Schlange, ein Frosch und ein Fisch u. s. w. siimmtlicli von denselben Eltern entsprossen sein könnten, wird Denjenigen ganz monströs erscheinen, welche die neueren Fortschritte der Naturgeschichte nicht mit Aufmerksamkeit verfolgt haben; denn diese Annahme setzt die frühere Existenz von Zwischengliedern voraus, welche alle diese jetzt so völlig ungleichen Formen eng mit einander verbanden.

Nichtsdestoweniger ist es sicher, dass Thiergruppen existirt haben, oder selbst jetzt noch existiren, welche die verschiedenen grossen Wir-belthierclassen mehr oder weniger eng mit einander zu verbinden geeignet waren oder sind. Wir haben gesehen, dass der Ornithorhynchus sich in mehreren Beziehungen den Reptilien nähert und Professor Huxley hat die merkwürdige Entdeckung gemacht, welche Mr. Cope und Andere bestätigt haben, dass die alten Dinosaurier in vielen wichtigen Beziehungen mitten zwischen gewissen Reptilien und gewissen Vögeln inne stehen; und zu den letzteren gehören die straussartigen Vögel (offenbar die weitverbreiteten Reste einer grösseren Gruppe) und der Archaeo-pteryx, jener merkwürdige Vogel, welcher einen langen Schwanz hatte wie eine Eidechse. Ferner bieten nach Professor Owen 20 die Ichthyosaurier — grosse Meereidechsen, die mit Ruderfi'issen versehen waren — viele Verwandtschaften mit Fischen oder vielmehr, Huxley zufolge, mit Amphibien dar. Diese letztere Classe, welche in ihrer höchsten Abtheilung die Frösche und Kröten enthält, ist offenbar mit den ga-noiden Fischen verwandt. Diese letzteren Fische wieder waren während der früheren geologischen Perioden sehr zahlreich und nach einem, wie man sich auszudrücken pflegt, bedeutend verallgemeinerten Plane gebaut, d. h. sie zeigten verschiedenartige Verwandtschaften mit andern Gruppen von Organismen. Die Amphibien und Fische sind auch durch den Lepidosiren so nahe mit einander verbunden, dass die Zoologen sich lange gestritten haben, m welche dieser beiden Gruppen jene Form zu stellen sei. Der Lepidosiren und einige wenige ganoide Fische sind dadurch vor völliger Zerstörung gerettet worden, dass sie unsere Flüsse bewohnen, welche schützende Häfen bilden und dieselbe Beziehung zu den grossen Wassermassen des Oceans darbieten, wie die Inseln zu den Continenten.

Palaeontology. 1860, p. 199.

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Cap. G.               Niedere Stufen des menschlichen Stammbaums.                    179

Endlich ist ein einziges Glied der ungeheuer grossen und verschiedenartigen Classe der Fische, nämlich das Lanzettfischchen oder Amphioxus, so verschieden von allen übrigen Fischen, dass Häckel behauptet, es müsste eine besondere Classe im Wirbelthierreiche bilden. Dieser Fisch ist wegen seiner negativen Merkmale merkwürdig; man kann kaum sagen, dass er ein Gehirn, eine Wirbelsäule, ein Herz u. s. w. besitzt, so dass er auch von den älteren Naturforschern unter die Würmer gestellt wurde. Vor vielen Jahren machte Professor Goobsir die Beobachtung, dass das Lanzettfischchen einige Verwandtschaften mit den Ascidien darbietet, welche wirbellose hermaphroditische marine Geschöpfe und beständig fremden Körpern angeheftet sind. Sie erscheinen kaum als Thiere und bestehen aus einem zähen lederartigen Sacke mit zwei kleinen vorspringenden Oeftinuigen. Sie gehören zu den Mol-luscoiden Hüxley's, einer niedrigen Abtheilung des grossen Unterreichs der Mollusken; neuerdings sind sie aber von einigen Zoologen unter die Vermes oder AVürmer gestellt worden. Ihre Larven sind der Form nach den Kaulquappen etwas ähnlich 21 und haben das Vermögen frei herumzuschwimmen. Einige neuerdings von KÖwaleysky -- gemachte und seitdem von Professor Kuppfer bestätigte Beobachtungen werden eine Entdeckung von ausserordentlichem Interesse darbieten, wenn sie noch weiter ausgedehnt sein werden, wie es auch Kowalevsky in Neapel nach dem, was ich darüber höre, jetzt ausgeführt hat. Die Entdeckung besteht darin, dass die Larven der Ascidien den Wirbelthieren verwandt sind und zwar in der Weise ihrer Entwickelung, in der relativen Lage ihres Nervensystems und in dem Besitze eines Gebildes, welches der Chorda dorsalis der Wirbelthiere gleicht. Dürfen wir uns nun auf Embryologie verlassen, welche sich stets als der sicherste Führer hei der Classification erwiesen hat, so scheint es hiernach, als hätten wir end-

21 Ich habe die Genugthunng gehabt, auf den Falkland-Inseln im April 1833 und daher mehrere Jahre vor irgend einem andern Naturforscher die loeomo-tiven Larven einer zusammengesetzten Ascidie gesehen zu haben, welche mit Sy-noieum nahe verwandt, aber, wie es scheint, doch generisch von ihm verschieden war. Der Schwanz war ungefähr fünfmal so lang als der oblonge Kopf und endete in einem feinen Faden. Er war, wie ich es unter einem einfachen Mikroskop gezeichnet habe, deutlich durch quere opake Abtheilungen getheilt, welche, wie ich vermnthe, die grossen von Kowalevsky abgebildeten Zellen darstellen. Auf einer früheren Eutwickelungsstufc war der Schwanz dicht um den Kopf der Larve gewickelt.

" Memoir. de l'Acad. des Scienc. de St. Pctcrsbourg. Tom. X, No. 15. 186G. -                                                                        j2 *

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\ 80                                   Genealogie des Menschen,                              I. Theil.

lieh eiuen Schlüssel zu jener Quelle gefunden, aus welcher die Wirbel-thierc herstammen. Wir würden darnach zu der Annahme berechtigt sein, dass in einer äusserst frühen Feriode eine Gruppe voii Thieren existirte, in vielen Beziehungen den Larven unserer jetzt lebenden Asci-dien ähnlich, welche in zwei grosse Zweige auseinandergiong; von'diesen gieng der eine in der Entwickelung zurück und -brachte die jetzige Classe der Ascidien hervor, während der andere sich zu der Krone und Spitze des ganzen Tliierreichs erhob dadurch, dass er die Wirbel-thierc entstehen liess.

Wir haben bis jetzt versucht, in grossen Umrissen die Genealogie der Wirbelthiere mit Hülfe ihrer gegenseitigen Verwandtschaften zu entwerfen. Wir wollen nunmehr den Menschen betrachten, wie er gegenwärtig oxistirt, und ich meine, wir werden theilweise im Stande sein, in den aufeinanderfolgenden Perioden, aber wohl nicht in der gehörigen Zeitfolge, den Bau unserer frühen Urerzeuger zu reconstruiren. Dies kann mit Hülfe der Rudimente ausgeführt werden, welche der Mensch noch besitzt, ferner durch die Charactere, welche gelegentlich bei ihm in Folge eines Rückschlags zur Erscheinung kommen, und endlich durch die Hülfe der Gesetze der Morphologie und Embryologie. Die verschiedenen Thatsacheu, auf welche ich mich hier beziehen werde, sind in den vorausgehenden Capitata mitgetheilt worden. Die früheu Urerzeuger des Menschen waren ohne Zweifel einst mit Haaren bekleidet, wobei beide Geschlechter Barte hatten. Ihre Ohren waren zugespitzt und einer Bewegung fähig und ihre Körper waren mit einem Schwänze versehen, welcher die gehörigen Muskeln besass. Auch auf ihre Gliedmassen und den Körper wirkten viele Muskeln, welche jetzt nur gelegentlich wiedererscheinen, aber bei den Quadrumanen im normalen Zustande vorhanden sind. Die grosse Arterie und der Nerv des Oberarms liefen durch ein supracondyloides Loch. In dieser oder einer noch früheren Periode gab der Dannkanal ein viel grösseres Divertikel oder einen Blinddarm ab als der jetzt beim Menschen vorhandene ist. Nach dem Zustande der grossen Zehe beim Menschen zu urtheilen war damals der Fuss ein' Greiü'uss und ohne Zweifel waren unsere Urerzeuger Baumthiere, welche ein warmes, mit Wäldern bedecktes Land bewohnten. Die Männchen waren mit grossen Eckzähnen versehen, welche ihnen als furchtbare Waffen dienten.

Auf einer noch viel früheren Periode war der Uterus doppelt, die

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Cap. 6.

Zwitterzustand der Wirhelthiere.

181

Answnrfsstoffe wurden durch eine Cloake entleert und das Auge wurde von einem dritten Augenlide oder einer Nickhaut beschützt. Auf einer noch früheren Periode müssen die Urerzeuger des Menschen in ihrer Lebensweise Wasserthiere gewesen sein; denn die Morphologie lehrt ganz deutlich, dass unsere Lungen aus einer modiflcirten Schwimmblase her-vorgiengen, welche einst als hydrostatisches Gebilde wirkte. Die Spalten am Halse des menschlichen Embryo's zeigen uns, wo einst die Kiemen lagen. Ungefähr in dieser Periode wurden die echten Nieren durch die WoLFF'schen Körper ersetzt. Das Herz bestand nur in der Form eines einfach pulsirenden Gefässes und die Chorda dorsalis nahm die Stelle einer Wirbelsäule ein. Diese frühen Vorläufer des Menscheu, welche wir hiernach in den dunklen Zeiten vergangener Aeonen sehen, müssen so niedrig organisirt gewesen sein wie das Lanzettfisclichen oder Am-phioxus, oder selbst noch niedriger.

Es ist aber noch ein anderer Punkt, welcher einer ausführlichen Erwähnung bedarf. Es ist längst bekannt, dass in dem Wirbelthier-reiche das eine Geschlecht Rudimente verschiedener accessorischer, zu dem Systeme der Keproductionsorgane gehöriger Theile besitzt, welche eigentlich dem entgegengesetzten Geschlechte angehören, und es ist jetzt ermittelt worden, dass auf einer sehr frühen embryonalen Periode beide Geschlechter echte männliche und weibliche Generationsdrüsen besassen. Es scheint daher ein äusserst weit zurückliegender Urerzeuger des grossen Wirbelthierreichs hermaphroditisch oder androgyn gewesen zu seinrs. Hier stossen wir aber auf eine eigentümliche Schwierigkeit. In der Classe der Säugethiere besitzen die Männchen in ihren Vesiculae pro-staticae Rudimente eines Uterus mit dem daranstossenden Canal, sie besitzen auch Eudimente von Brustdrüsen; und einige männliche Beutel-thiere haben Rudimente einer marsupialen Tasche 24. Es liessen sich

23 Dies ist die Schlnssfolgerung, zu welcher eine der höchsten Autoritäten in der vergleichenden Anatomie gelangte, nämlich Prof. Gegenbaur, in seinen Grundzügen der vergleichenden Anatomie. 2. Aufl. 1870, S. 876. Er ist zu diesem Resultate vorzüglich durch das Studium der Amphibien geleitet worden; es scheint aber nach den Untersuchungen Wald ey er 's (Eierstock und Ei. Ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichto der Soxtialorgane. Leipzig, 1870, S. 152 flgde.) die Uranlage der Sexualorgane auch bei den höheren Vertcbraten hermaphroditisch zu sein (citirt in Hnmphry's Journ. of Anat. and Phys. 1869, p. 161). Aehnliche Ansichten haben mehrere Schriftsteller schon vor längerer Zeit ge-theilt, wenn schon nicht so gut begründet wie in neuerer Zeit.

21 Der männliche Thi/hitinus bietet das beste Beispiel dar. Owen, Ana-tomy of Vertebratos. Vol. III, p. 771.

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Genealogie des Menschen.

I. Theil.

noch andere analoge Thatsachen hinzufügen. Haben wir nun anzunehmen, dass irgend ein äusserst altes Säugethier Organe besass, welche beiden Geschlechtern eigen sind, d. h. welches zwitterhaft blieb, nachdem es die hauptsächlichsten Unterscheidungsmerkmale seiner eigenen Classe erlangt hatte, nachdem es daher von den niederen Classen des Wirbelthierreichs. abgezweigt war? Dies scheint im höchsten Grade unwahrscheinlich zu sein. Denn wäre dies der Fall gewesen, so hätten wir erwarten können, dass einige wenige Glieder der beiden niederen Classen, nämlich der Fische23 und Amphibien, noch immer androgyn geblieben wären. Wir müssen im Gegentheile glauben, dass, als die fünf Wirbelthierclassen von ihrem gemeinsamen Urerzeuger divergirten, die Geschlechter bereits getrennt geworden waren. Um indessen die Thatsache zu erklären, dass männliche Sängethiere Rudimente der ac-ccssorischen weiblichen Organe und dass weibliehe Sängethiere Rudimente der männlichen Organe besitzen, brauchen wir nicht anzunehmen, dass ihre früheren Urerzeuger noch immer Zwitter waren, nachdem sie ihre hauptsächlichsten Säiigethiermerkmale angenommen hatten. Es ist sehr wohl möglich, dass, in der Weise als das eine Geschecht allmählich die ihm eigenthümlichen accessorischen Organe erlangte, einzelne der aufeinanderfolgenden Stufen oder Modifikationen auf das andere Geschlecht mit überliefert wurden. Wenn wir die geschlechtliche Zuchtwahl zu behandeln haben werden, werden wir zahllose Beispiele dieser Form der Ueberlieferung antreffen, — so in den Fällen, wo Spornen, besondere Federn oder brillante Farben, welche von den männlichen Vögeln zum Kämpfen oder zum Schmuck erlangt worden sind, im einem inivollkommenen oder rudimentären Zustand den Weibchen überliefert worden sind.-Dass männliche Sängethiere functionell unvollkommene Milchdrüsen besitzen, ist in manchen Beziehungen ganz besonders merkwürdig. Die Monotremen haben die ordentlichen milchabsondernden Drüsen mit Oeftnungen aber ohne Zitzen; und da diese Thiere factisch auf dem Boden der ganzen Säugethierreihe stehen, so ist es wahrscheinlich, dass die Urerzeuger der Classe in gleicher Weise die milchabsondernden

2 Bekanntlich findet sich Serranus oft in einem hermaphroditischen Zustande, wobei die den beiden Geschlechtern eigenen Organe symmetrisch entwickelt sind. Mehrere tüchtige Naturforseher sind überzeugt, dass dies der Normalzustand ist; Dr. Günther theilt mir indessen mit, er sei der Ansicht, dass dies nicht der normale Zustand sei. Abstammung von einem alten androgynen Prototype würde aber natürlich das Wiederauftreten dieses Zustandes bei Fischen begünstigen und in einem gewissen Maasse erklären, wenn er ein abnormer wäre.

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Cap. Ij.                         Zwitterznstand der Wirhelthiere.                                j 83

Drüsen, aber keine Zitzen besassen. Diese Folgerung wird noch durch das unterstützt, was wir von ihrer Entwickelungsweise wissen; denn Professor Turner theilt mir nach der Autorität von Köllikee und Langer mit, dass beim Embryo die Milchdrüsen deutlich nachgewiesen werden können, noch ehe die Warzen auch nur im geringsten sichtbar sind; und man muss im Sinne behalten, dass die Entwickelung nach einander auftretender Theile am Individuum im Allgemeinen die Entwickelung nach einander auftretender Geschöpfe in derselben Descendenz-reihe darzustellen oder mit dieser übereinzustimmen scheint. Die Marsupialien weichen von den Monotreraen durch den Besitz von Zitzen ab, so dass diese Organe wahrscheinlich von den Marsupialien zuerst erlangt wurden, nachdem sie von den Monotremen sich abgezweigt und sich über dieselben erhoben hatten, worauf sie dann den placentalen Säuge-thieren überliefert wurden. Niemand wird annehmen, dass irgend ein Glied der Säugetliierreihc noch zwitterhaft blieb, nachdem die Marsupialien ihren gegenwärtigen Bau annäherungsweise erreicht hatten, d. h. in einer im Ganzen späten Periode der Entwickelung der Säugethiere. Wir scheinen daher genöthigt zn sein, auf die vorstehende Ansicht zurückzukommen und zu schlicssen, dass die Zitzen zuerst bei den Weibchen irgend einer sehr frühen marsupialeu Form sich entwickelt und dann in Uebereinstimmung mit einem allgemeinen Gesetze der Vererbung in einem functionell unvollkommenen Zustand sich auf die Männchen vererbt haben.

Nichtsdestoweniger ist mir zuweilen eine Vermuthung durch den Sinn gegangen, dass lange nachdem die Urerzcuger der ganzen Säuge-thierclasse aufgehört hatten, Zwitter zu sein, beide Geschlechter Milch erzeugt und damit ihre Jungen ernährt haben mögen und, was die Marsupialien betrifft, dass beide Geschlechter ihre Jungen in den mar-supialen Taschen mit sich herumgeführt haben mögen. Dies wird nicht völlig unglaubhaft erscheinen, wenn wir bedenken, dass die Männchen der Nadelfische (SyngnathusJ die Eier der Weibchen in ihre abdominalen Taschen aufnehmen, sie ausbrüten und, wie Manche annehmen, später die Jungen ernähren26, — dass ferner gewisse andere männ-

26 Mr. Lockwood glaubt (nach dem Citat im Quart. Jour. of Science, Apr. 1808, p. 2G9) nach dem was er über die Entwickelung von llipptwampus beobachtet hat, dass die Wandungen der Abdominaltasche des Männchen in irgend einer Weise Nahrung darbieten. Ueher männliche Fische, welche die Eier in ihrem Munde ausbrüten s. einen sehr interessanten Aufsatz von Prof. Wyman

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Genealogie des Menschen.

I. Theil.

liehe Fische die Eier innerhalb ihres Mundes oder der Kiemenhöhlen ausbrüten, — dass gewisse männliche Kröten die rosenkranzförmigen Reihen von Eiern von ihren "Weibchen abnehmen und sie um ihre eigenen Schenkel herumwinden und dort behalten, bis die Kaulquappen geboren worden sind, — dass ferner gewisse männliche Vögel die Pflicht des Brütens ganz auf sich nehmen und dass männliche Tauben ebenso gut wie die weiblichen ihre Nestlinge mit einer Absonderung aus ihrem Kröpfe ernähren. Die oben angegebene Vermuthung kam mir aber zuerst, als ich sah, dass die Milchdrüsen bei männlichen Säugethieren so viel vollkommener entwickelt sind als die Rudimente jener andern ac-cessorischen Theile des Fortpflanzungssystems, welche sich in dem einen Geschlechte finden, trotzdem sie eigentlich dem andern angehören. Die Milchdrüsen und Zitzen können in der Form, wie sie bei männlichen Säugethieren existiren, in der That kaum rudimentär genannt werden, sie sind einfach nicht vollständig entwickelt und nicht functionell thä-tig. Sie werden unter dem Einflüsse gewisser Krankheiten sympathisch mit afficirt, ganz wie dieselben Organe beim Weibchen. Bei der Geburt sondern sie oft einige wenige Tropfen Milch ab, und man hat Fälle kennen gelernt, wo sie gelegentlich beim Menchen und andern Säugethieren wohl entwickelt waren und eine reichliche Menge von Milch absonderten. Wenn wir nun annehmen, dass während einer frühen lange dauernden Periode die männlichen Säugethiere ihre Weibchen bei der Ernährung ihrer Nachkommen unterstützten und dass später aus irgend einer Ursache, wie, wenn eine kleinere Zahl von Jungen hervorgebracht wurde, die Männchen aufhörten, diese Hülfe 7.11 widmen, so würde Nichtgebrauch der Organe während des Reifezustands dazu führen, dass sie unthätig wurden; und nach zwei bekannten Principien der Vererbung würde dieser Znstand der Unthätigkeit wahrscheinlich auf die Männchen im entsprechenden Alter der Reife vererbt werden. Aber auf allen früheren Lebensaltern würde dieses Organ unafficirt bleiben, so dass sie bei den Jungen beider Geschlechter gleichmässig wohl entwickelt sein würden.

Schluss. — Die beste Definition der Weiterentwickelung oder des Fortschritts in der organischen Stufenleiter, welche je gegeben worin: rroceeil. Boston. Soc. ^Tat. Hist. Sept. 15. 1857, auch Prof. Turner in Jouru. of Anat. and Physiol. Jfov. 1. 18G6, p. 78. Aehnliohe Fälle hat gleicherweise Dr. Günther beschrieben.

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Cap. 6.                              Genealogie des Menschen.                                      185

den ist, ist die von Karl Ernst von Baer und diese beruht auf dem Betrag der Difterenzirung und Specialisirung der verschiedenen Theile eines und desselben Wesens, wenn es, wie ich geneigt sein würde hinzuzufügen, zur Keife gelangt ist. Da nun Organismen mittelst der natürlichen Zuchtwahl langsam verschiedenartigen Richtungen des Lebens angepasst worden sind, so werden ihre Theile in Folge des durch die Theilung der physiologischen Arbeit erlangten Vortheils immer mehr und mehr für verschiedene Functionen differencirt und specialisirt worden sein. Ein und derselbe Theil scheint oft zuerst für den einen Zweck und dann lange Zeit später für irgend einen andern und völlig verschiedenen Zweck modificirt worden zu sein; und hierdurch sind alle Theile mehr oder weniger complicirt gemacht worden. Aber jeder Organismus wird noch immer den allgemeinen Typus des Baues seines Urerzeugers, von dem er ursprünglich herrührte, beibehalten. In Ue-bereinstimmung mit dieser Ansicht ist es, wie wir "unter Berücksichtigung der geologischen Zeugnisse annehmen, dass die Organisation im Ganzen auf der Erde in langsamen und unterbrochenen Schritten vorgeschritten ist. In dem grossen Unterreiche der Wirbelthiere hat sie im Menschen gegipfelt. Es darf indessen nicht angenommen werden, dass Gruppen organischer AVesen fortwährend unterdrückt werden und verschwinden, sobald sie andern und vollkommeneren Gruppen Entstehung gegeben haben. Wenn auch die Letzteren über ihre Vorgänger gesiegt haben, so brauchen sie doch nicht für alle Stellen in dem Haushalte der Natur besser angepasst gewesen zu sein. Einige alte Formen scheinen leben geblieben zu sein, weil sie geschützte Orte bewohnten, wo sie keiner sehr scharfen Concurrenz ausgesetzt waren; und diese unterstützen uns oft bei der Constrnction unser Genealogien dadurch, dass sie uns ein leidliches Bild früherer und sonst verloren gegangener Bildungen geben. Wir dürfen aber nicht in den Irrthum verfallen, die jetzt lebenden Glieder irgend einer niedrig organisirten Gruppe als vollkommene Repräsentanten ihrer alten Urerzeuger zu betrachten.

Die ältesten Urerzeuger im Unterreiche der Wirbelthiere, auf welche wir im Stande sind, einen, wenn auch nur undeutlichen, Blick zu werfen, bestanden, wie es scheint, aus einer Gruppe von Seethieren-7,

27 Alle Lebensvorgänge neigen zu einem Verlaufe in feststehenden und wiederkehrenden Perioden und bei zwischen den Flutligrenzen lebenden Thieren werden diese Perioden wahrscheinlich Mondperioden gewesen sein; denn solche Thiere müssen während zahlloser Generationen in regelmässigen lunaren Zwi-

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Genealogie des Menschen.

I. Theil.

welche den Larven der jetzt lebenden Ascidien ähnlich waren. Diese Thiere Hessen wahrscheinlich eine Gruppe von Fischen entstehen, welche gleich niedrig wie der Lanzettfisch orgauisirt waren; und aus diesen müssen sich die ganoiden und andere dem Lepidosiren ähnliche Fische entwickelt haben. Von derartigen Fischen wird uns ein nur sehr geringer Fortschritt zu den Amphibien hinführen. Wir haben gesehen, dass Vögel nnd Eeptilien einst innig mit einander verbunden waren, und die Monotremen bringen jetzt in einem unbedeutenden Grade die Säugethiere- mit den Eeptilien in Verbindung. Für jetzt kann aber Niemand sagen, durch welche Descendenzreihe die drei höheren und verwandten Gassen, nämlich Sängethiere, Vögel und Reptilien, von einer der beiden niederen Wirbelthierclassen, nämlich Amphibien und Fischen, abzuleiten sind. Innerhalb der Classe der Sängethiere sind die einzelnen Schritte nicht schwer zu verfolgen, welche von den alten Monotremen zu den alten Marsupialien führen und von diesen zu den frühen Urerzeugern der placentalen Sängethiere. Wir können auf diese Weise bis zu den Lemuriden aufsteigen und der Zwischenraum zwischen diesen bis zu den Simiaden ist nicht gross. Die Simiaden zweigten sich dann in zwei grosse Stämme ab, die neuweltlichen nnd die altweltlichen Affen, und aus den letzteren gieng in einer frühen Zeit der Mensch, das Wunder und der Ruhm des Weltalls, hervor.

Wir haben auf diese Weise dem Menschen einen Stammbaum von wunderbarer Länge gegeben, man könnte aber meinen nicht einen Stammbaum von edler Beschaffenheit. Es ist oft bemerkt worden, dass die Welt sich lange auf die Ankuuft des Menschen vorbereitet zu haben scheint; und dies ist in einem gewissen Sinne durchaus wahr, denn er

schenränmen trocken gelassen oder mitliefern Wasser bedeckt, mit reichlicher oder beschränkter Nahrung versorgt gewesen sein. Wenn daher die Wirbelthiere von einem Thiere abgestammt sind, welches mit den jetzt zwischen den Flnth-grenzen lebenden Ascidien verwandt war, so wird die mysteriöse Thatsaehe, dass bei den höheren und jetzt auf dem Lande lebenden Wirbelthieren, — andere Classen nicht zu erwähnen — viele normale und abnorme Lebensvorgänge einen den Mondperioden entsprechenden Verlauf einhalten, verständlich. Eine wiederkehrende Periode dürfte, wenn sie annäherungsweise die gehörige Dauer hatte, sobald sie einmal erlangt war, nicht leicht einer Veränderung unterliegen; sie könnte daher fast durch jede beliebige Anzahl von Generationen überliefert werden. Diese Schlnssfolgerung würde, wenn sie als richtig erfunden würde, höchst merkwürdig sein; denn wir würden dann sehen, dass die Trächtigkeitsdauer bei allen Säugethieren, die Brütezeit aller Vogeleier, und viele andere Lebensvorgänge noch immer die ursprüngliche Geburtsstätte dieser Thiere verrathen.

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Cap. C.                               Genealogie des Menschen.                                     187

verdankt seine Geburt einer langen Eeihe von Vorfahren. Hätte ein einziges Glied in dieser langen Kette niemals existirt, so würde der Mensch nicht genau das geworden sein, was er jetzt ist. Wenn wir nicht absichtlich unsere Augen schliessen, so können wir nach unsern jetzigen Kenntnissen annähernd unsere Abstammung erkennen und wir dürfen uns derselben nicht schämen. Der niedrigste Organismus ist etwas bei weitem Höheres als der unorganische Staub unter unsern Füssen, und Niemand mit einem vorurtheilsfreien Geiste kann irgend ein lebendes Wesen , wie niedrig es auch stehen mag, studiren, ohne enthusiastisch über seine merkwürdige Structur und seine Eigenschaften erstaunt zu werden.

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Siebentes Capitel.

Ueber die Rassen der Menschen.

Die Beschaffenheit und der Werth specifischer Merkmale. — Anwendung auf die Menschenrassen. — Argumente, welche der Betrachtung der sogenannten Menschenrassen als distincter Species günstig und entgegengesetzt sind. — Snbspecios. — Monogenisten und Polygenisten. — Convergenz des Cha-racters. — Zahlreiche Punkte der Uebereinstimmung an Körper und Geist zwischen den verschiedensten Menschenrassen. — Der Zustand des Menschen, als er sich zuerst über die Erde verbreitete. — Jede Rasse stammt nicht von einem einzelnen Paare ab. — Das Aussterben von Rassen. — Die Wirkung der Kreuzung. — Geringer Einfluss der directon Wirkung der Lebensbedingungen. — Geringer oder kein Einfluss der natürlichen Zuchtwahl. — Geschlechtliche Zuchtwahl.

Es ist nicht meine Absicht, hier die verschiedenen sogenannten "Rassen des Menschen zu beschreiben, sondern nur zu untersuchen, was der Werth der Unterschiede zwischen ihnen von einem classificatorischon Gesichtspunkte aus ist und wie dieselben entstanden sind. Bei der Bestimmung des Umstands, ob zwei oder mehrere mit einander verwandte Formen als Species oder als Varietäten zu classificiren sind, werden die Naturforscher practisch durch die folgenden Betrachtungen geleitet: einmal nämlich durch den Betrag an Verschiedenheit zwischen ihnen, dann ob derartige Verschiedenheiten sich auf wenige oder viele Punkte ihres Baues beziehen und ob dieselben von physiologischer Bedeutung sind; aber noch specieller durch den Umstand, ob diese Verschiedenheiten constant sind. Constanz des Characters ist das, was für besonders werth voll gehalten und wonach von den Naturforschern gesucht wird. Sobald gezeigt oder wahrscheinlich gemacht werden kann, dass die in Frage stehenden Formen eine lauge Zeit hindurch verschieden geblieben sind, so wird dies ein Argument von bedeutendem Gewichte zu Gunsten ihrer Behandlung als Species.' Selbst ein unbedeutender Grad von Unfruchtbarkeit zwischen irgend zwei Formen bei ihrer ersten Kreuzung oder bei ihren Nachkommen wird allgemein als eine entscheidende Probe ihrer speeifischen Verschiedenheit angesehen, auch wird ihr beständiges Getrenntbleiben

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Cap. 7.                                  Rassen des Menschen                                       189

innerhalb eines und desselben Bezirks ohne Verschmelzung gewöhnlich als hinreichender Beweis angesehen entweder für einen gewissen Grad gegenseitiger Unfruchtbarkeit oder, was die Thiere betrifft, eines gewissen Widerwillens gegen wechselseitige Paarung.

Unabhängig von einer Verschmelzung infolge einer Kreuzung ist der vollständige Mangel von Varietäten, welche irgend zwei nahe verwandte Formen in einer sonst gut untersuchten Gegend mit einander verbinden, wahrscheinlich das bedeutungsvollste von allen Kennzeichen für ihre specifische Verschiedenheit. Und hier liegt ein von der Be- . rücksiebtigung der blossen Constanz des Characters etwas verschiedener Gedanke zu Grunde; denn zwei Formen können äusserst variabel sein und doch keine Zwischenvarietäten erzeugen. Geographische Verbreitung wird oft unbewusst und zuweilen bewusst als Zeugniss mit herangezogen, so dass Formen, welche in zwei weit von einander getrennten Bezirken leben, innerhalb deren die meisten andern Bewohner speciflsch verschieden sind, gewöhnlich auch selbst als verschieden betrachtet werden; doch bietet dieser Umstand in Wahrheit keine Hülfe zur Unterscheidung geographischer Rassen von sogenannten guten oder echten Species dar.

Wir wollen nun diese allgemein angenommenen Grundsätze auf die Rassen des Menschen anwenden und ihn in demselben Sinne betrachten, in welchem ein Naturforscher irgend ein anderes Thier ansehen würde. Was den Betrag an Verschiedenheit zwischen den Rassen betrifft, so müssen wir unserem feinen Unterscheidungsvermögen etwas zu gute rechnen, welches wir durch die lange Uebung der Selbstbeobachtung gewonnen haben. Obschon, wie Elphinstone bemerkt', ein neu in Indien angekommener Europäer zuerst die verschiedenen eingeborenen Rassen nicht unterscheiden kann, so erscheinen sie ihm doch bald äusserst unähnlich; und ebenso kann der Hindu zuerst keine Verschiedenheit zwischen den verschiedenen europäischen Eingeborenen wahrnehmen. Selbst die verschiedensten Menschenrassen, mit Ausnahme gewisser Negerstämme, sind einander der Form nach viel ähnlicher als zuerst angenommen werden würde. Dies zeigt sich deutlich in den französischen Photographien in der Collection anthropologique du Museum von Menschen, die verschiedenen Rassen angehören, von welchen die grössere Zahl, wie viele Leute, denen ich sie gezeigt habe, bemerkt

1 History of India. 1841. Vol. I, p. 323. Der Pater Ripa macht genau dieselbe Bemerkung in Bezug auf die Chinesen.

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Rassen des Menschen.

I. Theil.

haben, für Europäer gelten kann. Nichtsdestoweniger würden diese Menschen, wenn man sie lebendig sähe, unzweifelhaft sehr verschieden erscheinen, so dass wir ganz entschieden in unserem Urtheile durch die blosse Farbe, der Haut und des Haars, durch unbedeutende Verschiedenheiten in den Gesichtszügen und durch den Ausdruck sehr be-einflusst werden.

Es ist indessen zweifellos, dass die verschiedenen Rassen, wenn sie sorgfältig verglichen und gemessen werden, bedeutend von einander abweichen, — so in der Textur des Haars, den relativen Proportionen aller Theile des Körpers2, der Capacität der Lungen, der Form und dem Rauminhalte des Schädels und selbst in den Windungen des Gehirns3. Es würde aber eine endlose Aufgabe sein, die zahlreichen Punkte der Verschiedenheiten des Baues einzeln durchzugehen. Die Rassen weichen auch in der Constitution, in der Acclimatisationsfähig-keit und in dem Verhalten gegen verschiedene Krankheiten von einander ab; auch sind ihre geistigen Merkmale sehr verschieden, hauptsächlich allerdings, wie es scheinen dürfte, in der Form ihrer Gemüths-erregungen, zum Theil aber auch in ihren intellectuellen Fähigkeiten. Ein Jeder, welcher die Gelegenheit zur Vergleichung gehabt hat, muss von dem Contraste überrascht gewesen sein zwischen dem schweigsamen, selbst morosen Eingeborenen von Südamerika und dem leichtherzigen schwatzhaften Neger. Ein ziemlich ähnlicher Contrast besteht zwischen den Malaycn und Papuas 4, welche unter denselben physikalischen Bedingungen leben und nur durch einen sehr dünnen Meeresstrich von einander getrennt sind.

Wir wollen zuerst die Gründe betrachten, die man zu Gunsten einer Classification von Menschenrassen als besonderer Arten vorbringen kann, und dann die, welche für die gegentheilige Ansicht sprechen. Wenn ein Naturforscher, welcher noch niemals zuvor solche Wesen gesehen hätte, einen Neger, Hottentotten, Australier oder Mongolen mit einander zu

'l Eine ungeheure Zahl von Maassangaben von AVeissen, Schwarzen und Indianern sind mitgetheilt in den Investigations in the Military aud Anthropolog. Statistics of American Soldiers, by B. A. Gould. 18G9. p. 298—358, über die Capacität der Lungen, ebend. p. 471, s. auch die zahlreichen und werthvollen Tabellen von Dr. Weisbach nach den Beobachtungen des Dr. Scherzer und Dr. Schwarz in der Reise der Novara. Anthropolog. Theil. 1867.

3  s. z. B. Marshall's Bericht über das Gehirn eines Buschmann-Weibes in Philos. Transact. p. 519.

4  Wallace, The Malay Archipelago. Vol. II. 18C9. p. 178.

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Cap. 7.                      Beschaffenheit specifischer Merkmale.                           191

vergleichen" hätte, so würde er sofort bemerken, dass sie in einer Menge von Charactereu von einander abweichen, von denen einige unbedeutend, einige aber von ziemlicher Bedeutung sind. Bei näherer Erörterung würde er finden, dass diese Formen einem Leben unter sehr verschiedenen Climaten angepasst sind und dass sie auch in ihrer körperlichen Constitution und ihren geistigen Anlagen etwas von einander verschieden sind. Wenn man ihm dann sagt, dass Hunderte ganz ähnlicher Exemplare aus denselben' Ländern herbeigöbracht werden könnten, so würde er zuversichtlich erklären, dass sie so gute Species seien wie viele andere, welche er mit speeifisehen Namen zu versehen gewohnt wäre. Diese Folgerung würde noch an Stärke gewinnen, sobald er sich vergewissert hätte, dass diese Formen dieselben Merkmale schon für viele Jahrhunderte beibehalten haben und dass Neger, die allem Anscheine nach mit den jetzt lebenden identisch waren, mindestens schon vor viertausend Jahren gelebt haben 5. Er würde ferner von einem ausgezeichneten Beobachter, Dr. Lünd 6, hören, dass die in den Höhlen von Brasilien gefundenen Menschenschädel, welche mit vielen ausgestorbenen Sängethieren dort begraben sind, zu demselben Typus gehören, welcher jetzt noch über den ganzen amerikanischen Continent vorherrscht.

5  In Bezug auf die Abbildungen in den berühmten Aegyptischen Höhlen von Abu-Simbel bemerkt Ponchet (The Plurality of the Human Races. Trausl. 1864. p. 50), dass er die Repräsentanten der zwölf oder noch mehr Nationen, welche einige Autoren darin wiedererkennen zu können meinen, auch nicht entfernt wiedererkennbar finden könne. Selbst einige der am schärfsten markirten Rassen können nicht mit jenem Grade der Einstimmigkeit identificirt werden, welcher nach dem, was über diesen Gegenstand geschrieben worden ist, zu erwarten gewesen wäre. So führen Msrs. Nott and Gliddon (Types of Mankind, p. 148) an, dass Raineses II. oder der Grosse stolze europäische Gesichtszüge habe, während Knox, ein anderer überzeugter Anhänger der Meinung von der speeifischen Verschiedenheit der Menschenrassen (Races of Man, 1850, p. 201) bei der Schilderung des jungen Memnon (wie mir Mr. Birch sagt, ein und dieselbe Person mit Rameses IL) in der entschiedensten Weise behauptet, dass er in seinen Cha-racteren mit den Juden in Antwerpen identisch sei. Als ich ferner im British Museum mit zwei competenten Richtern, Beamten der Anstalt, die Statue des Amunoph III. betrachtete^ stimmten wir darin überein, dass seine Gesichtszüge eine stark ausgesprochene Negerform haben. Die Herren Nott und Gliddon dagegen (a. a. 0. p. 140, Fig, 53) beschreiben ihn als „einen Bastard, aber ohne Beimischung von Negerblut."

6  Citirt von Nott und Gliddon, Types of Mankind. 1854, p. 439. Sie führen auch noch weitere bestätigende Belege an; doch meint C. Vogt, dass der Gegenstand noch weiterer Untersuchung bedürfe.

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192

Rassen des Menschen.

I. Theil.

Unser Naturforscher würde sich dann vielleicht zur geographischen Verbreitung wenden und würde wahrscheinlich erklären, dass Formen, welche nicht bloss dem äussern Anscheine nach voji einander abweichen, sondern-welche einerseits für die heissesten, andererseits für die feuchtesten oder auch trockensten Länder ebensogut wie für aretische Gegenden angepasst sind, distiuete Species sein müssen. Er dürfte sich wohl auf die Thatsache berufen, dass keine einzige Species in der dem Menschen zunächst stehenden Thiergruppe, nämlich den Quadrumanen. einer niederen Temperatur oder einem einigermaasseu beträchtlichen Wechsel des Clima's wiederstehen kann und dass diejenigen Species, welche dem Menschen am nächsten kommen, niemals selbst unter dem temperirten Clima von Europa bis zur Keife aufgezogen worden sind. Die zuerst von Agassiz 7 erwähnte Thatsache würde einen tiefen Eindruck auf ihn machen, dass nämlich die verschiedenen Rassen auf der Erde innerhalb derselben zoologischen Provinzen vertheilt sind, wie diejenigen sind, welche von unzweifelhaft verschiedenen Arten und Gattungen von Säugethieren bewohnt sind. Dies ist ganz offenbar der Fall mit den Australiern, den mongolischen uud Neger-Rassen des Menschen, in einer weniger scharf ausgesprochenen Weise mit den Hottentotten, aber wieder deutlich mit den Papuas und Malayen, welche, wie Mr. Wallace gezeigt hat, ziemlich durch dieselbe Linie von einander geschieden werden, welche die beiden grossen zoologischen Provinzen von einander trennt, die Malayische und Australische. Die Ureinwohner von Amerika haben ihren Verbreitungsbezirk über diesen ganzen Continent und dies scheint zuerst der eben angegebenen Eegel entgegen zu sein, denn die meisten Naturerzengnisse der südlichen und nördlichen Hälfte sind sehr verschieden. Doch verbreiten sich einige wenige Lebensformen, wie das Opossum, von der einen Hälfte in die andere, wie es früher auch mit einigen der gigantischen Edentaten der Fall war. Die Eskimos erstrecken sich, wie andere aretische Thiere, rund um die ganze Polargegend herum. Man muss auch beachten, dass die Säugethier-formen, welche die verschiedenen zoologischen Provinzen bewohnen, nicht in gleichem Grade von einander verschieden sind, so dass man es auch kaum als eine Anomalie betrachten kann, dass der Neger mehr und der Amerikaner weniger von den andern Menschenrassen abweicht als es die Säugethiere derselben Continente von denen anderer Provinzen

' Diversity of Origin of the Human Races, in dem: Christian Examiner, July, 1850.

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Cap. 7.

Werth specifiscker Merkmale.

193

thun. Es kann auch noch hinzugefügt werden, dass allem Anscheine nach der Mensch ursprünglich keine oceanische Insel bewohnt hat; und in dieser Beziehung gleicht er den andern Mitgliedern seiner Classe.

Wenn man zu bestimmen sucht, ob die Varietäten einer und derselben Form von domesticirteu Thieren als speeifisch verschieden clas-sificirt werden sollen, d. h. ob einige von ihnen von verschiedenen wilden Species abgestammt sind, so würde jeder Zoolog viel Gewicht auf die Thatsache legen, wenn sie sich ermitteln Hesse, ob ihre äusseren Parasiten speeifisch verschieden sind. Es würde nur um so mehr Gewicht auf diese Thatsache gelegt werden, als sie eine ausnahmsweise sein würde; denn Mr. Denny hat mir mitgetheilt, dass die verschiedensten Arten von Hunden, Haushühnern und Tauben in England von denselben Species von Pediculinen oder Läusen heimgesucht werden. Nun hat Mr. A. Murkay sorgfältig die in verschiedenen Ländern von den verschiedenen Menschenrassen abgesuchten Pediculinen untersucht8; und er findet, dass sie nicht bloss in der Farbe, sondern auch in der Structur ihrer Kiefern und Gliedmaassen von einander abweichen. In jedem Falle, wo zahlreiche Exemplare erlangt wurden, waren die Verschiedenheiten constant. Der Arzt eines Walfischfängers im Stillen Ocean hat mich versichert, dass wenn die Läuse, welche einige Sand-wichsinsulaner an Bord dieses Schiffes zahlreich bedeckten, sich auf die Körper der englischen Matrosen verirrten, sie im Verlauf von drei oder vier Tagen starben. Diese Pediculinen waren dunkler gefärbt und schienen von denen verschieden zu sein, welche den Eingeborenen von Chiloe in Südamerika eigenthümlich waren und von welchen man mir einige Exemplare gab. Diese wiederum scheinen viel grösser und weicher zu sein als europäische Läuse. Mr. Mukbay verschaffte sich vier Arten aus Afrika, nämlich von den Negern der Ost- und Westküste, von den Hottentotten und von den Kaffern, zwei Arten von den Eingeborenen von Australien, zwei von Nordamerika und zwei von Südamerika. In diesen letzten Fällen darf vermuthet werden, dass die Läuse von Eingeborenen kamen, welche verschiedene Districte bewohnten. Bei Insccten werden unbedeutende Verschiedenheiten des Baues, wenn sie nur constant sind, allgemein als von speeifischem Werthe angesehen, und die Thatsache, dass die Menschenrassen von Parasiten heimgesucht werden, welche speeifisch verschieden zu sein scheinen,

8 Transact. Roy. Soc. Edinburgh. Vol. XXII. 18G1. p. 0G7.

DARWIN, Abstammung. I. Zweite Auflage.                                                             13

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194                                     Rassen des Menschen.                                 I. Theil.

kann ganz ruhig als ein Argument betont werden, dass die Kassen selbst als distincte Species classificirt werden sollten.

Wäre unser angenommener Zoolog in seiner Untersuchung bis hieher vorgeschritten, so würde er zunächst untersuchen, ob die Menschenrassen, wenn sie sich kreuzen, in irgend einem Grade steril seien. Er dürfte das Werk eines vorsichtigen und philosophischen Beobachters, Professor Beoca 9, zu Rathe ziehen, und darin würde er gute Belege dafür finden, dass einige Rassen völlig fruchtbar unter einander sind, aber auch Belege einer entgegengesetzten Natur i in Bezug auf andere Rassen. So ist behauptet worden, dass die eingeborenen Frauen von Australien und Tasmanien selten mit europäischen Männern Kinder hervorbrächten; indessen sind die Zeugnisse gerade über diesen Punkt jetzt als fast werthlos erwiesen worden. Die Mischlinge werden von den reinen Schwarzen getödtet, und es ist kürzlich ein Bericht veröffentlicht worden über einen Fall, wo elf junge Leute einer Mischlingsrasse zu gleicher Zeit ermordet und verbrannt wurde^, deren Ueber-bleibsel dann von der Polizei gefunden wurden 10. Ferner ist oft gesagt worden, dass, wenn Mulatten unter einander heirathen, sie wenig Kinder erzeugen. Auf der andern Seite behauptet Dr. Bachman von Charlestown 'l positiv, dass er Mulattenfamilien gekannt habe, welche mehrere Generationen hindurch unter einander geheirathet hatten und im Mittel genau so fruchtbar waren als sowohl rein Weisse als rein Schwarze. Neuerdings von Sir C. Lyell angestellte Untersuchungen über diesen Gegenstand haben ihn, wie er mir mittheilt, zu derselben Schlussfolgerung geführt. Die Volkszählung für das Jahr 1854 in den Vereinigten Staaten umfasste Dr. Bachman zufolge 405751 Mulatten, und diese Zahl scheint unter Berücksichtigung aller bei dem Falle in Frage kommenden Umstände gering zu sein, sie dürfte aber zum Theil durch die herabgekommene und anomale Stellung der Classe und durch

' On the Phenomena of Hybridity in the genus Homo. Engl, transl. 18G4.

10 s. den interessanten Brief von T. A. Murray in der Anthropolog. Review. Apr. 1868, p. LIII. In diesem Briefe wird die Angabe des Grafen Strze-lecki widerlegt, dass Australische Frauen, welche mit einem weissen Manne Kinder gehabt haben, später mit ihrer eigenen Rasse unfruchtbar wären. A. de Quatrefages hat gleichfalls zahlreiche Belege dafür gesammelt (Revue des Cours scientifiques. Mars, 1869, p. 239), dass Australier und Europäer bei einer Kreuzung nicht unfruchtbar sind.

" An Examination of Prof. Agassiz's Sketch of the Natur. Provinces of the Animal World. Charleston, 1855, p. 44.

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Cap. 7.                         Werth der specifischen Merkmale.                             195

das ausschweifende Leben der Frauen zu erklären sein. In einem gewissen Grade muss eine Absorption von Mulatten rückwärts in die Neger immer im Fortschreiten begriffen sein, und dies würde zu einer offenbaren Verringerung der Zahl der Ersteren führen. Die geringere Lebensfähigkeit der Mulatten wird in einem zuverlässigen Werke 12 als eine wohlbekannte Erscheinung besprochen; doch wäre dies eine von der verringerten Fruchtbarkeit etwas verschiedene Thatsache und könnte kaum als ein Beweis für die specifisclie Verschiedenheit der beiden elterlichen Rassen vorgebracht werden. Ohne Zweifel sind sowohl thierische als pflanzliche Bastarde, wenn sie von äusserst verschiedenen Species hervorgebracht sind, einem frühzeitigen Tode ausgesetzt; aber die Eltern der Mulatten können nicht in die Kategorie äusserst verschiedener Species gebracht werden. Das gewöhnliche Maulthier, dessen langes Leben und Lebenskraft und doch so grosse Unfruchtbarkeit notorisch sind, zeigt, wie wenig nothwendig bei Bastarden eine Verbindung zwischen verringerter Fruchtbarkeit und Lebensfähigkeit besteht, und andere analoge Fälle könnten noch angeführt werden.

Selbst wenn später noch bewiesen werden sollte, dass alle Menschenrassen vollkommen fruchtbar unter einander wären, so dürfte doch derjenige, welcher aus anderen Gründen geneigt wäre, sie für distiucte Species zu halten, mit vollem Rechte schliessen, dass Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit keine sicheren Kriterien specifischer Verschiedenheit darbieten. Wir wissen, dass diese Eigenschaften durch veränderte Lebensbedingungen oder durch nahe Inzucht leicht afficirt und dass sie von sehr complicirten Gesetzen beherrscht werden, z. B. dem der ungleichen Fruchtbarkeit Avechselseitiger Kreuzungen zwischen denselben zwei Species. Bei Formen, welche als unzweifelhafte Species classificirt werden müssen, besteht eine vollkommene Reihenfolge von denen an, welche bei einer Kreuzimg absolut steril sind, bis zu denen, welche fast ganz oder vollkommen fruchtbar sind. Die Grade der Unfruchtbarkeit fallen nicht scharf mit den Graden der Verschiedenheit im äusseren Bau oder in der Lebensweise zusammen. Der Mensch kann in vielen Beziehungen mit denjenigen Thiereu verglichen werden, welche schon seit langer Zeit domesticirt worden sind, und eine grosse Menge von Belegen kann zu Gunsten der Pallas'schen Theorie13 vorgebracht werden, dass die

12  Military and Anthropolog. Statistics of American Soldiers by B. A. Gould 1869, p. 319.

13  Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication.

13*

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196

Rassen des Menschen.

I. Theil.

Domcsticatiou die Unfruchtbarkeit, welche ein so allgemeines Resultat der Kreuzung von Species im Naturzustände ist, zu eliminiren strebt. Nach diesen verschiedenen Betrachtungen kann man mit Recht betonen, dass die vollkommene Fruchtbarkeit der mit einander gekreuzten Rassen des Menschen, wenn sie festgestellt wäre, uns nicht absolut daran hindern könnte, sie als distincte Species aufzuführen.

Unabhängig von der Fruchtbarkeit hat man zuweilen geglaubt, dass die Charactere der Nachkommen aus einer Kreuzung Beweise dafür darböten, ob die elterlichen Formen als Species oder als Varietäten einzuordnen seien; aber nach einer sorgfältigen Erwägung der Belege

Bd. 2. S: 145. Ich möchte hier den Leser daran erinnern, dass die Unfruchtbarkeit der Arten bei ihrer Kreuzung keine spcciell erlangte Eigenschaft, sondern wie die Unfähigkeit gewisser Bäume auf einander gepropft zu werden, Folge anderer erlangter Verschiedenheiten ist. Die Natur dieser Verschiedenheiten ist unbekannt; sie stehen aber in einer speciellcren Weise mit dem Reproductions-system und viel weniger mit der äusseren Structur oder mit den gewöhnlichen Verschiedenheiten der Constitution in Beziehung. Ein für die Unfruchtbarkeit gekreuzter Species bedeutungsvolles Element liegt allem Anscheine nach darin, dass die eine oder beide seit langer Zeit an fest stehende Lebensbedingungen gewöhnt waren; denn wir wissen, dass veränderte Lebensbedingungen einen spe-ciellen Einfluss auf das Reproductioiissystem äussern; auch haben wir, wie vorhin bemerkt, zu der Annahme guten Grund, dass die fluctuirenden Zustände der Domestication jene Unfruchtbarkeit zu eliminiren strebt, welche bei Species im Naturzustande ihrer Kreuzung so allgemein folgt. Es ist an andern Orten von mir gezeigt worden (Variiren der Thiere und Pflanzen u. s. w. Bd. 2, S. 248 und Enstehung der Arten. 4. Aufl. S. 288), dass die Unfruchtbarkeit gekreuzter Arten nicht durch natürliche Zuchtwahl erlangt worden ist. Man sieht ja ein, dass es, wenn zwei Formen bereits sehr unfruchtbar geworden sind, kaum möglich ist, dass ihre Unfruchtbarkeit durch die Erhaltung oder das Ueberleben der immer mehr und mehr unfruchtbaren Individuen vermehrt werden könnte; denn in dem Maasse als die Unfruchtbarkeit zunimmt, werden immer weniger und weniger Nachkommen erzeugt werden, welche die Art fortpflanzen könnten, und endlich werden nur in grossen Zwischenräumen einzelne Individuen hervorgebracht werden. Es gibt aber selbst einen noch höheren Grad von Unfruchtbarkeit als diesen. Sowohl Gärtner als Kölreuter haben nachgewiesen, dass bei Pflanzengattungen, welche zahlreiche Species umfassen, sich eine Reihe bilden lässt von Arten, welche bei ihrer Kreuzung immer weniger und weniger Samen erzeugen, bis zu Arten, welche niemals auch nur einen einzigen Samen erzeugen, aber doch vom Pollen der andern Arten afficirt werden, da ihr Keim zu schwellen beginnt. Hier ist es offenbar unmöglich, die sterilen Individuen, welche bereits aufgehört haben, Samen zu pro-ducireu, zur Nachzucht zu wählen, so dass also der Gipfel der Unfruchtbarkeit, wo mir der Keim afficirt wird, nicht durch Zuchtwahl erreicht werden kann. Dieser höchste Grad und zweifelsohne auch die andern Grade der Unfruchtbarkeit sind Resultate, welche mit gewissen unbekannten Verschiedenheiten in der Constitution des Reproductionssystems der gekreuzten Arten zusammenhängen.

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Cap. 7.                         Werth der specifischeu Merkmale.                             197

bin ich zu der Folgerung gekommen, dass keiner allgemeinen Eegel dieser Art getraut werden kann. So gleichen 'beim menschlichen Geschlechte die Nachkommen verschiedener Kassen in allen Beziehungen den Nachkommen echter Species und Varietäten. Dies zeigt sich z. B. in der Art und Weise, in welcher die Charactere beider Eltern mit einander verschmolzen werden, und darin, wie die eine Form durch wiederholte Kreuzung die andere absorbirt. In diesem letzteren Falle behalten die Nachkommen sowohl gekreuzter Species als gekreuzter Varietäten für eine lange Zeit noch eine Neigung, auf ihre Voreltern zurückzuschlagen und besonders auf denjenigen ihrer früheren Urerzeuger, welcher bei der Vererbung ein Uebergewicht besass. Wenn irgend ein Character bei einer Rasse oder einer Species als das Resultat eines einzigen Actes der Abänderung plötzlich erschienen ist, wie es allgemein bei Monstrositäten14 der Fall ist, und wenn dann- diese Rasse mit einer andern'nicht in derselben Weise eharacterisirten gekreuzt wird, so erscheinen die in Frage stehenden Merkmale gewöhnlich nicht bei den Jungen in einem verschmolzenen Zustande, sondern werden denselben entweder in vollkommener Entwicklung oder gar nicht überliefert. Da bei den gekreuzten Menschenrassen Fälle dieser Art selten oder niemals vorkommen, so kann dieser Umstand als ein Argument gegen die von einigen Ethnologen vorgebrachte Ansicht benutzt werden, dass nämlich gewisse Charactere, wie z. B. die Schwärze des Negers, zuerst als eine plötzliche Abänderung oder' ein Naturspiel erschienen wären. Wäre dies aber eingetreten, so würden wahrscheinlich Mulatten oft entweder vollständig schwarz oder vollständig weiss geboren worden sein. Wir haben nun gesehen, dass ein Naturforscher sich für völlig berechtigt halten könnte, die Menschenrassen als distinetc Species einzuordnen; denn er hat gefunden, dass sie durch viele Verschiedenheiten im Bau und in der Constitution, von denen einige von grosser Bedeutung sind, von einander unterschieden werden. Auch sind diese Verschiedenheiten für sehr lange Zeit constant geblieben. Er wird auch in einem gewissen Grade von dem enormen Verbreitnngsverhältnisse des Menschen beeinflusst worden sein, welches in der Classe der Säugethierc eine grosse Anomalie sein würde, w:enn das menschliche Geschlecht als eine einzige Species angesehen werden sollte. Er wird von der Vertheilung der verschiedenen sogenannten Rassen überrascht gewesen sein, wenn

14 Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 2, S. 122.

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198

Rassen des Menschen.

I. Theil.

er sie in Uebereinstimmung zu bringen suchte mit der anderer, zweifellos distincter Species von Säugethieren. Endlich' dürfte er betonen, dass die wechselseitige Fruchtbarkeit aller Rassen noch nicht vollständig bewiesen ist, und selbst wenn sie bewiesen wäre, würde sie keinen absoluten Beweis ihrer speeifischen Identität darbieten.

Wenn sich nun unser angenommener Naturforscher nach Gründen für die andere Seite der Frage umsieht und untersucht, ob die Formen des Menschen sich wie gewöhnliche Species verschieden halten, wenn sie in einem und demselben Lande in grossen Zahlen unter einander gemischt leben, so würde er sofort sehen, dass dies durchaus nicht der Fall ist. In Brasilien würde er eine ungeheure Bastardbevölkerung von Negern und Portugiesen bemerken; in Chiloe und anderen Theilen von Südamerika würde er sehen, dass die ganze Bevölkerung aus Indianern und Spaniern besteht, welche in verschiedenen Graden in einander übergegangen sind'5. In vielen Theilen desselben Continents würde er die complicirtesten Kreuzungen zwischen Negern, Indianern und Europäern antreffen, und derartige dreifache Kreuzungen bieten die schärfste Probe für wechselseitige Fruchtbarkeit der elterlichen Formen dar, wenigstens nach den Erfahrungen aus dem Pflanzenreiche zu schlies-sen. Auf einer Insel des Stillen Oceans würde er eine kleine Bevölkerung von mit einander vermischtem polynesischen und englischen Blute finden; und auf allen Inseln des Viti-Archipels eine Bevölkerung von Polynesiern und Negritos, welche sich in allen Graden gekreuzt haben. Viele analoge Fälle könnten noch z. B. aus Südafrika angeführt werden. Es sind daher die Menschenrassen nicht hinreichend distinet, um ohne Verschmelzung zusammen zu bestehen, und das ist es, was in allen gewöhnlichen Fällen die herkömmliche Probe für die speeifische Verschiedenheit abgibt.

Unser Naturforscher würde gleichfalls sehr beunruhigt werden, sobald er bemerkte, dass die Unterscheidungsmerkmale aller Rassen des Menschen in hohem Grade variabel sind. Dies fällt sofort Jedem auf, wenn er zuerst die Negersclaven in Brasilien sieht, welche aus allen Theilen von Afrika eingeführt worden sind. Dieselbe Bemerkung gilt

15 A. de Quatrefages hat in der Anthropolog. Review, Jan. 8, 1869, p. 22 einen interessanten Bericht über den Erfolg und die Energie der Paulistas in Brasilien gegeben, welche eine stark gekreuzte Rasse von Portugiesen und Indianern mit einer Zumischung von Blut anderer Rassen darstellen.

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Cap. 7.

Wertli der spccifiscb.cn Merkmale.

199

auch für die Polynesier und für viele andere Kassen. Es kann bezweifelt werden, ob irgend ein Character angeführt werden kann, welcher für eine Rasse distinetiv und constant ist. Wilde sind selbst innerhalb der Grenzen eines und desselben Stammes auch nicht entfernt so gleichförmig im Character, wie oft gesagt worden ist. Die Hottentottenfrauen bieten gewisse Eigentümlichkeiten dar, welche schärfer markirt sind als diejenigen, welche bei irgend einer andern Easse auftreten ; aber man weiss, dass sie nicht von constantem Vorkommen sind. Bei den verschiedenen amerikanischen Stämmen weichen die Farbe und das Behaartsein beträchtlich ab; dasselbe gilt bis zu einem gewissen, und in Bezug auf die Form der Gesichtszüge bis zu einem bedeutenden Grade für die Neger in Afrika. Die Form des Schädels variirt in manchen Eassen bedeutend 16; und so ist es mit jedem anderen Character. Nun haben alle Naturforscher durch theuer erkaufte Erfahrungen gelernt, wie vorschnell der Versuch ist, Species mit Hülfe inconstanter Charac-tere zu definiren.

Aber das gewichtigste aller Argumente gegen die Betrachtung der Eassen des Menschen als distineter Species ist, dass sie gradweise in einander übergehen und, so weit wir es benrtheilen können, in vielen Fällen ganz unabhängig davon, ob sie sich mit einander gekreuzt haben. Der Mensch ist sorgfältiger als irgend ein anderes Wesen studirt worden und doch besteht die grösstmögliche Verschiedenheit des Urtheils zwischen fähigen Richtern darüber, ob er als eine einzige Species oder Easse classificirt werden solle oder als zwei (Vikey), als drei (Jacquinot), als vier (Kant), fünf (Blumenbach), sechs (Buffon), sieben (Hunter), acht (Agassiz), elf (Pickering), fünfzehn (Bory St. Vincent), sechszehn (Des-moulins), zweiundzwanzig (Morton), secliszig (Crawfurd) oder als drei-undsechszig nach Burke 17. Diese Verschiedenartigkeit der Beurtheilung beweist nicht, dass die Rassen nicht als Species zu classificiren wären, es zeigt aber dieselbe, dass sie allmählich in einander übergehen und

19 z.B. bei den Eingeborenen von Amerika und Australien. Prof. Huxley sagt (Transact, Internation. Congress of Prehistor. Archaeol. 1868, p. 105), dass „die Schädel vieler Süddeutscher und Schweizer so kurz und breit sind, wie die „der Tartaren" u. s. w.

" s. eine gute Erörterung dieses Gegenstandes bei Waitz, Introduct. to Anthropology. Engl, transl. 1863, p. 198—208. 227. Mehrere der obigen Angaben habe ich aus H. Tuttle's Origin and Antiquity of Physical Man, Boston, 1860, p. 35 entnommen.

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200

Rassen des Menschen.

I. Theil.

dass es kaum möglich ist, scharfe Unterscheidungsmerkmale zwischen ihnen aufzufinden.

Jedem Naturforscher, welcher das Unglück gehabt hat, sich an die Beschreibung einer Gruppe äusserst veränderlicher Organismen zu machen, sind Fälle vorgekommen, — und ich spreche aus Erfahrung — welche dem des Menschen völlig gleichen; und ist er zur Vorsicht dis-ponirt, so wird er damit enden, dass er alle die Formen, welche allmählich in einander übergehen, zu einer einzigen Species vereinigt. Denn er wird sich selbst sagen, dass er kein Kecht hat, Objecte mit Namen zu belegen, welche er nicht definiren kann. Fälle dieser Art kommen auch in der Ordnung, welche den Menschen mit einschliesst, vor, nämlich bei gewissen Gattungen von Affen, während in andern Gattungen, wie bei Cercopithecus, die meisten Species mit Sicherheit bestimmt werden können. In der amerikanischen Gattung Cebm werden die verschiedenen Formen von manchen Naturforschern als Species rangirt, von andern als blosse geographische Kassen. Wenn nun zahlreiche Exemplare von Cebus aus allen Theilen von Südamerika gesammelt würden und es stellte sich heraus, dass diejenigen Formen, welche jetzt speeifisch verschieden zu sein scheinen, durch kleine Abstufungen allmählich in einander übergehen, so würden sie von den meisten Naturforschern als blosse Varietäten oder Eassen aufgeführt werden; und in dieser Weise ist die grössere Zahl der Naturforscher in Bezug auf die Kassen des Menschen verfahren. Nichtsdestoweniger muss man bekennen, dass es wenigstens im Pflanzenreiche18 Formen gibt, welche man Species zu nennen nicht umhin kann, welche aber unabhängig von einer zwischen ihnen auftretenden Kreuzung durch zahllose Abstufungen verbunden werden.

Einige Naturforscher haben neuerdings den Ausdruck „Subspecies" angewendet, um Formen zu bezeichnen, welche viele der characteristi-schen Eigenschaften echter Species besitzen, welche aber kaum einen so hohen Rang verdienen. Wenn wir nun die gewichtigen Argumente, die oben für das Erheben der Menschenrassen zur Würde von Species mitgetheilt wurden, uns vergegenwärtigen und auf der andern Seite die unübersteiglichen Schwierigkeiten, sie zu definiren, so dürfte der Ausdruck

18 Prof. Nägeli hat mehrere auftauende Fälle in seinen Botanischen Mit-theihmgen Bd. 2. 1866, S. 294—369 beschrieben. Aehnliche Bemerkungen hat Prof. Asa Gray über einige intermediäre Formen der Compositeu Nord-Ameri-ka's gemacht.

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Cap. 7.

Sind die Mengchenrassen Species?

201

„Subspecies" hier sehr passend angewendet werden. Aber schon aus langer Gewohnheit wird vielleicht der Ausdruck „Kasse" stets vorgezogen werden. Die Wahl von Ausdrücken ist nur insofern von Bedeutung, als es äusserst wünschenswerth ist, soweit es nur überhaupt möglich ist, dieselben Ausdrücke für dieselben Grade von Verschiedenheit zu gebrauchen. Unglücklicherweise ist dies sehr selten möglich; denn innerhalb einer und derselben Familie umfassen die grösseren Gattungen allgemein näher verwandte Formen, welche nur mit grosser Schwierigkeit auseinandergehalten werden können, während die kleineren Gattungen Formen einschliessen, welche vollkommen distinct sind; und doch müssen alle gleichmässig als Species rangirt werden. Ferner sind auch die Species innerhalb einer und derselben grossen Gattung durchaus nicht in demselben Grade einander ähnlich; im Gegeutheil können in den meisten Fällen einige von ihnen -in kleinen Gruppen um andere Arten herum, wie Satelliten um Planeten, angeordnet werden 19.

Die Frage, ob das Menschengeschlecht aus einer oder aus mehreren Species besteht, ist in den letzten Jahren von den Anthropologen sehr lebhaft behandelt worden, welche sich in zwei Schulen trennen, die Monogenisten und die Polygenisten. Diejenigen, welche das Princip der Entwickelung nicht annehmen, müssen die Species entweder als einzelne Schöpfungen oder als in irgend einer Weise distincte Einheiten ansehen, und welche Formen sie als Species zu betrachten haben, müssen sie nach der Analogie anderer organischer Wesen entscheiden, welche gewöhnlich als solche hingestellt werden. Es ist aber ein hoffnungsloser Versuch, diesen Punkt nach triftigen Gründen entscheiden zu wollen, bis irgend eine Definition des Ausdruckes „Species" allgemein angenommen sein wird; und diese Definition darf kein Element einschliessen, welches sich möglicherweise nicht ermitteln lässt, wie eben ein solcher Schöpfimgsact. Wir können ebensogut ohne irgend eine Definition zu entscheiden versuchen, ob eine gewisse Anzahl von Häusern ein Dorf, ein Flecken oder eine Stadt genannt werden soll. Eine practische Illustration oder Schwierigkeit haben wir in den kein Ende nehmenden Zweifeln, ob viele nahe verwandte Säugethiere, Vögel, In-secten und Pflanzen, welche einander in Nordamerika und Europa ähneln, als Species oder als geographische Kassen aufgeführt werden sollen;

19 Entstehung der Arten. 4. Aufl. S. 71.

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202

Rassen des Menschen.

I. Thcil.

und dasselbe gilt für die Erzeugnisse vieler Inseln, welche in geringer Entfernung von dem nächsten Festlande gelegen sind.

Auf der. anderen Seite werden diejenigen Naturforscher, welche das Princip der Evolution annehmen, — und dies wird von der grösseren Zahl der aufstrebenden Männer jetzt angenommen, — keinen Zweifel haben, dass alle Menschenrassen von einem einzigen ursprünglichen Stamm herrühren, mögen sie es nun für passend oder nicht für passend halten, dieselben als distinete Species zu bezeichnen zum Zweck, damit den Betrag ihrer Verschiedenheit auszudrücken 20. Bei unsern dorne-sticirten Thieren steht die Frage, ob die verschiedenen Rassen von einer oder mehreren Species ausgegangen sind, verschieden. Obgleich alle solche Rassen ebenso wie alle natürlichen Species innerhalb einer und derselben Gattung unzweifelhaft einem und demselben primitiven Stamme entsprungen sind, so ist es doch ein völlig zulässiger Gegenstand der Discussion, ob alle die domesticirten Rassen des Hundes ihre jetzigen Verschiedenheiten erlangt haben, seitdem irgend eine Species zuerst vom Menschen domesticirt und gezüchtet wurde, oder ob sie einige ihrer Charactere einer Vererbung von distineten Species verdanken, welche bereits im Naturzustande modificirt worden waren. In Betreff des Menschen kann keine solche Frage entstehen, denn man kann nicht sagen, dass er zu irgend einer besonderen Periode domesticirt worden wäre.

Als die Rassen des Menschen in einer äusserst entfernt liegenden Zeit von ihrem gemeinsamen Urerzeuger divergirten, werden sie nur wenig von einander abgewichen und der Zahl nach nur wenig gewesen sein. In Folge dessen werden sie, soweit ihre unterscheidenden Merkmale in Betracht kommen, weniger Ansprüche gehabt haben, als distinete Species betrachtet zu werden als die jetzt existirenden sogenannten Rassen. Nichtsdestoweniger würden solche frühe Rassen vielleicht von einigen Naturforschern als distinete Species aufgeführt worden sein, — so willkürlich ist der Ausdruck, — wenn ihre Verschiedenheiten, obschon äusserst unbedeutend, constanter gewesen als jetzt und nicht allmählich in einander übergegangen wären.

Es ist indessen möglich, wenn auch entfernt nicht wahrscheinlich, dass die frühen Urerzeuger des Menschen anfangs bedeutend in ihren Characteren auseinander giengen, bis sie einander unähnlicher wurden,

20 s. Prof. Huxley, welcher sich in diesem Sinne ausdrückt in: Fortnightly Review. 1865, p. 275.

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Cap. 7.                              Convergenz des Characters.                                  203

als es die jetzt bestehenden Kassen irgendwie sind, und dass sie später, wie Vogt ,2 vermuthet, in ihren Characteren convergirten. Wenn der Mensch mit einem bestimmten Ziele vor Augen die Nachkommen zweier distinc-ter Species zur Nachzucht auswählt, so führt er zuweilen, soweit die allgemeine äussere Erscheinung in Betracht kommt, einen beträchtlichen Grad von Convergenz herbei. Dies ist, wie Nathusius 22 gezeigt hat, mit den veredelten Eassen der Schweine der Fall, welche von zwei distincten Species abgestammt sind, und in einem weniger scharf mar-kirten Grade auch mit den veredelten Eassen des Kindes. Ein bedeutender Anatom, Gratiolet, behauptet, dass die anthropomorphen Affen keine natürliche Untergruppe bilden, sondern dass der Orang ein hoch entwickelter Gibbon oder Semnopithecus, der Schimpanse ein hoch entwickelter Macacus und der Gorilla ein hoch entwickelter Mandrill ist. Wenn man diese Folgerung, welche fast ausschliesslich auf Characteren des Gehirns beruht, zugibt, so würde man einen Fall von Convergenz, mindestens in äusseren Merkmalen, vor sich haben. Denn die anthropomorphen Affen sind sicherlich in vielen Punkten sich untereinander ähnlicher als sie andern Affen sind. Alle analogen Aehnlichkeiten, wie die eines Walfisches mit einem Fisch, kann man in der That als Fälle von Convergenz bezeichnen. Es ist aber dieser Ausdruck niemals auf oberflächliche und adaptive Aehnlichkeiten angewendet worden. In den meisten Fällen würde es ausserordentlich voreilig sein, eine grosse Aehnlichkeit in vielen Punkten des Baues bei Wesen, welche einst weit von einander verschieden waren, einer Convergenz zuzuschreiben. Die Form eines Krystalls wird allein durch die Molecularkräfte bestimmt und es ist nicht überraschend, dass unähnliche Substanzen zuweilen ein und- dieselbe Form annehmen können; aber bei organischen Wesen sollten wir uns doch daran erinnern, dass die Form eines jeden von einer endlosen Menge complicirter Beziehungen abhängt, nämlich von den Abänderungen, welche aufgetreten sind und welche von Ursachen abhängen, die viel zu intricat sind, um einzeln verfolgt werden zu können; — ferner von der Natur der Abänderungen, welche erhalten worden sind, und dies hängt wieder von den umgebenden physikalischen Bedingungen und in einem noch höheren Grade von den umgebenden

21  Vorlesungen über den Menschen. Bd. 2, S. 285.

22  Die Rassen des Schweins. 1860, S. 46. Vorstudien für eine Geschichte etc. Schwoineschädel. 1864, S. 104. In Bezug auf das Rind s. A. de Quatrefages, Unite de l'Espece Humaine. 1861, p. 119-

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Organismen ab, mit welchen ein jeder in Concurrenz getreten ist; — und endlich von Vererbung, an sich schon ein schwankendes Element, wobei alle die zahllosen Voreltern wieder Formen besassen, welche durch ganz gleichmässig complicirte Beziehungen bestimmt worden waren. Es erscheint im äussersten Grade unglaublich, dass zwei Organismen, wenn sie in einer ausgesprochenen Weise von einander verschieden sind, jemals später so nahe convergiren sollten, dass sie durch ihre ganze Organisation hindurch sich einer Identität näherten. Was den oben angezogenen Fall der convergirenden Formen der Schweine betrifft, so haben sich Beweise ihrer Abstammung aus zwei ursprünglichen Stämmen noch immer deutlich erhalten, und zwar nach Nathusius an gewissen Knochen ihrer Schädel. Wären die Menschenrassen, wie es einige Naturforscher vermuthen, von zwei oder mehreren distineten Species abgestammt, welche von einander so weit oder nahezu so weit abgewichen wären, wie der Orang vom Gorilla abweicht, so Hesse sich kaum bezweifeln, dass ausgesprochene Verschiedenheiten in der Structur gewisser Knochen noch immer beim Menschen, wie er jetzt existirt, nachweisbar sein würden.

Obgleich die jetzt lebenden Menschenrassen in vielen Beziehungen, so in der Farbe, dem Haar, der Form des Schädels, den Proportionen des Körpers u. s. w., verschieden sind, so stellen sie sich doch, wenn man ihre ganze Organisation in Betracht zieht, als einander in einer Menge von Punkten äusserst ähnlich heraus. Viele dieser Punkte sind so bedeutungslos oder von einer so eigenthiimlichen Natur, dass es äusserst unwahrscheinlich ist, dass dieselbe!^ unabhängig von ursprünglich verschiedenen Species oder Kassen erlangt worden sein sollten. Dieselbe Bemerkung trifft mit gleicher oder noch grösserer Kraft zu in Bezug auf die zahlreichen Punkte geistiger Aehnlichkeit zwischen den verschiedensten Kassen des Menschen. Die amerikanischen Eingeborenen, die Neger und Europäer weichen von einander ihrem Geiste nach so weit ab, als irgend drei Kassen, die man nur nennen könnte. Und doch war ich, als ich mit den Feuerländern an Bord des Beagle zusammenlebte, unaufhörlich von den kleinen Characterzügen überrascht, welche zeigten, wie ähnlich ihre geistigen Eigenschaften den unsrigen waren; und dasselbe war der Fall in Bezug auf einen Vollblutneger, mit dem ich zufällig eine Zeit lang intim war.

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Cap. 7.                     Uebereinstimmung der Menschenrassen.                         205

Wer Mr. Tylor's und Sir J. Lubbock's interessante Werke ^3 aufmerksam liest, wird kaum umhin können, einen tiefen Eindruck von der grossen Aehnlichkeit zwischen den Menschen aller Rassen in ihren Ge-schmäckeu, Dispositionen und Gewohnheiten zu erhalten. Dies zeigt sich in dem Vergnügen, welches sie alle an Tanz, an roher Musik, Schauspielen, Malen, Tättowiren und sich auf andere Weise Decoriren finden, in ihrem gegenseitigen Verständniss einer Geberdensprache und, wie ich in einer späteren Abhandlung in der Lage sein werde zu zeigen, durch den Ausdruck in ihren Zügen und durch dieselben unarti-culirten Ausrufe, wenn sie durch verschiedene Gemüthsbewegungen erregt sind. Diese Aehnlichkeit oder vielmehr Identität ist auffallend, wenn man sie mit den verschiedenen Ausdrücken zusammenhält, welche bei verschiedenen Species von Affen zu beobachten sind. Es sind gute Beweise dafür vorhanden, dass die Kunst, mit Bogen und Pfeilen zu schiessen, nicht von einem gemeinsamen Urerzeuger des Menschengeschlechts überliefert worden ist; ' und doch sind die steinernen Pfeilspitzen, welche aus den entlegensten Theilen der Erde zusammengebracht sind und in den entferntesten Zeiten verfertigt wurden, wie Nilsson gezeigt hat24, fast identisch; und diese Thatsache kann mir dadurch erklärt werden, dass die verschiedenen ßassen ähnliche Fähigkeiten der Erfindung oder geistige Kräfte überhaupt gehabt haben. Dieselbe Bemerkung ist von Archäologen25 in Bezug auf gewisse weitverbreitete Ornamente, so z. B. Zickzacks u. s. w., gemacht worden, ebenso in Bezug auf verschiedene .einfache Zeichen des Glaubens und Gebräuche, wie das Begraben der Todten unter megalithischen Bauten. Ich erinnere mich, in Südamerika beobachtet zu haben 26, dass dort, wie in so vielen andern Theilen der Erde, der Menscli allgemein die Gipfel hoher Berge gewählt hat, um auf ihnen Massen von Steinen aufzuhäufen, entweder zum Zweck, irgend ein merkwürdiges Ereigniss zu bezeichnen, oder seine Todten zu begraben.

Wenn nun Naturforscher eine nahe Uebereinstimmung in zahlreichen kleinen Einzelnheiten der Gewohnheiten, der Geschmacksrichtungen

23 Tylor, Early History of Mankind. 1865; in Bezug auf Belege für eine Gestensprache, s. p. 54. Lubbock, Prehistoric Times. 2. edit. 1869.

'" The Primitive Inhabitants of Scantlinavia. Engl, transl. ed. by Sir J. Lubbock. 1868, p. 104.

"Hodder M. Westropp, On Cromlechs etc. in: Journal of Etlmolog. Soc, mitgetheilt in Scientific Opinion, 2. June, 1869, p. 3.

-" Journal of Researches: Voyage of the „Beagle", p. 16.

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Rassen des Menschen.

I. Theil.

und Dispositionen zwischen zwei oder mehreren domesticirteu Rassen oder zwei nahe verwandten natürlichen Formen beobachten, so benutzen sie diese Thatsachen als Argumente dafür, dass alle von einem gemeinsamen Urerzeuger abstammen, welcher in dieser Weise begabt war, und dass folglich alle unter eine und dieselbe Species eingeordnet werden sollten. Dasselbe Argument kann mit vieler Kraft auf die Rassen des Menschen angewandt werden.

Da es unwahrscheinlich ist, dass die zahlreichen und bedeutungslosen Punkte der Aehnlichkeit zwischen den verschiedenen Menschenrassen in dem Bau des Körpers und in geistigen Fähigkeiten (ich beziehe mich hier nicht auf ähnliehe Gebräuche) sämmtlich unabhängig von einander erlangt worden sind, so müssen sie von Voreltern vererbt worden sein, welche damit ausgezeichnet waren. Wir erhalten hierdurch etwas Einsicht in den frühen Znstand des Menschen, ehe er sich Schritt für Schritt über die Oberfläche der Erde verbreitete. Der Verbreitung des Menschen in durch das Meer weit von einander getrennte Gegenden gieng ohne Zweifel irgend ein beträchtlicher Grad der Divergenz des Characters in den verschiedenen Rassen voraus, denn im andern Falle würden wir zuweilen ein und dieselbe Rasse in verschiedenen Continen-ten antreffen, und dies ist niemals der Fall. Nachdem Sir, J. Lubbock die jetzt von den Wilden in allen Theilen der Erde ausgeübten Künste mit einander verglichen hat, führt er diejenigen einzeln auf, welche der Mensch nicht gekannt haben konnte, als er zuerst aus seinem ursprünglichen Geburtsorte auswanderte; denn wenn sie einmal gelernt waren, werden sie niemals wieder vergessen worden sein27. So zeigt er, dass der Speer, welcher nur eine Weiterentwickelung der Messerspitze ist, und die Keule, welche nur ein langer Hammer ist, die einzig übrigbleibenden Sachen sind. Er gibt indessen zu, dass die Kunst, Feuer zu machen, wahrscheinlich schon entdeckt worden war, denn sie ist allen jetzt lebenden Rassen gemeinsam und war den alten Höhlenbewohnern Europa's bekannt. Vielleicht war die Kunst, rohe Boote oder Flösse zu machen, gleichfalls bekannt. Da aber der Mensch zu einer sehr entfernten Zeit existirte, als das Land an vielen Stellen in einem sehr verschiedenen Niveau erhoben war, so kann er wohl auch im Stande gewesen sein, ohne die Hülfe von Booten sich weit zu verbreiten. Sir J. Lubbock _ bemerkt ferner, wie unwahrscheinlich es ist, dass unsere frühesten Vorfahren höher hätten zählen können, als bis zu zehn, wenn

21 Prehistocic Times. 18G9, p. 574.

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Cap. 7.            Zustand des Menschen bei der ersten Verbreitung.                207

man in Betracht zieht, dass so viele der jetzt lebenden Kassen nicht über vier hinauskommen. Nichtsdestoweniger konnten zu jener frühen Periode die intellectuellen und socialen Fähigkeiten des Menschen kaum in irgend einem extremen Grade geringer als diejenigen gewesen sein, welche die niedrigsten Wilden jetzt besitzen. Andernfalls hätte der Urmensch nicht so ausgezeichnet erfolgreich im Kampfe um's Dasein sein können, wie sich durch seine frühe und weite Verbreitung zeigt.

Aus der fundamentalen Verschiedenheit zwischen gewissen Sprachen haben manche Philologen den Schluss gezogen, dass der Mensch, als er sich zuerst weit verbreitete, noch kein sprechendes Thier gewesen sei. Indess lässt sich vermuthen, dass Sprachen, welche bei Weitem weniger vollkommen waren als irgend jetzt gesprochene, unterstützt von Gesten, benutzt worden sein können und doch in den späteren und höher entwickelten Sprachen keine Spuren zurückgelassen haben. Es scheint zweifelhaft, ob ohne den Gebrauch irgend einer Sprache, wie unvollkommen sie auch gewesen sein mag, der Intellect des Menschen sich bis zu der Höhe hätte entwickeln können, welche durch seine schon zu einer frühen Zeit vorherrschende Stellung bedingt war.

Ob der Urmensch in der Zeit, wo er sehr wenig Kunstfertigkeiten der rohesten Art besass und wo auch sein Vermögen zu sprechen äusserst unvollkommen war, schon verdient haben dürfte, Mensch genannt zu werden, hängt natürlich von der Definition ab, die wir anwenden. In einer Reihe von Formen, welche unmerkbar aus einem affenähnlichen Wesen in den Menschen ühergiengen, wie er jetzt existirt, würde es unmöglich sein, irgend einen solchen Punkt zu bezeichnen, wo der Ausdruck Mensch angewandt werden müsste. Doch ist dies ein Gegenstand von sehr geringer Bedeutung. Ferner ist es ein fast vollständig indifferenter Gegenstand, ob die sogenannten Menschenrassen mit diesem Ausdrucke bezeichnet oder als Species oder Subspecies rangirt werden. Doch scheint der letztere Ausdruck der angemessenste zu sein. Endlich dürfen wir wohl voraussetzen, dass in der Zeit, in welcher die Grundsätze der Evolutionstheorie angenommen sein werden, was sicher in sehr kurzer Zeit der Fall sein wird, der Streit zwischen den Monogenisten und Polvge-nisten still und unbeobachtet absterben wird.

Eine andere Frage darf nicht ohne eine Erwähnung gelassen werden, nämlich ob, wie man zuweilen annimmt, jede Subspecies oder Kasse des Menschen von einem einzigen Paare von Voreltern abgestammt ist.

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Rassen des Menschen.

I, Theill

Bei unsern domesticirten Thieren kann eine neue Rasse leicht von einem einzelnen Paare aus gebildet werden, welches einige neue Merkmale besitzt, ja selbst von einem einzigen in dieser Weise ausgezeichneten Individuum, und zwar dadurch, dass man die Nachkommen mit Sorgfalt zur Paarung auswählt. Aber die meisten unserer Kassen sind nicht absichtlich von einem ausgewählten Paare, sondern unbewusst durch die Erhaltung vieler Individuen, welche, wenn auch noch so unbedeutend, in einer nützlichen oder erwünschten Art und Weise variirt haben, gebildet worden. Wenn in einem Lande kräftigere und schwerere Pferde und in einem andern Lande leichtere und flüchtigere Pferde beständig vorgezogen würden, so könnten wir sicher sein, dass im Laufe der Zeit, ohne dass irgendwelche besondere Paare oder Individuen in jedem der Länder getrennt oder zur Nachzucht ausgelesen worden wären, zwei verschiedene Unterrassen gebildet werden würden. Viele Rassen sind in dieser Weise gebildet worden und die Art und Weise ihres Entstehens ist der der natürlichen Species sehr analog. Wir wissen auch, dass die Pferde, welche nach den Falklandinseln gebracht worden sind, während der auf einander folgenden Generationen kleiner und schwächer geworden sind, während diejenigen, welche in den Pampas verwildert sind, grössere und gröbere Köpfe erlangt haben; und derartige Veränderungen sind offenbar Folgen des Umstands, dass nicht etwa irgend ein Paar, sondern alle Individuen denselben Bedingungen ausgesetzt gewesen sind, wobei vielleicht das Princip des Rückschlags unterstützend eingewirkt hat. In keinem dieser Fälle sind die neuen Unterrassen von irgend einem einzelnen Paare abgestammt, sondern von vielen Individuen , welche in verschiedenem Grade, aber in derselben allgemeinen Art, variirt haben; und wir dürfen schliessen, dass die Menschenrassen ähnlich entstanden sind, indem die Modifikationen entweder das Resultat des Umstands waren, dass sie verschiedenen Bedingungen ausgesetzt wurden, oder das indirecte Resultat irgend einer Form von Zuchtwahl. Aber auf diesen letzteren Gegenstand werden wir sofort zurückkommen.

Ueber das Aussterben von Menschenrassen. — Das theil-weise und vollständige Aussterben vieler Rassen und Unterrassen des Menschen sind historisch bekannte Ereignisse. Humboldt sah in Südamerika einen Papagei, welcher das einzige lebende Wesen war, das die Sprache eines verlorenen Stammes noch kannte. Alte Monumente und Stein Werkzeuge, welche sich in allen Theileu der Welt finden und

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Cap. 7.                                Aussterben von Kassen.                                     209

von welchen unter den gegenwärtigen Einwohnern keine Tradition mehr erhalten ist, weisen auf reichliches Aussterben hin. Einige kleine und versprengte Stämme, Ueberbleibsel früherer "Rassen, leben noch in iso-lirten und gewöhnlich bergigen Districten. In Europa standen die alten Kassen sämmtlich nach Schaaffhausen28 auf der Stufenreihe niedriger als die rohesten jetzt lebenden Wilden; sie müssen daher in einer gewissen Ausdehnung von jeder jetzt existirenden Rasse abgewichen sein. Die von Professor Broca 29 aus Les Eyzies beschriebenen Ueberreste weisen, obgleich sie unglücklicherweise einer einzelnen Familie angehört zu haben scheinen, auf eine Rasse hin mit einer höchst merkwürdigen Combination niederer oder affenartiger und höherer characteristischer Merkmale, welche »völlig verschieden von irgend einer andern alten „oder modernen Rasse war, von der wir je gehört haben." Sie wich daher auch von der quaternären Rasse der belgischen Höhlen ab.

Ungünstige physikalische Bedingungen scheinen nur einen geringen Einfluss auf das Aussterben von Rassen gehabt zu haben3o. Der Mensch hat in den äussersten Gegenden des Nordens lange gelebt, wo er kein Holz hatte, aus dem er sich seine Boote oder andere Werkzeuge hätte machen können, und wo er nur Thran zum Brennen und zum Wärmen und besonders noch zum Schmolzen des Schnee's hatte. An der Südspitze von Amerika leben die Feuerländer ohne den Schutz von Kleidern oder von irgend einem Bau, welcher eine Hütte genannt zu werden verdient. In Südafrika wandern die Eingebornen über die dürrsten Ebenen, wo gefährliche Thiere in grosser Anzahl vorhanden sind. Der Mensch kann den tödtlichen Einfluss des Terai am Fusse des Himalaja und die pesthavichenden Küsten des tropischen Afrika ertragen.

Das Aussterben ist hauptsächlich eine Folge der Concurrenz eines Stammes mit dem andern und einer Rasse mit der andern. Verschiedene hindernde Momente sind fortwährend in Thätigkeit, wie in einem früheren Capitel einzeln aufgeführt wurde, welche dahin führen, die Zahl jedes wilden Stammes niedrig zu halten — so die periodisch eintretenden Hungersnöthe, das Wandern der Eltern und das in Folge hiervon auftretende Sterben der Kinder, das lange Stillen, das Stehlen von Frauen, Kriege, Naturereignisse, Krankheiten, zügelloses Leben, besonders Kin-

28  Uebersetzung in: Anthropolog. Review. Oct. 1868, p. 431.

29  Transact. Internat. Congress of Prehistor. Archaeolog. 1S68, p. 172—175. s. aueb Broca in: Anthropolog. Review, Oct. 18G8, p. 410.

30  Gerland, Ueber das Aussterben der Naturvölker, 18G8, S. 82.

Darwin, Abstammung. I. Zweite Auflage.

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Rassen des Menschen.

I. Theil.

desmord und eine vielleicht verminderte Fruchtbarkeit in Folge weniger nahrhafter Kost und vieler Mühseligkeiten. Wird in Folge irgend einer Ursache eines dieser Hindernisse vermindert, wenn auch nur in einem unbedeutenden Grade, so wird der auf diese Weise begünstigte Stamm zur Vermehrung neigen, und wenn einer von zwei an einander stossen-den Stämmen zahlreicher und machtvoller als der andere wird, so wird der Kampf sehr bald durch Krieg, Blutvergiessen, Cannibalismus, Scla-vorei imd Absorption beendet. Selbst wenn ein schwächerer Stamm nicht in dieser Weise plötzlich hinweggeschwemmt wird, nimmt er doch, wenn er einmal beginnt abzunehmen, beständig weiter ab, bis er ausgestorben ist31.

Wenn civilisirte Nationen mit Barbaren in Berührung kommen, so ist der Kampf kurz, mit Ausnahme der Orte, wo ein tödtliches Clima der eingeborenen Easse zu Hülfe kommt. Von den Ursachen, welche zum Siege der civilisirten Nationen führen, sind einige sehr deutlich, andere sehr dunkel. Wir können einsehen, dass die Cultur des Landes aus vielen Gründen den Wilden verderblich sein wird; denn sie können oder werden ihre Gewohnheiten nicht ändern. Neue Krankheiten und Laster sind in hohem Grade zerstörend, und es scheint, als ob in jeder Nation eine neue Krankheit viele Todesfälle veranlasst, bis Diejenigen, welche für ihren zerstörenden Einfluss am meisten empfänglich sind, nach und nach ausgejätet sind 32. Dasselbe dürfte mit den schlimmen Wirkungen der geistigen Getränke und ebenso mit dem unbezwingli-chen starken Geschmack an solchen, den so viele Wilde zeigen, der Fall sein. So mysteriös die Thatsache ist, so scheint es doch ferner, als ob die erste Begegnung distineter und getrennt gewesener Völker Krankheiten erzeuge *3. Mr. Spkoat, welcher die Frage des Aussterbens in Vancouvers-Island eingehend untersuchte, glaubt, dass veränderte Lebensgewohnheiten, welche stets Folge der Ankunft von Europäern sind, eine Störung der Gesundheit herbeiführen. Er legt auch auf eine so unbedeutende Ursache grosses Gewicht, wie die ist, dass

31 Gerland führt a. a. 0. S. 12 Thatsachen zur Unterstützung dieser Angabe an.

33 s. Bemerkungen in diesem Sinne bei Sir. H. Holland, Medical Notes and Reflections 1839, p. 390.

33 Ich habe eine ziemliche Anzahl sich auf diesen Punkt beziehender Thatsachen gesammelt: Journal of Reserackes, Voyage of the Beagle, p. 435. s. auch Gerland, a. a. 0. S. 8. Pöppig spricht von dem Hauche der Civilisation, welcher den Wilden giftig ist.

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Cap. 7.                                  Aussterben von Rassen.                                   211

die Eingeborenen durch das neue Leben um sich herum „verdutzt und „dumm werden. Sie verlieren den Trieb zu eigener Anstrengung und „erhalten keine neuen Beize an dessen Stelle" 34.

Der Grad der Civilisation scheint ein höcht bedeutungsvolles Element bei dem Erfolge der in Concurrenz kommenden Nationen zn sein. Noch vor wenigen Jahrhunderten fürchtete Europa das Eindringen östlicher Barbaren; jetzt würde irgend eine solche Furcht lächerlich sein. Es ist eine noch merkwürdigere Thatsache, dass in früheren Zeiten, wie Mr. Bagehot bemerkt hat, die Wilden nicht vor den classi-schen Nationen verschwanden. Wäre dies der Fall gewesen, so würden die alten Moralisten sicher über dieses Ereigniss ihre Bemerkungen gemacht haben, aber es findet sich in keinem Schriftsteller jener Periode über die untergehenden Barbaren irgend eine Klage *5.

Obgleich die allmähliche Abnahme und endliche Erlöschung der Menschenrassen ein dunkles Problem ist, so können wir doch sehen, dass sie von vielen Ursachen abhängt, welche an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen sind. Es ist dasselbe schwierige Problem wie das, was sicli beim Aussterben irgend eines der höheren Thiere darbietet — z. B. des Pferdes, welches aus Südamerika verschwand und nur noch fossil gefunden wird, um bald nachher innerhalb derselben Bezirke von zahlreichen Heerden des spanischen Pferdes wieder ersetzt zu werden. Der Neuseeländer scheint sich dieses Parallelismus bewusst zu sein, denn er vergleicht sein künftiges Schicksal mit dem der eingeborenen Batte, welche von der europäischen ßatte fast ganz ausgerottet ist. Ist auch die Schwierigkeit einer Erklärung sowohl für unsere Einbildung, als auch factisch gross, wenn wir die Ursachen genau festzustellen wünschen, so sollte sie es doch nicht unserem Verstände sein, so lange wir beständig vor Augen behalten, dass die Zunahme jeder Species und jeder Basse fortwährend durch verschiedene Hindernisse aufgehalten wird; denn da, wenn irgend ein neues Hinder-niss oder eine neue Zerstörungsursache, wenn auch noch so unbedeutend, hinzutritt, die Basse sicherlich an Zahl abnehmen wird, und da es überall beobachtet worden ist, dass Wilde jeder Veränderung der Lebensgewohnheiten entgegen sind, durch welches Mittel schädliche Hemmnisse wieder aufgewogen werden könnten, so wird-eine einmal auftretende

34  Sproat, Scenes and Studies of Savage Life 1808, p. 284.

35  Bagehot, Pkysics and Politics in: Fortnightly Review. Apr. 1, 18G8, p. 455.

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212                                      Rassen des Menschen.                               I. Theil.

Abnahme der Zahlen früher oder später zum Aussterben führen. Das Ende wird dann in den meisten Fällen durch das Eindringen sich vergrößernder und erobernder Stämme mit Sicherheit herbeigeführt.

Ueber die Bildung der Menschenrassen. — Es mag vorausgeschickt werden, dass, wenn wir ein und dieselbe Menschenrasse, wenn auch in verschiedene Stämme aufgelöst, über einen grossen Bezirk, wie über Amerika, verbreitet finden, wir allgemein ihre Ueber-einstimmung der Abstammung von einem gemeinsamen Stamme zuschreiben können. In einigen Fällen hat die Kreuzung von bereits verschiedenen Rassen zur Bildung ueucr Rassen geführt. Die eigenthüm-liche Thatsache, dass Europäer und Hindus, welche zu demselben arischen Stamme gehören und eine fundamental gleiche Sprache sprechen, in der äusseren Erscheinung weit von einander verschieden sind, während die Europäer nur wenig von den Juden abweichen, welche zum semitischen Stamm gehören und eine völlig andere Sprache sprechen, hat Bkoca 36 dadurch zu erklären gesucht, dass er meint, die verschiedenen Zweige hätten sich während ihrer weiten Verbreitung mit verschiedenen eingeborenen Stämmen in reichlichem Maassc gekreuzt. Wenn zwei in dichter Berührung lebende Rassen sich kreuzen, so ist das erste Resultat eine heterogene Mischung. So sagt Mr. Hunter bei Beschreibung der Santali oder Bergstämme von Indien, dass sich Hunderte von unmerkbaren Abstufungen verfolgen lassen „von den schwarzen untersetzten Stämmen der Bergländer bis zu deu schlanken olivenfarbigen „Brahmanen mit ihren intelligenten Augenbrauen, ruhigen Augen und „hohen aber schmalen Köpfen;" so dass es bei Gerichtshöfen nothwen-dig ist, die Zeugen zu fragen, ob sie Santalis oder Hindus siud 3?. Ob ein heterogenes Volk wie die eingeborenen Neger der polynesischen Inseln, die sich durch die Kreuzung zweier distineter Rassen gebildet haben, wobei nur wenig oder gar keine rassenrehie Individuen erhalten sind, jemals homogen werden könne, ist durch directe Belege uicht ermittelt. Da aber bei uiisern domesticirteu Thieren eine gekreuzte Zucht im Laufe weniger Generationen mit Gewissheit flxirt und durch sorgfältige Zuchtwahl gleichförmig gemacht werden kann, so dürfen

39 On Anthropology in: Anthropolog. Review. Jan. 1868, j). 38. " The Annais of Rural Bengal. 1868, p. 134.

38 Das Variiren der Thiere 'und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 2, S. 126.

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Cap. 7.                                   Bildung der Rassen.                                        213

wir schliessen, dass das reichliche und langdauernde Kreuzen einer heterogenen Mischlingsbevölkeruug während vieler Generationen die Stelle der Zuchtwahl ersetzen und jede Neigung zum Kückschlag überwinden wird, so dass endlich eine gekreuzte Kasse homogen werden wird, wennschon sie nicht in gleichem Grade an den Characteren der beiden elterlichen Kassen Theil zu haben brauchte.

Von allen Verschiedenheiten zwischen den Menschenrassen ist die der Hautfarbe die augenfälligste und eine der bestmarkirten. Verschiedenheiten dieser Art glaubte man früher dadurch erklären zu können, dass die Menschen lange Zeit verschiedenen Climaten ausgesetzt gewesen seien; aber Pallas zeigte zuerst, dass diese Ansicht nicht haltbar ist, und ihm sind fast alle Anthropologen gefolgt39. Die Ansicht ist vorzüglich deshalb verworfen worden, weil die Verbreitung der verschieden gefärbten Rassen, von denen die meisten ihre gegenwärtigen Heimath-länder lange bewohnt haben müssen, nicht mit den entsprechenden Verschiedenheiten des Clima's übereinstimmt. Es muss auch auf solche Fälle Gewicht-gelegt werden wie den der holländischen Familien, welche, wie wir von einer ausgezeichneten Autorität4" hören, nicht die geringste Farbenveränderung erlitten haben, nachdem sie drei Jahrhunderte hindurch in Südafrika gelebt haben. Die in verschiedenen Theilen der Welt doch gleichförmige äussere Erscheinung der Zigeuner und Juden ist, wenn auch die Gleichförmigkeit der Letzteren etwas übertrieben worden ist41, gleichfalls ein Argument für dieselbe Ansicht. Man hat gemeint, dass eine sehr feuchte oder eine sehr trockene Atmosphäre auf die Modification der Hautfarbe einen noch grösseren Einfluss habe als blosse Hitze. Da aber d'Orbiöny in Südamerika und Livingstonk in Afrika zu diametral entgegengesetzten Folgerungen in Bezug auf die Feuchtigkeit und Trockenheit gelangten, so muss jeder Schluss über diese Frage als sehr zweifelhaft betrachtet werden 42.

Verschiedene Thatsachen, welche ich an einem andern Ort mitge-

39  Pallas in: Acta Acad. Petropolit. 1780. Pars II, p. 69. Ihm folgte Rn-dolphi in seinen Beiträgen zur Anthropologie. 1812. Eine ausgezeichnete Zusammenfassung der Beweise hat Godron gegeben: De l'Espece. 1859. Tom. II p. 246 ete.

40  Sir Andrew Smith, citirt von Knox, Races of Man. 1850, p. 473.

41  s. hierüber A. de Quatrefages in: Revue des Cours scientifiques. Oct. 17, 1868, p. 731.

42  Livingstone, Travels and Researches in South Africa. 1857, p. 338, 329. d'Orbigny, citirt von Godron, De l'Espece. Tom. II, p. 266.

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214                                     Rassen des Menschen.                                 I. Theil.

theit habe, beweisen, dass die Farbe der Haut und des Haars zuweilen in überraschender Weise mit einer vollkommenen Immunität für die Wirkung gewisser vegetabilischer Gifte und für die Angriffe gewisser Parasiten in Correlation steht. Es kam mir daher der Gedanke, dass Neger und andere dunkelfarbige Rassen ihre dunkelfarbige Haut dadurch erlangt haben könnten, dass während einer langen Reihe von Generationen die dunkleren Individuen stets dem tödtlichen Einflüsse der Miasmen ihrer Geburtsländer entgangen sind.

Ich fand später, dass dieselbe Idee schon vor langer Zeit dem Dr. Wells gekommen sei43. Dass Neger und selbst Mulatten fast vollständig exempt vom gelben Fieber sind, welches im tropischen Amerika so zerstörend auftritt, ist längst bekannt44. Sie bleiben auch in grosser Ausdehnung von den tödtlichen Wechselfiebern frei, welche in einer Ausdehnung von mindestens zweitausendsechshundert Miles an den Küsten von Afrika herrschen und welche jährlich den Tod von einem Fünftel der weissen Ansiedler und die Heimkehr eines andern Fünftels in invalidem Zustand verursachen45. Diese Immunität des Negers scheint zum Theil angeboren za sein und zwar in Abliängigkeit von irgend einer unbekannten Eigenthümlichkeit der Constitution, zum Theil als Resultat der Acclimatisation. Pouchet 46 führt an, dass die vom Vicekönig von Aegypten für den mexicanischen Krieg geborgten Negerregimenter, welche sich aus der Nähe des Sudan r,ekrutirt hatten, dem gelben Fieber fast ebensogut entgiengen als die ursprünglich aus verschiedenen Theilen von Afrika ausgeführten und an das Clima von Westindien gewöhnten Neger. Dass die Acclimatisation hierbei eine Rolle spielt, zeigt sich in den vielen Fällen, wo Neger, nachdem sie eine Zeit lang in einem kälteren Clima sich aufgehalten haben, in einer gewissen Ausdehnung für tropische .Fieber empfänglich geworden sind47.

43  s. einen vor der Royal Society 1813 gelesenen Aufsatz, welcher in seinen Essays 1818 veröffentlicht ist. Einen Bericht über Dr. Wells's Ansichten habe ich in der historischen Skizze in meiner Entstehung der Arten (4. Aufl., S. 3) gegeben. Verschiedene Fälle von Correlation der Farbe mit constitutionellen Eigenthümlichkeiten habe ich mitgetheilt im dem „Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication." Bd. 2, S. 302, 443.

44  s. z. B. Nott and Gliddon, Types of Mankind, p. 68.

45  Major Tu 11 och in einem Aufsatz, gelesen vor der Statistical Society, Apr. 20. 1840 und mitgetheilt im Athenaeum, 1840, p. 353.

49 The Plurality of the Human Races (Uebers.) 1864, p. 60.

47 A. de Quatrefages, Unite de l'Espece humaine. 1861, p. 205. AVaitz,

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Cap. 7.

Bildung der Rassen.

215

Es hat auch die Natur des Clima's, in welchem die weissen Rassen lange gelebt haben, gleichfalls Einfluss auf sie; denn während der fürchterlichen Epidemie des gelben Fiebers in Demerara im Jahre 1837 fand Dr. Blair, dass das Sterblichkeitsverhältniss der Eingewanderten proportional deii Breitengraden des Landes war, aus dem sie gekommen waren. Bei dem Neger lässt die Immunität, soweit sie das Resultat einer Acclimatisation ist, auf ein ungeheuer lange wirksames Ausgesetztsein schliessen, denn die Ureinwohner des tropischen Amerika, die dort seit unvordenklichen Zeiten gewohnt haben, sind nicht exempt vom gelben Fieber und Mr. B. Tristram führt an, dass es Bezirke in Nordafrika gibt, welche die eingeborenen Einwohner jedes Jahr zu verlassen gezwungen sind, wogegen die Neger mit Ruhe dort bleiben können. Dass die Immunität des Negers in irgendwelchem Grade mit der Farbe seiner Haut in Correlation stehe, ist eine blosse Conjectur; sie kann ebensogut mit irgend einer Verschiedenheit in seinem Blute, seinem Nervensysteme oder andern Geweben in Correlation sein. Nichtsdestoweniger schien mir diese Vermuthung nach den oben angezogenen Thatsachen und in Folge des Umstands, dass ein Zusammenhang zwischen dem Teint und einer Neigung zur Schwindsucht offenbar besteht, nicht unwahrscheinlich zu sein. In Folge dessen versuchte ich, aber mit wenig Erfolg 4S, zu bestimmen, wie weit sie Gültigkeit habe. Der

Indrodnct. to Anthropology. Uebers. Vol. I. 18G3, p. 124. Livingstone führt in seinen Reisen analoge Fälle an.

48 Im Frühjahr des Jahres 1862 erhielt ich vorn General-Director des medi-cinischen Departements der Armee die Erlanhniss, den verschiedenen Regimeutsärzten im auswärtigen Dienste eine Tabelle znm Ausfüllen mit den folgenden dazu gefügten Bemerkungen zn schicken. Ich habe aber keine Antwort erhalten. „Da mehrere „gut ausgesprochene Fälle bei unsern domesticirten Thieren beschrieben worden „sind, wo eine Beziehung zwischen der Farbe der Hautanhänge nnd der Constitution bestand, und es notorisch ist, dass in einem einigermaassen beschränkten „Grade eine Beziehung zwischen der Farbe der Menschenrassen.und dem von „ihnen bewohnten Clima besteht, so scheint die folgende Untersuchung wohl der „Betrachtung werth: nämlich, ob bei Europäern zwischen der Farbe ihrer Haare „und ihrer Empfänglichkeit für die Krankheiten der Tropenländer irgend eine Beziehung besteht. Wenn die Aerzte der verschiedenen Regimenter, während sie in ungesunden tropischen Districten stationirt sind, die Freundlichkeit haben wollten, zu-„erst als Maassstab der Vergleichnng zu zählen, wie viele Leute in dem Truppentheile, „von welchem die Kranken herkommen, dunkle und hell gefärbte Haare und Haare „einer mittleren oder zweifelhaften Färbung haben; und wenn dann von demselben Arzte ein ähnlicher Bericht über alle die Leute geführt würde, welche „an Malaria- und gelbem Fieber oder an Dysenterie leiden, so würde es sich „sehr bald ergeben, nachdem Tausende von Fällen tabellarisch zusammengestellt

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216

Rassen des Menschen.

I. Theil.

verstorbene Dr. Daniell, welcher lange an der Westküste von Afrika gelebt hatte, sagte mir, dass er an keine solche Beziehung glaube. Er war selbst ungewöhnlich blond und hatte dem Clima in einer wunderbaren Weise widerstanden. Als er zuerst als Knabe an der Küste ankam, sagte ein alter und erfahrener Negerhäuptling nach seiner äusseren Erscheinung voraus, dass dies der Fall sein würde. Dr. Nicholson von Antigua schrieb mit, nachdem er dem Gegenstand eingehende Aufmerksamkeit gewidmet hatte, dass er nicht glaube, dass dunkelfarbige Europäer dem gelben Fieber mehr entgiengen als diejenigen, welche hell gefärbt wären. Mr. J. M. Harris läugnet gänzlich49, dass Europäer mit dunklem Haar einem heissen Clima besser widerstehen als andere Menschen. Im Gcgcntheil hat die Erfahrung gelehrt, bei der Auswahl der Leute zum Dienste an der Küste von Afrika die mit rothem Haar zn wählen. Soweit daher diese wenigen Andeutungen reichen, scheint die Hypothese, welche mehrere Schriftsteller angenommen haben, dass die Farbe der schwarzen Kassen daher rühren könnte, dass immer dunklere und dunklere Individuen in grösserer Zahl überleben geblieben wären, während sie dem Fieber erzeugenden Clima ihrer Heimathländer ausgesetzt waren, der Begründung zu entbehren.

Obgleich wir mit unsern jetzigen Kenntnissen die so stark ausgesprochenen Verschiedenheiten in der Färbung zwischen den Menschenrassen weder durch die Correlation mit constitutionellen Eigentümlichkeiten, noch durch die directe Einwirkung des Clima's zu erklären vermögen, so dürfen wir doch die Wirkung des Letzteren nicht vernachlässigen; denn wir haben guten Grund zu glauben, dass ein gewisser vererbter Effect hierdurch hervorgebracht wird 50.

„sein würden, ob zwischen der Farbe des Haares und der 'constitutionellen P"m-„pfänglichkeit für Tropenkrankheiten irgend eine Beziehung existirt. Vielleicht „lässt sich keine derartige Beziehung nachweisen, die Untersuchung ist aber wohl „des Anstelleus werth. Im Fall ein positives Resultat erreicht wird, dürfte es „auch von einigem praktischen Nutzen bei der Auswahl der Leute zu ;irgend „einem speciellen Dienste sein. Theoretisch würde das Resultat von höchstem „Interesse sein, da es eins der Mittel andeutete, durch welches eine Menschenrasse, welche seit einer unendlich langen Zeit ein ungesundes tropisches Clima „bewohnt, dunkelgefärht geworden sein dürfte, nämlich durch die bessere Erhaltung dunkelhaariger Individuen oder solcher mit dunklem Teint während einer „langen Reihe von Generationen."

49  Anthropological Review. Jan. 1866, p. XXI.

50  s. z. B. A. de Quatrefages (Revue des Cours scientifiques, Oct. 10. 1868, p. 724) über die Wirkung des Aufenthalts in Abyssinien und Arabien, und andere analoge Fälle. Dr. Rolle gibt (Der Mensch, seine Abstammung u. s. w.

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Cap.. 7.                                   Bildung der Rassen.                                       217

In unserem dritten Capitel haben wir gesehen , dass die Lebensbedingungen — wie sehr reichliche Nahrung und allgemeiner Comfort — in einer directen Weise die Entwickehing des ganzen Körpers affi-ciren und dass diese Wirkungen überliefert werden. Durch die combi-nirten Einwirkungen des Clima's und der veränderten Lebensgewohnheiten erleiden europäische Ansiedler in den Vereinigten Staaten, wie allgemein angenommen wird, eine geringe aber ausserordentlich schnelle Veränderung in der äusseren Erscheinung. Wir haben auch eine beträchtliche Menge von Beweisen, welche zeigen, dass in den südlichen Staaten die Haussclaven der dritten Generation eine markirte Verschiedenheit in ihrer äusseren Erscheinung von den Feldsclaven darbieten 51.

Wenn wir indessen die Menschenrassen in ihrer Verbreitung auf der ganzen Erde betrachten, so müssen wir zu dem Schlüsse gelangen, dass ihre characteristischen Verschiedenheiten durch die directe Wirkung verschiedener Lebensbedingungen , selbst nachdem sie solchen für eine enorme Zeit dauernd ausgesetzt waren, nicht erklärt werden können. Die Eskimo's leben ausschliesslich von animaler Kost, sie sind mit dicken Pelzen bekleidet und sind einer intensiven Kälte und lange dauernden Dunkelheit ausgesetzt; und doch weichen sie in keinem ausserordentlichen Grade von den Einwohnern des südlichen China ab, welche gänzlich von vegetabilischer Kost leben und beinahe nackt einem heissen, ja glühenden Clima ausgesetzt sind. Die unbekleideten Feuerländer leben von den Meereserzeugnissen ihrer unwirthlichen Küste. Die Botokuden wandern in den heissen Wäldern des Innern umher und leben hauptsächlich von vegetabilischen Erzengnissen; und doch sind diese Stämme einander so ähnlich, dass die Feuerländer an Bord des Beagle von mehreren Brasilianern für Botokuden gehalten wurden. Ferner sind die Botokuden, ebenso wie die andern Einwohner des tropischen Amerika, völlig von den Negern verschieden, welche die gegenüberliegenden Küsten des atlantischen Occeans bewohnen, einem nahezu

1865, S. 99) nach der Autorität Khanikof's an, dass die grössere Zahl der sich in Georgien niedergelassen habenden deutschen Familien in zwei Generationen dunkle Haare und Augen bekommen haben. Mr. D. Forbes theilt mir mit, dass die Qucchuas in den Anden sehr bedeutend je nach der Lage der von ihnen bewohnten Thäler in der Farbe variiren.

51 Harlan, Medical Researches p. 532. A. de Qu atre fages, Unite de l'Espece humaine, 1861, p. 128 hat sehr Viele Belege über diesen Gegenstand gesammelt.

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218

Rassen des Menschen.

I. Theil.

gleichen Clima ausgesetzt sind und nahebei dieselben Lebensgewohnheiten haben.

Auch durch vererbte Wirkungen des vermehrten oder verminderten Gebrauchs von Theilen können die Verschiedenheiten zwischen den Menschenrassen nicht erklärt werden, ausgenommen in einem vollkommen nichtssagenden Grade. Menschen, welche beständig in Booten leben, können ihre Beine etwas stämmiger haben, diejenigen, welche hohe Gegenden bewohnen, haben einen etwas grösseren Brustkasten und diejenigen, welche beständig gewisse Sinnesorgane gebrauchen, haben die Höhlen, in welche diese eingebettet sind, der Grösse nach etwas erweitert und in Folge hiervon ihre Gesichtszüge ein wenig modificirt. Bei civilisirten Nationen haben die etwas roducirte Grösse der Kinnladen in Folge eines verminderten Gebrauchs, das beständige Spiel verschiedener Muskeln, welche verschiedene Gemüthserregungen auszudrücken dienen, und die vermehrte Grösse des Gehirns in Folge der grösseren intellectuellen Lebendigkeit, Alles in Verbindung eine beträchtliche Wirkung auf die allgemeine Erscheinung im Vergleich mit Wilden hervorgebrachtä2. Es ist auch möglich, dass vermehrte Körper-grösse, ohne eine entsprechende Zunahme der Grösse des Gehirns, manchen Rassen (wenigstens nach den früher angeführten Fällen bei Kaninchen zu urtheilen) einen verlängerten, dem dolichocephalen Typus angehörigen Schädel verschaft't haben mag.

Endlich wird auch das nur wenig erklärte Princip der Correlation beinahe mit Sicherheit zur Thätigkeit gelaugt sein, wie in dem Falle einer bedeutenden Entwickelung des Mnskelsystems und stark vorspringender Oberaugenbrauenleisten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Textur des Haares, welche in den verschiedenen Kassen bedeutende Verschiedenheiten darbietet, in einer gewissen Art von Correlation mit der Structur der Haut stehen dürfte; denn die Farbe des Haars und der Haut sind bestimmt mit einander in Correlation, wie seine Färbung und Textur es bei den Mandan-Indianern sind 5:i. Die Farbe der Haut

" s. Prof. Schaaffhausen in: Anthropological Review. Oct. 1SR8, p. 420.

äs Mr. Catlin gibt an (North American Indians, 3. edit. 1842. Vol. 1, p. 49), dass in dem ganzen Stamme der Mandan-Indianer ungefähr eines unter je zehn oder zwölf Individuen aller Altersstufen und beider Geschlechter helle silbergraue Haare habe, was erblich sei. Dies Haar ist nun so grob und barsch wie die Mähne eines Pferdes, während die Haare anderer Farben weich und dünn sind.

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Cap. 7.

Bildung der Rassen.

219

und der von ihr ausgehende Geruch stehen gleichfalls auf irgendwelche Weise in Verbindung. Bei den Schafrassen steht die Zahl der Haare auf einem gegebenen Stücke Hautfläche und die Zahl der Drüsenöffnun-gen auf demselben im Verhältniss zu einander 54. Wenn wir nach der Analogie von unsern domesticirten Thieren urtheilen dürfen, so fallen viele Modificationen der Structur beim Menschen unter dieses Priucip des correlativen Wachsthums.

Wir haben nun gesehen, dass die characteristischen Verschiedenheiten zwischen den Eassen des Menschen in einer zufriedenstellenden Weise weder durch die directe Wirkung der Lebensbedingungen noch durch die Wirkungen des fortgesetzten Gebrauchs von Theilen noch durch das Princip der Correlation erklärt werden können. Wir werden daher zu untersuchen veranlasst, ob unbedeutende individuelle Verschiedenheiten, denen der Mensch im äussersten Maasse ausgesetzt ist, nicht im Verlaufe einer langen Reihe von Generationen durch natürliche Zuchtwahl erhalten und gehäuft worden sind. Hier begegnet uns aber sofort der Einwurf, dass nur wohlthätige Abänderungen auf diese Weise erhalten werden können; und soweit wir im Stande sind hierüber zu urtheilen (denn über diesen Punkt sind wir beständig der Gefahr eines Irrthums ausgesetzt), ist nicht eine einzige der äussern Verschiedenheiten zwischen den Menschenrassen von irgendwelchem directen oder speciellen Nutzen für dieselben. Bei dieser Bemerkung müssen natürlich die intellectuellen und moralischen oder socialen Eigenschaften ausgenommen werden; es können aber Verschiedenheiten in diesen Fähigkeiten nur wenig oder gar keinen Einfluss auf äussere Merkmale gehabt haben. Die Variabilität der sämmtlichen vorhin erwähnten characteristischen Verschiedenheiten zwischen den Rassen weist gleichfalls darauf hin, dass diese Verschiedenheiten von keiner grossen Bedeutung sein können; denn wären sie von Bedeutung gewesen, so würden sie schon lange entweder fixirt und erhalten oder eliminirt worden sein. In dieser Beziehung ist der Mensch jenen von den Naturforschern proteisch oder polymorph genannten Formen ähnlich, welche äusserst variabel geblieben sind und zwar wie es scheint in Folge des Um-standes, dass ihre Abänderungen von einer indifferenten Beschaffenheit

51 lieber den Geruch der Haut s. Gndron, Sur l'Espeee, Tom. II, p. 217. Ueber die Poren der Haut s. Dr. Wilckens, die Aufgaben der landwirtschaftlichen Zootechnik. 1869, S. 7.

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Rassen dos Menschen.

I. Theil.

und in Folge hiervon der Entwickelung der natürlichen Zuchtwahl entgangen sind.

So weit sind denn also alle unsere Versuche, die Verschiedenheiten zwischen den einzelnen Rassen des Menschen zu erklären, vereitelt worden; noch bleibt aber eine bedeutungsvolle Kraft übrig, nämlich Geschlechtliche Zuchtwahl, welche mit der gleichen Energie auf den Menschen wie auf viele andere Thiere gewirkt zu haben scheint. Ich will nicht behaupten, dass geschlechtliche Zuchtwahl sämmtliche Verschiedenheiten zwischen den Rassen erklären wird. Ein unerklärter Rest bleibt übrig, über welchen wir in unserer Unwissenheit nur sagen können, dass, wie ja Individuen beständig z. B. mit ein wenig runderen oder schmäleren Köpfen oder mit ein wenig längeren oder kürzeren Nasen geboren werden, derartige unbedeutende Verschiedenheiten wohl fixirt und gleichförmig werden können, wenn die unbekannten Kräfte, welche sie herbeiführten, in einer beständigeren Art und Weise wirken und durch lange fortgesetzte Kreuzung unterstützt würden. Derartige Modificationeii gehören in die Classe provisorischer Fälle, welche ich im vierten Capitel angedeutet habe, und welche in Ermangelung einer bessern Bezeichnung spontane Abänderungen genannt wurden. Ich behaupte auch nicht, dass die Wirkungen der geschlechtlichen Zuchtwahl mit wissenschaftlicher Genauigkeit angegeben werden können; es kann aber nachgewiesen werden, dass es eine unerklärliche Thatsache sein würde, wenn der Mensch durch diese Kraft nicht modificirt worden wäre, welche in so wirksamer Weise zahllose Thiere, sowohl hoch als tief auf der Stufenleiter stehend, beeinflusst hat. Es kann ferner gezeigt werden, dass die Verschiedenheiten zwischen den Rassen des Menschen, wie die der Farbe, des Behaartseins, der Form der Gesichtszüge u. s. w. von einer solchen Natur sind, auf welche, wie man hätte erwarten können, die geschlechtliche Zuchtwahl wohl eingewirkt haben dürfte. Um aber diesen Gegenstand in einer entsprechenden Art und Weise zu behandeln, habe ich es für nöthig gehalten, das ganze Thier-reich Revue passiren zu lassen und habe demselben daher den zweiten Theil dieses Werks gewidmet. Zum Beschluss werde ich auf den Menschen zurückkommen und werde, nachdem ich den Versuch gemacht habe zu zeigen wie weit er durch geschlechtliche Zuchtwahl modificirt worden ist, eine kurze Zusammenfassung der in diesem ersten Theile enthaltenen Capitel geben.

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Zweiter Theil. Geschlechtliche Zuchtwahl.

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Achtes Oapitel.

Grundsätze der geschlechtlichen Zuchtwahl.

Secundäre Sexualcharactere. — Geschlechtliche Zuchtwahl, — Art und Weise der Wirkung. — Ueberwiegen der Männchen. — Polygamie. — Allgemein ist nur das Männchen durch geschlechtliche Zuchtwahl modificirt. — Begierde des Männchens. — Variabilität des Männchens. — Wahl vom Weibchen ausgeübt. — Geschlechtliche Zuchtwahl verglichen mit der natürlichen. — Vererbung zu entsprechenden Lebensperioden, zu entsprechenden Jahreszeiten und durch das Geschlecht beschränkt. — Beziehungen zwischen den verschiedenen Formen der Vererbung. — Ursachen, weshalb das eine Geschlecht und die Jungen nicht durch geschlechtliche Zuchtwahl modificirt werden. — Anhang: über die proportionalen Zahlen der beiden Geschlechter durch das ganze Thierreich. — Ueber die Beschränkung der Zahlen der beiden Geschlechter durch geschlechtliche Zuchtwahl.

Bei Thieren mit getrenntem Geschlechte weichen die Männchen nothwendig von den Weibchen in ihren Beproductionsorganen ab; diese bieten daher die primären Geschlechtscharactere dar. Die Geschlechter weichen oft auch in dem ab, was Hunter secundäre Sexualcharactere genannt hat, welche nicht in einer directeii Verbindung zu dem Act der Beproduction stehen. Es besitzen z. B. die- Männchen gewisse Sinnesorgane oder Locomotionsorgane, welche den Weibchen völlig fehlen, oder haben dieselben höher entwickelt, damit sie die Weibchen leicht finden oder erreichen können; oder ferner es besitzt das Männchen besondere Greiforgane, um das Weibchen sicher zu halten. Diese letzteren Organe von unendlich mannichfacher Art gehen allmählich in diejenigen über und können in manchen Fällen kaum von denselben unterschieden werden, welche gewöhnlich für primäre angesehen werden, so z. B. die complicirten Anhänge an der Spitze des Hinterleibs bei männlichen Insecten. In der That, wenn wir nicht den Ausdruck „primär" auf die Generationsdrüsen beschränken, ist es kaum möglich, wenigstens soweit die Greiforgane in Betracht kommen, zu entscheiden, welche derselben primär und welche seeundär genannt werden sollen.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Das Weibchen weicht oft vom Männchen dadurch ab, dass es Organe zur Ernährung oder zum Schutze seiner Jungen besitzt, wie die Milchdrüsen der Säugethiere und die Abdominaltasche der Marsupialien. Auch das Männchen weicht in einigen wenigen Fällen vom AVeibchen durch den Besitz von analogen Organen ab, wie der Taschen zur- Aufnahme der Eier, welche die Männchen gewisser Fische besitzen, und der temporär entwickelten Bruttaschen gewisser männlicher Frösche. Weibliche Bienen haben einen speciellen Apparat zum Sammeln und Eintragen des Pollen und ihre Legeröhre ist zu einem Stachel für die Vertheidigung ihrer Larven und der ganzen Genossenschaft modificirt. Bei den Weibchen vieler Insecten ist die Legeröhre in der complicir-testen AVeise zur sicheren Unterbringung der Eier modificirt. Zahlreiche ähnliche Fälle könnten angeführt werden, doch berühren sie uns hier nicht. Es gibt indessen andere geschlechtliche Verschiedenheiten, die uns hier besonders angehen und welche mit den primären Orgauen in gar keinem Zusammenhange stehen, so die bedeutendere Grösse, Stärke und Kampflust der Männchen, ihre Angriffswaffen oder Vertheidigungs-mittel gegen Nebenbuhler, ihre auffallendere Färbung und verschiedenen Ornamente, ihr Gesangsvermögen und andere derartige Charactere.

Ausser den vorgenannten primären und seeundären geschlechtlichen Differenzen weichen die Männchen von den Weibchen zuweilen in Bildungen ab, welche mit verschiedenen Lebensgewohnheiten in Verbindung stehen und entweder gar nicht oder nur indirect auf die Keproductions-funetionen Bezug haben. So sind die Weibchen gewisser Fliegen (Culi-eidae und Tabanidae) Blutsauger, während die Männchen von Blüthen leben und keine Kiefer an ihrer Mundöffnung haben l. Nur die Männchen gewisser Motten und einiger Crustaceen (z. B. Tanais) haben unvollkommene, geschlossene Mundöffnungen und können sich nicht ernähren. Die complementären Männchen gewisser Cirripeden leben wie epiphy-tische Pflanzen auf der weiblichen oder der hermaphroditischen Form und entbehren einer Mundöffnuiig und der Greiffüsse. In diesen Fällen ist es das Männchen, welches modificirt worden ist und gewisse bedeutungsvolle Organe verloren hat, welche die andern Glieder derselben Gruppe besitzen. In andern Fällen ist es das Weibchen, welches derartige Theile verloren hat. So ist z. B. der weibliche Leuchtkäfer ohne

' West wo od, Modern Classification of Insects. Vol. IL 1840, p. 541. In Bezug auf die Angaben über Tanais, welche unten erwähnt werden, bin ich Fritz Müller zu Dank verbunden.

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Cap. 8.                        Verschiedenheiten der Geschlechter.                            225

Flügel, wie es auch viele weiblichen Motten sind, von denen einige niemals ihre Cocons verlassen. Viele weibliche parasitische Crustaceen haben ihre Schwimmfüsse verloren. Bei einigen Rüsselkäfern (Curculionidae) besteht eine bedeutende Verschiedenheit zwischen dem Männchen und Weibchen in der Länge des Kostrums oder des Rüssels2. Doch ist die Bedeutung dieser und vieler anderer Verschiedenheiten durchaus nicht erklärt. Verschiedenheiten der Struetur zwischen den beiden Geschlechtern, welche zu verschiedenen Lebensgewohnheiten in Beziehung stehen, sind meist auf die niederen Thiere beschränkt; aber auch bei einigen wenigen Vögeln weicht der Schnabel des .Männchens von dem des Weibchen ab. Ohne Zweifel stehen in den meisten, aber allem Anscheine nach nicht in allen solchen Füllen die Verschiedenheiten in einer indirecten Verbindung mit der Fortpflanzung der Art. So wird ein Weibchen, welches eine Menge Eier zu ernähren hat, mehr Nahrung erfordern als ein Männchen und wird in Folge dessen specieller Mittel bedürfen, sich dieselben zu verschaffen. Ein männliches Thier, welches nur eine sehr kurze Zeit lebt, kann ohne Schaden in Folge von Nichtgebrauch seine Organe zur Beschaffung von Nahrung verlieren, es wird aber seine locomotiven Organe in vollkommenem Zustande behalten, damit es das Weibchen erreichen kann. Andererseits kann das AVeib-chen getrost seine Organe zum Fliegen, Schwimmen oder Geben verlieren, wenn es allmählich Gewohnheiten annimmt, welche ein derartiges Vermögen nutzlos machen.

Wir haben es indessen hier nur mit jener Art von Zuchtwahl zu thun, welche ich geschlechtliche Zuchtwahl genannt habe. Dieselbe hängt von dem Vortheile ab, welchen gewisse Individuen über andere Individuen desselben Geschlechts und derselben Species erlangen in ausschliesslicher Beziehung auf die Reproduction. Wenn die beiden Geschlechter in ihrer Struetur in Bezug auf die verschiedenen Lebensgewohnheiten, wie in den oben erwähnten Fällen, von einander abweichen, so sind sie ohne Zweifel durch natürliche Zuchtwahl modificirt worden in Verbindung mit einer auf ein und dasselbe Geschlecht beschränkten Vererbung. Es fallen ferner die primären Geschlechtsorgane und die Organe zur Ernährung und Beschützung der Jungen unter diese selbe Kategorie. Denn diejenigen Individuen, welche ihre Nachkommen am besten erzeugten oder ernährten, v/erden ceteris paribus die grösste

2 Kirby and Speiice, Introductiou to Entomology. Vol. III. 182G, p. 309.

DAinvis, Abstammung. 1. Zweite Auflage.                                                      1 0

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Anzahl hinterlassen, diese Siipcriorität zu erben, während diejenigen, welche ihre Nachkommen mir schlecht erzeugten oder ernährten, auch nur wenige hinterlassen werden, dieses ihr schwächeres Vermögen zu erben. Da das Männchen das Weibchen aufzusuchen hat, so braucht es für diesen Zweck Sinnes- und Locomotionsorgane. Wenn aber diese Organe für die anderen Zwecke des Lebens nothwendig sind, wie es meistens der Fall ist, so werden sie durch natürliche Zuchtwahl entwickelt worden sein. Hat das Männchen das Weibchen gefunden, so sind ihm zuweilen Greiforgane, um dasselbe fest zu halten, absolut nothwendig. So theilt mir Dr. Wallace mit, dass die Männchen gewisser Motten sich nicht mit den Weibchen verbinden können, wenn ihre Tarsen oder Füsse gebrochen sind. Die Männchen vieler oceauisclier Crustaceen haben ihre Füsse und Antennen in einer ausserordentlichen Weise zum Ergreifen des Weibchens modificirt. AVir dürfen daher vermuthen, dass diese Thiere wegen des Umstandes, dass sie von den Wellen des offenen Meeres umhergeworfen werden, jene Organe absolut nöthig haben, um ihre Art fortpflanzen zu können; und wenn dies der Fall ist, so wird deren Ent-wickelmig das Resultat der gewöhnlichen oder natürlichen Zuchtwahl sein. Wenn die beiden Geschlechter genau denselben Lebensgewohnheiten folgen und das Männchen hat höher entwickelte Sinnes- oder Locomotionsorgane als das Weibchen, so kann es wohl sein, dass diese in ihrem vervollkommneten Zustand für das Männchen zum Finden des Weibchens unentbehrlich sind; aber in der ungeheuren Mehrzahl der Fälle dienen sie nur dazu, dem einen Männchen eine Ueberlegenheit über ein anderes zu geben. Denn die weniger gut ausgerüsteten Männchen werden, wenn ihnen Zeit-gelassen wird, auch noch dazu kommen, sich mit den AA'eibchen zu paaren, und sie werden in allen übrigen Beziehungen, nach der Structur des AAreibchens zu urtheilen, gleich-massig ihrer gewöhnlichen Lebensweise gut angepasst sein. In derartigen Fällen muss geschlechtliche Zuchtwahl in Thätigkeit getreten sein. Denn die Männchen haben ihre jetzige Bildung nicht dadurch erreicht, dass sie zum Ueberleben in dem Kampfe um's Dasein besser ausgerüstet sind, sondern dadurch, dass sie einen Vortheil über andere Männchen erlaugt und diesen Vortheil nur auf ihre männlichen Nachkommen überliefert haben. Es war gerade die Bedeutung dieses Unterschieds, welche mich dazu führte, diese Form der Zuchtwahl als geschlechtliche Zuchtwahl zu bezeichnen. AArcun ferner der hauptsächlichste Dienst, welchen die Greiforgane dem Männchen leisten, darin besteht, das Ent-

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Cap. 8.                              Secuntläre Soxuakharactcre.                                   227

schlüpfen des Weibchens noch vor der Ankunft anderer Männchen oder während des Angriffes von solchen zu verhüten, so werden diese Organe durch geschlechtliche Zuchtwahl vervollkommnet worden sein, d. h. durch den Yortheil, welchen gewisse Männchen über ihre Nebenbuhler erlangt haben. Es ist aber in den meisten Fällen kaum möglich, zwischen den Wirkungen der natürlichen und der geschlechtlichen Zuchtwahl zu unterscheiden. Es Hessen sich leicht ganze Capitel mit Einzelnheiten über die Verschiedenheiten zwischen den Geschlechtern in ihren Sinnes-, Locomotions- und Greiforganen füllen. Da indessen diese Bildungen von nicht mehr Interesse als andere den gewöhnlichen Lebenszwecken angepasste sind, so will ich sie fast ganz übergehen und nur einige wenige Beispiele von jeder Classe anführen.

Es gibt viele andere Bildungen und Instinote, welche durch geschlechtliche Zuchtwahl entwickelt worden sein müssen, — so die Angriffswaffen und die Vertheidigungsmittel, welche die Männehen zum Kampfe mit ihren Nebenbuhlern und zum Zurücktreiben derselben besitzen — ihr Miith und ihre Kampflust - ihre Ornamente verschiedener Art — ihre Organe zur Hervorbringung von Vocal- und "Instrumentalmusik — und ihre Drüsen zur Absonderung riechbarer Substanzen. Die meisten dieser letzteren Bildungen dienen nur dazu, das AVeibclien anzulocken oder aufzuregen. Dass diese Charactere das Resultat geschlechtlicher und nicht gewöhnlicher Zuchtwahl sind, ist klar, da unbewaffnete, nicht mit Ornamenten verzierte oder keine besonderen Anziehungspunkte besitzende Männchen in dem Kampfe nrn's Dasein gleichmässig gut bestehen und eine zahlreiche Nachkommenschaft hinterlassen würden, wenn nicht besser begabte Männchen vorhanden wären. Wir dürfen schliessen, dass dies der Fall sein würde; denn die Weibchen, welche ohne Waffen und Ornamente sind, sind doch im Stande, leben zu bleiben und ihre Art fortzupflanzen. Secundäre Geschlechts-charactere von der eben erwähnten Art werden in den folgenden Capiteln ausführlich erörtert werden, da sie in vielen Beziehungen von Interesse sind, aber ganz besonders, da sie von dem Willen, der Auswahl und der Eivalität der Individuen beider Geschlechter abhängen. Wenn wir zwei Männeben wahrnehmen, welche um den Besitz des AVeibchens kämpfen, oder mehrere männliche Vögel, welche ihr stattliches Gefieder entfalten und die fremdartigen Gesten vor einer versammelten Menge von Weibchen anstellen, so können wir nicht daran zweifeln, dass sie, wenn auch nur mit Instinct dazu getrieben, doch wissen, was sie thun,

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

und mit Bewusstsein ihre geistigen und körperlichen Kräfte zur Darstellung bringen.

In derselben Art und Weise, wie der Mensch die Fasse seiner KampiMhne durch die Zuchtwahl derjenigen Vögel verbessern kann, welche in den Hahnenkämpfen siegreich sind, so haben auch, wie es den Anschein hat, die stärksten und siegreichsten Männchen oder diejenigen, welche mit den besten Waffen versehen sind, im Naturzustände den Sieg davon getragen und haben zur Veredelung der natürlichen Easse oder Species geführt. Im Verlaufe der wiederholten Kämpfe auf Tod und Leben wird ein geringer Grad von Variabilität, wenn derselbe nur zu irgend einem Vortheile, wenn auch noch so unbedeutend, führt, zu der Wirksamkeit der geschlechtlichen Zuchtwahl beitragen; und es ist sicher, dass seeundäre Sexualcharactere ausserordentlich variabel sind. In derselben Weise wie der Mensch je nach seiner Ansicht von Geschmack seinem männlichen Geflügel Schönheit gehen kann, — wie er den Sebright-Bantam-Hühnern ein neues und elegantes Gefieder, eine aufrechte und eigen thümliche Haltung geben kann — so haben auch allem Anscheine nach im Naturzustande die weiblichen Vögel die Schönheit ihrer Männchen dadurch erhöht, dass sie lange Zeit hindurch die anziehendsten Männchen sich erwählt haben. Ohne Zweifel setzt dies ein Vermögen der Unterscheidung und des Geschmacks von Seiten des Weibchens voraus, welches anf den ersten Blick äusserst unwahrscheinlich erscheint; doch hoffe ich, später zu zeigen, dass es dies nicht ist.

Nach unserer Unwissenheit in Bezug auf mehrere Punkte ist die genaue Art und Weise, in welcher geschlechtliche Zuchtwahl wirkt, bis zu einer gewissen Ausdehnung nicht sicher zu bestimmen. Wenn trotzdem diejenigen Naturforscher, welche bereits an die Veränderlichkeit der Arten glauben, die folgenden Capitel lesen wollen, so werden sie, denke ich, mit mir darüber übereinstimmen, dass geschlechtliche Zuchtwahl in der Geschichte der organischen Welt eine bedeutende Rolle gespielt hat. Es ist sicher, dass bei fast allen Thieren ein Kampf zwischen den Männchen um den Besitz des Weibchens besteht. Diese Thatsache ist so notorisch , dass es überflüssig sein würde, hier Beispiele anzuführen. Es können daher die Weibchen unter der Voraussetzung, dass ihre geistigen Fähigkeiten für die Ausübung einer solchen Wahl hinreichen, eines von mehreren Männchen auswählen. In zahlreichen Fällen aber scheint es, als wenn eine besondere Anordnung

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Cap. 8.               Wirkungsweise der geschlechtlichen Zuchtwahl.                   229

getroffen worden wäre, dass ein Kampf zwischen vielen Männchen eintreten müsse. So kommen bei Zugvögeln allgemein die Männchen vor den Weibchen auf den Brüteplätzen an, so dass viele Männchen bereit sind, um jedes Weibchen zu kämpfen. Die Vogelfänger behaupten, dass dies unabänderlich bei der Nachtigall und dem Plattmönche der Fall ist, wie mir Mr. Jenner Weir mitgetheilt hat, welcher die Angabe in Bezug auf die letztere Species bestätigt.

Mr. Swaysland von Brighton, welcher während der letzten vierzig Jahre unsere Zugvögel bei ihrem ersten Eintreffen zu fangen pflegte, schreibt mir, dass er nie erfahren habe, dass die Weibchen irgend einer Art vor ihren Männchen ankämen. Während eines Frühlings schoss er neimunddreissig Männchen von Ray's Bachstelze (Budytes Bau), ehe er ein einziges Weibchen sah. Mr. Gould hat durch die Section bestätigt, wie er mir mittheilt, dass in England die männlichen Becassinen vor den weiblichen ankommen. Was die Fische betrifft, so sind zu der Periode, wenn der Lachs in unseren Flüssen aufsteigt, die Männchen in grosser Anzahl vor den Weibchen zur Brut bereit. Allem Anscheine nach ist dasselbe bei den Fröschen und Kröten der Fall. In der ganzen grossen Classe der Insecten schlüpfen die Männchen fast immer vor dem andern Geschlechte aus ihrem Puppenzustande aus, so dass sie meistens eine Zeit lang schwärmen, ehe irgendwelche Weibchen sichtbar sind 3. Die Ursache dieser Verschiedenheit zwischen der Periode der Ankunft der Männchen und der Weibchen und deren Keifeperiode ist hinreichend klar. Diejenigen Männchen, welche jährlich in ein anderes Land wandern oder welche im Frühjahre zuerst zur Brut bereit sind oder die eifrigsten sind, werden die grösste Anzahl von Nachkommen hinterlassen, und diese werden ähnliche Instincte und Constitutionen zu vererben neigen. Im Ganzen lässt sich nicht zweifeln, dass fast bei allen Thieren, bei denen die Geschlechter getrennt sind, ein beständig wiederkehrender Kampf zwischen den Männchen um den Besitz der Weibchen stattfindet.

s Selbst bei denjenigen Pflanzen, bei denen die Geschlechter getrennt sind, werden die männlichen Blüthen allgemein vor den weiblichen reif. Viele her-mapbroditische Pflanzen sind, wie zuerst C.K.Sprengel gezeigt hat, dichogam, d. h. ihre männlichen und weiblichen Organe sind nicht zu derselben Zeit fortpflanzungsfähig, so dass sie sich nicht seihst befruchten können. In solchen Pflanzen ist nun allgemein der Pollen in derselben Blntbe früher reif, als die Narbe, obschon einige exceptionelle Fälle vorkommen, bei denen die weiblichen Organe vor den männlichen die Reife erlangen.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Die Schwierigkeit in Bezug auf geschlechtliche Zuchtwahl liegt für uns darin, m verstehen, wie es kommt, dass diejenigen Männchen, welche andere besiegen, oder diejenigen, welche sich als den Weiheben am meisten anziehend erweisen, eine grössere Zahl von Nachkommen hinterlassen, um ihre Snperiorität zu erben, als die besiegten und weniger anziehenden Männchen. Wenn dieses Resultat nicht erlangt wird, so können die Charactere, welche gewissen Männchen einen Vortheil über andere verleihen, nicht durch geschlechtliche Zuchtwahl vervollkommnet und angehäuft werden. Wenn die Geschlechter in genau gleicher Anzahl existiren, so werden doch die am schlechtesten ausgerüsteten Männchen schliesslich auch Weibchen finden (mit Ausnahme der Fälle, wo Polygamie herrscht) und dann ebenso viele und für ihre allgemeinen Lebensgewohnheiten gleichmässig gut ausgerüstete Nachkommen hinterlassen als die bestbegabten Männchen. In Folge verschiedener Tliatsachen und Betrachtungen war ich früher zu dem Schlüsse gekommen, dass bei den meisten Thieren, bei denen seeundäre Se-xualcharactere gut entwickelt sind, die Männchen den Weibchen an Zahl beträchtlich überlegen sind, und dies ist auch für einige wenige Fälle richtig. Verhielten sich die Männchen zu den Weibchen wie zwei zu eins oder wie drei zu zwei oder selbst in einem noch etwas geringeren Verhältnisse, so würde die ganze Angelegenheit einfach sein. Denn die besser bewaffneten oder grössere Anziehungskraft darbietenden Männchen würden die grösste Zahl von Nachkommen hinterlassen. Nachdem ich aber, soweit es möglich ist, die numerischen Verhältnisse der Geschlechter untersucht habe, glaube ich nicht, dass irgend welche bedeutende Ungleichheit der Zahl für gewöhnlich existirt. In den meisten Fällen scheint die geschlechtliche Zuchtwahl in der folgenden Art und Weise in Wirksamkeit gekommen zu sein.

Wir wollen irgend eine Species, z.B. einen Vogel, annehmen und die Weibchen, welche einen Bezirk bewohnen, in zwei gleiche Massen theilen; die eine bestehe aus den kräftigeren und besser genährten Individuen, die andere aus den weniger kräftigen und weniger gesunden. Es kann darüber kaum ein Zweifel bestehen, dass die ersteren im Frühjahre vor den letzteren zur Brut bereit sein werden; und das ist auch die Meinung von Mr. Jenxer Weik, welcher viele Jahre hindurch die Lebensweise der Vögel aufmerksam beobachtet hat. Auch darüber kann kein Zweifel bestehen, dass die kräftigsten, gesündesten und am besten genährten Weibchen im Mittel es dahin bringen, die grösste Zahl

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Cap. 8.               Wirkungsweise der geschlechtlichen Zuchtwahl.                   23 1

von Nachkommen aufzuziehen. Wie wir gesehen haben, sind allgemein die Männchen schon vor den Weibchen zum Fortpflanzungsgeschäft bereit ; von den Männchen treiben jiun die stärksten und bei einigen Species die am besten bewaffneten die schwächeren Männchen fort, und die ersteren werden sich dann mit den kräftigeren und am besten genährten Weibchen verbinden, da diese die ersten sind, welche zur Brut bereit sind. Derartige kräftige Paare werden sicher eine grössere Zahl von Nachkommen aufziehen, als die zurückgebliebenen Weibchen, welche unter der Voraussetzung, dass die Geschlechter numerisch gleich sind, gezwungen werden, sich mit den besiegten und weniger kräftigen Männchen zu paaren; und hier rindet sich denn Alles was nöthig ist, um im Verlaufe aufeinander folgender Generationen die Grösse, Stärke und den Muth der Männchen zu erhöhen oder ihre Waffen zu verbessern.

Aber in einer Menge von Fällen gelangen die Männchen, welche andere Männchen besiegen, nicht in den Besitz der Weibchen unabhängig von einer Wahl seitens der letzteren. Die Bewerbung der Thiere ist durchaus keine so einfache und kurze Angelegenheit, als man wohl denken möchte. Die Weibchen werden durch die geschmnek-teren oder die sich als die besten Sänger zeigenden oder die am besten gestikulirenden Männchen am meisten angeregt oder ziehen vor, sich mit solchen zu paaren. Es ist aber offenbar wahrscheinlich, wie es auch in manchen Fällen factisch beobachtet worden ist, dass diese Männchen in derselben Weise es auch vorziehen werden, sich mit den kräftigeren und lebendigeren Weibchen zu begatten 4. Es werden daher die kräftigeren Weibchen, welche zuerst zum Brutgeschäfte kommen, die Auswahl unter vielen Männchen haben, und wenn sie auch nicht immer die stärksten und am besten bewaffneten wählen werden, so werden sie sich doch diejenigen aussuchen, welche überhaupt kräftig und gut bewaffnet sind und in manchen anderen Beziehungen am meisten Anziehungskraft ausüben. Solche zeitige Paare werden beim Aufziehen von Nachkommen auf der weiblichen Seite, wie oben auseinandergesetzt wurde, denselben Vortheil und auf der- männlichen Seite nahezu denselben Vortheil haben. Und offenbar hat dies während eines langen Verlaufes aufeinander folgender Generationen hingereicht, nicht bloss die

1 Ich habe ilitthcilungen in diesem Sinne in "Bezug auf die Hühner erhalten, welche ich später noch erwähnen werde. Selbst bei solchen Vögeln, welche sieh, wie der Tauber, für ihre Lehenszeit paaren, verlässt, wie ich von Mr. Jenner Weir höre, das Weibchen seinen Genossen, wenn er krank oder schwach wird.

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232                                  Geschlechtliche Zuchtwahl.                             II. Tlieil.

Stärke und das Kanipivermögen der Männchen zu erhöhen, sondern auch ihre verschiedenen Zierathen oder andere Punkte der Anziehung entwickeln zu lassen.

Tn dem umgekehrten und viel selteneren Falle, wo die Männchen besondere Weibchen auswählen, ist es klar, dass diejenigen, welche die kräftigsten sind und andere besiegt haben, die freieste Wahl haben; und es ist beinahe gewiss, dass sie ebensowohl kräftigere als mit gewissen Anziehungsreizen versehene Weibchen sich wählen werden. Derartige Paare werden bei der Erziehung von Nachkommen einen Vor-theil haben und dies noch besonders, wenn das Männchen die Kraft besitzt, das Weibchen während der Paarungszeit zn vertheidigen, wie es bei einigen der höheren Thiere vorkommt, oder wenn es das Weibchen bei der Sorge um das Junge unterstützt. Dieselben Grundsätze werden gelten, wenn beide Geschlechter gegenseitig gewisse Individuen des andern Geschlechts vorzogen und auswählten, unter der Voraussetzung allerdings, dass sie nicht bloss die mit grösseren Reizen versehenen, sondern gleichfalls auch die kräftigeren Individuen auswählten.

Numerisches Verhältniss der beiden Geschlechter. — Ich habe eben bemerkt, dass geschichtliche Zuchtwahl eine einfache Angelegenheit wäre, wenn die Männchen den Weibchen an Zahl beträchtlich überlegen wären. Ich wurde hierdurch veranlasst, soweit ich es thnn konnte, diu Verhältnisse zwischen den beiden Geschlechtern bei so vielen Thieren als nur möglich zu untersuchen; doch sind die Materialien nur dürftig. Tch will liier nur einen kurzen Abriss der Resultate geben und die Einzelnheiten für eine anhangsweise Erörterung aufbewahren, um hier den Gang meiner Beweisführung nicht zu unterbrechen. Nur domesticirte Thiere bieten die Gelegenheit dar, die proportionalen Zahlen bei der Geburt festzustellen; es sind aber speciell für diesen Zweck keine Berichte abgefasst oder Listen etc. geführt worden. Indessen habe ich auf indirectem Wege eine beträchtliche Menge statistischer Angaben gesammelt, aus denen hervorgeht, dass bei den meisten unserer domesticirten Thiere die Geschlechter bei der Geburt nahezu gleich sind. So sind von Beimpferden während einundzwanzig Jahren 25,560 Geburten registrirt worden, und die männlichen Geburten standen zu den weiblichen in dem Verhältnisse von 99,7 :100. Bei Windspielen ist die Ungleichheit grösser als bei irgend einem anderen Thiere, denn während zwölf Jahren verhielten sich unter 6878

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Cap. 8.                       Zahlcnvcrhültnissc der Geschlechter.                           233

Geburten die männlichen Geburten zu den weiblichen wie 110,1 : 100. Es ist indess in einem ziemlichen Grade zweifelhaft, ob es richtig ist, zu schliessen, dass dieselben proportionalen Zahlen ebenso für die natürlichen Verhältnisse wie für den Zustand der Domestication gelten; denn unbedeutende und unbekannte Verschiedenheiten in den Lebensbedingungen afficiren in einer gewissen Ausdehnung das Verhältniss der beiden Geschlechter zu einander. So verhalten sich in Bezug auf den Menschen die männlichen Geburten in England wie 104,5, in Eussland wie 108,9, und bei den Juden in Livland wie 102 zu hundert weiblichen Geburten. Das Verhältniss wird auch in einer mysteriösen Weise noch durch den Umstand afficirt, ob die Geburten legitim oder illegitim sind.

Für unsern gegenwartigen Zweck haben wir es hier mit dem Verhältnisse der beiden Geschlechter nicht zur Zeit der Geburt, sondern zur Zeit der Reife zu thnn, und dies bringt noch ein anderes Element des Zweifels mit sich. Denn es ist eine sicher bestätigte Thatsache, dass bei dem Menschen ein beträchtlich bedeutenderer Theil von den Männclien vor oder während der Geburt und während der ersten wenigen Jahre der Kindheit stirbt als von den Weibchen. Dasselbe ist fast sicher mit den männlichen Lämmern der Fall und dasselbe dürfte wohl auch für die Männchen anderer Thiere gelten. Die Männchen mancher Thiere tödten einander in Kämpfen oder sie treiben einander herum, bis sie bedeutend abgemagert sind. Sie müssen auch, während sie im eifrigen Suchen nach Weibchen umherwanclern, oft verschiedenen Gefahren ausgesetzt sein. Bei vielen Arten von Fischen sind die Mischen viel kleiner als die Weibchen und man glaubt, dass sie oft von den letzteren oder von anderen Fischen verschlungen werden. Bei manchen Vögeln scheint es, als oh die Weibchen in einem bedeutend grösseren Verhältnisse stürben als die Männehen; auch sind sie einer Zerstörung, während sie auf dem Neste sitzen oder während sie sich um ihre Jungen mühen, sehr ausgesetzt. Bei Insecten sind die weiblichen Larven oft grösser als die männlichen und dürften in Folge dessen wohl häutiger von anderen Thieren gefressen werden. In manchen Fällen sind die reifen Weibchen weniger lebendig und weniger schnell in ihren Bewegungen als die Männchen und werden daher nicht so gut im Stande sein, den Gefahren zu entrinnen. Bei den Thieren im Naturzustande müssen wir uns daher, um über die Verhältnisse der Geschlechter im Ksifezustande uns ein Urtheil zu bilden, auf blosse

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234                                  Geschlechtliche Zuchtwahl.                             II. Theil.

Schätzung verlassen, und diese ist, vielleicht mit Ausnahme der Fülle, wo die Ungleichheit stark markirt ist, nur wenig zuverlässig. Soweit sich aber ein Urtheil bilden lässt, können wir nichtsdestoweniger aus den im Anhange gegebenen Thatsachen schliessen, dass die Männchen einiger weniger Säugethiere, vieler Vögel und einiger Fische und In-secten die Weibchen an Zahl beträchtlich übertreffen.

Das Verliältniss zwischen den Geschlechtern fluetuirt unbedeutend während aufeinanderfolgender Jahre. So variirte bei ltennpferden für je hundert geborener Weibchen die Zahl der Mämiclien von 107,1 in dem einen Jahre bis zn 92,6 in einem andern Jahre, und bei Windspielen von 116,3 zu 95,3. Wären aber Zahlen aus einem noch ausgedehnteren Bezirke als es England ist tabellarisch zusammengestellt worden, so würden wahrscheinlich diese Fluctuationen verschwunden sein; aber auch so wie sie sind dürften sie kaum genügen, um zur Annahme einer wirklichen Thätigkeit der geschlechtlichen Zuchtwahl im Naturzustände zu führen. Nichtsdestoweniger scheinen bei einigen wenigen wilden Thieren, wie im Anhange gezeigt werden wird, die Proportionen eutweder während verschiedener Jahre oder in verschiedenen Oertlichkeiten in einem hinreichend bedeutenden Grade zu schwanken, um zu einer derartigen Wirksamkeit zu führen. Denn man muss beachten, dass irgendwelcher während gewisser Jahre oder in gewissen Oertlichkeiten von denjenigen Männchen erlangte Vortheil, welche im Stande waren, andere Männchen zu besiegen, oder welche für die Weibchen die meiste Anziehungskraft besassen, wahrscheinlich auf deren Nachkommen überliefert und später nicht wieder eliminirt wurde. Wenn während der aufeinanderfolgenden Jahre in Folge der gleichen Zahl der Geschlechter jedes Männchen überall im Stande wäre, sich ein Weibchen zu verschaffen, so würden die kräftigeren oder anziehenderen Männchen, welche früher erzeugt wurden, mindestens ebensoviel Wahrscheinlichkeit haben, Nachkommen zu hinterlassen, als die weniger kräftigen und weniger anziehenden.

Polygamie. — Die Gewohnheit der Polygamie führt zu denselben Kesultaten, welche aus einer factischen Ungleichheit in der Zahl der Geschlechter sich orgeben würden. Denn wenn jedes Mämiclien sich zwei oder mehrere Weibchen verschafft, so werden viele Männchen nicht im Stande sein, sich zu paaren; und zuverlässig werden die letzteren die schwächeren oder weniger anziehenden Individuen sein. Viele Säuge-

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Cap. 8.                                           Polygamie.                                               235

tliiere nnd einige wenige Vögel sind polygam; bei Thieren indessen, welche zu den niederen Classen gehören, habe ich keine Zeugnisse hierfür gefunden. Die intellectuellen Kräfte solcher Tliiere sind vielleicht nicht hinreichend gross, um sie dazu zu führen, einen Harem von Weibchen sich zu sammeln und zu bewachen. Dass irgend eine Beziehung zwischen Polygamie und der Entwickelung seeundärer Sexualcharac-tere existirt, scheint ziemlich sicher zu sein; und dies unterstützt die Ansicht, dass ein numerisches Uebergewicht der Männchen der Thätig-keit geschlechtlicher Zuchtwahl ganz ausserordentlich günstig sein würde. Nichtsdestoweniger bieten viele Tliiere, besonders Vögel, welche ganz streng monogam leben, scharf ausgesprochene seeundäre Sexual-charactere dar, wahrend andrerseits einige wenige Tliiere, welche polygam leben, nicht in dieser Weise ausgezeichnet sind.

Wir wollen zuerst schnell die Glasse der Säugethiere durchlaufen und uns dann zu den Vögeln wenden. Der Gorilla scheint ein Polygamist zu sein, und das Männchen weicht beträchtlich vom Weibchen ab. Dasselbe gilt für einige Paviane, welche in Heerden leben, die zweimal so viele erwachsene Weibchen als Männchen enthalten. In Südamerika bietet der Mijcetes rarai/a gut ausgesprochene geschlechtliche Verschiedenheiten in der Färbung, dem Barte und den Stimmorganen dar; und das Männchen lebt meist mit zwei oder drei Weibchen. Das Männchen des Cebus capucinus weicht etwas von dem Weibchen ab und scheint auch polygam zu sein 5. In Bezug auf die meisten andern Affen ist über diesen Punkt nur wenig bekannt, aber manche Species sind streng monogam. Die Wiederkäuer sind ganz ausserordentlich polygam und sie bieten häufiger geschlechtliche Verschiedenheiten dar, als vielleicht irgend eine andere Gruppe von Säugethieren, besonders in ihren Waffen, aber gleichfalls in anderen Merkmalen. Die meisten hirschartigen, rillderartigen Thicre und Schafe sind polygam, wie es auch die meisten Antilopen sind, obgleich einige der letzteren monogam leben. Sir Andrew Smith erzählt von den Antilopen in Südafrika und sagt, dass in Heerden von ungefähr einem Dutzend selten mehr als ein reifes Männchen sich findet. Die asiatische Antilope Saiya

5 Ueber den Gorilla s. Savage aml Wyman in: Boston Jonrn. of Natur. Hist. Vol. V. 1845—47, p. 423. Ueber Cynocephalns s. Breiini, Illustrirtes Thierleben. Bd. 1. 1864, S. 77. Ueber Mtjcete* s. Rengger, Naturgesch. d. Säugethiere von Paraguay. 1830, S. 14, 20. Ueber Cebus s. Brehm, a. a. 0. S. 108.

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236                                   Geschlechtliche Zuchtwahl.                            II. Theil.

scheint der ausschweifendste Polygamist in der Welt zu sein ; denn Pallas 6 gibt an, dass das Männchen sämmtliche Nebenbuhler forttreibt und eine Heerde von ungefähr Hundert um sich sammelt, welche aus Weibchen und Kälbern besteht. Das Weibchen ist hornlos und hat weichere Haare, weicht aber in anderer Weise nicht viel vom Männchen ab. Das Pferd ist polygam; mit Ausnahme der bedeutenderen Grösse und der Verhältnisse des Körpers weicht aber der Hengst nur wenig von der Stute ab. Der wilde Eber bietet in seinen grossen Hauern und einigen andern Characteren scharf markirte sexuelle Merkmale dar. In Europa und in Indien führt er mit Ausnahme der Brunstzeit ein einsames Lehen, aber um diese Zeit vergesellschaftet er sich in Indien mit mehreren Weibchen, wie Sir W. Elliot annimmt, welcher reiche Erfahrung in der Beobachtung dieses Thieres besitzt. Ob dies auch für den Eber in Europa gilt, ist zweifelhaft, doch wird es von einigen Angaben unterstützt. Der erwachsene männliche indische Elephant bringt, wie der Eber, einen grossen Theil seiner Zeit in Einsamkeit hin; aber wenn er sich mit andern zusammenthut, so findet man, wie Dr. Campbell angibt, „selten mehr als ein Männchen mit „einer grossen Heerde von Weibchen." Die grösseren Männchen treiben die kleineren und schwächeren fort oder tödten sie. Das Männchen weicht vom Weibchen durch seine ungeheuren Stosszähne und bedeutendere Grösse, JTraft und Ausdauer ab. Die Verschiedenheit ist in dieser letzteren Beziehung so gross, dass die Männchen, wenn sie gefangen sind, zwanzig Procent höher geschätzt werden als die Weibchen 7. Bei anderen paehydermen Thieren weichen die Geschlechter sehr wenig oder gar nicht von einander ab, auch sind sie, soweit es bekannt ist, keine Polygamisteri. Kaum eine einzige Species unter den Chiroptern und Edentaten oder aus den grossen Ordnungen der Nage-thiere und Insectenfresser bietet gut entwickelte seeundäre Geschlechtsdifferenzen dar; und mit Ausnahme der gemeinen Satte, von der, wie einige Rattenfänger versichern, die Männchen mit mehreren Weibchen

6  Pallas, Spicilegia Zoologica. Fascic. XII. 1777, p. 29. Sir Andrew Smith, Illustrations of the Zoology of South Africa. 1S49, pl. 29 über den Kohas. Owen gibt in seiner Anatomy of Vertebrates, Vol. III, 1S68, p, 633, eine Tabelle, welche unter Anderem auch zeigt, welche Arten von Antilopen sich paaren und welche in Heerden leben.

7  Dr. Campbell in: Proceed. Zoolog. Soc. 1869, p. 138. s. auch einen interessanten Aufsatz von Lieutenant Johns tone in: Froceed. Asiatic. Soc. in Bengal, May, 1868.

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Cap. 8.                                           Polygamie.                                               237

leben, kann icli keine Angabe dafür finden, dass irgend eine Species polygam lebe.

Wie icli von Sir Andrew Smith höre, lebt der Löwe in Südafrika zuweilen mit einem einzigen Weibchen, meistens aber mit mehr als einem, und in einem Falle fand man, dass er sogar mit fünf Weibchen lebte, so dass er also polygam ist. Er ist, soweit ich es entdecken kann, der einzige Polygamist in der ganzen Gruppe der landbewohnen-den Carnivoren und er allein bietet wohlausgesprochene Sexual-charactere dar. Wenn wir uns indess zu den See-Carnivoren wenden, so stellt sich der Fall sehr verschieden. Denn viele Species von Robben bieten, wie wir hernach sehen werden, ausserordentliche sexuelle Verschiedenheiten dar, und sie sind in eminentem Grade polygam. So besitzt der männliche See-Elephant der Südsee nach der Angabe von Peron stets mehrere Weiber und von dem See-Löwen von Förster sagt man, dass er von zwanzig bis dreissig Weibchen umgeben wird; im Norden begleitet den männlichen See-Bär von Steller selbst eine noch grössere Zahl von AVeibchen.

Was die Vögel betrifft, so sind viele Species, in denen die Geschlechter bedeutend von einander abweichen, sicher monogam. In Großbritannien sehen wir z. B. gut ausgesprochene Verschiedenheiten bei der wilden Ente, welche mit einem einzigen AVeibchen sich paart, bei der gemeinen Amsel und beim Gimpel, von dem man sagt, dass er sich für's Leben paart. Dasselbe gilt, wie Mr. Wallace mitgetheilt hat, für die Cotingiden von Südamerika und zahlreiche andere Vögel. In mehreren Gruppen bin ich nicht im Stande gewesen, ausfindig zu machen, ob die Species polygam oder monogam loben. Lesson sagt, dass die Paradiesvögel, welche wegen ihrer geschlechtlichen Verschiedenheiten so merkwürdig sind, polygam leben; Mr. Wallace zweifelt aber, ober für diese Ansicht hinreichende Belege habe. Mr. Salvin theilt mir mit, er werde zu der Annahme veranlasst, dass die Kolibri's polygam loben. Der männliche Wittwenvogel (Vidua), welcher wegen seiner Schwanzfedern so merkmürdig ist, scheint sicher ein Polygamist zu sein s. Mr. Jenner Weir und Andere haben mir versichert, dass nicht selten drei

8 The Ibis. Vol. III. 1861, p. 133, über den Progne-Wittwenvogel. s. auch über Vidua iktiUaris ebenda. Vol. II. 18G0, p. 211. Ueber die Polygamie des Auerhahns und der grossen Trappe s. L. Lloyd, Game Birds of Sweden. 18G7, p. 19 und 182. Montag« und Selby sprechen vom Birkhuhne als einem polygamen, vom Sclmechulme als einem monogamen Vogel.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Slawe ein und dasselbe Nest frequentiren; ob dies aber ein Fall von Polygamie oder Polyandrie ist, ist nicht ermittelt worden.

Die hühnerartigen Vögel bieten fast ebenso scharf markirte geschlechtliche Verschiedenheiten dar als die Paradiesvögel und Kolibri's, und viele ihrer Arten sind, wie bekannt ist, polygai»; andere dagegen leben in stricter Monogamie. Welchen Contrast bieten die beiden Geschlechter des polygamen Pfauen oder Fasans und des monogamen Perlhuhns oder Kebhuhns dar! Es Messen sich viele ähnliche Fälle noch anführen, wie in der Gruppe der Waldhühner, bei denen die Männchen des polygamen Auerhuhns und des Birkhuhns bedeutend von den Weibchen abweichen, während die Geschlechter des monogamen Moor- und schottischen Schneehuhns nur sehr wenig von einander abweichen. Unter den Laufvögeln bietet keine grosse Zahl von Spccies scharf markirte sexuelle Verschiedenheiten dar, mit Ausnahme der trappenartigen, und man sagt, dass die grosse Trappe (Otis tarda) polygam sei. Unter den Wadvögeln weichen nur äusserst wenige Arten sexuell von einander ab, aber der Kampfläufer (Machetes pvgnax) bietet eine sehr auffallende Ausnahme dar und Montagu glaubt, dass diese Art polygam sei. Es scheint daher, als wenn bei Vögeln oft eine nahe Beziehung zwischen Polygamie und der Entwickelung scharf markirter sexueller Verschiedenheiten bestände. Als ich Mr. Baktlett, welcher über Vögel so bedeutende Erfahrung besitzt, im zoologischen Garten frag, ob der männliche Tragopan (einer der Gallinaceen) polygam sei, überraschte mich seine Antwort: „Ich weiss es nicht, ich sollte es aber „nach seinen glänzenden Farben wohl meinen."

Es verdient Beachtung, dass der Instinct der Paarung mit einem einzigen Weibchen im Zustande der Domestication leicht verloren geht. Die wilde Ente ist streng monogam, die domesticirte Ente stark polygam. Mr. W. D. Fox theilt mir mit, dass bei einigen halb gezähmten Wildenten, welche auf einem grossen Teiche in seiner Nachbarschaft gehalten wurden, so viele Entliehe von den Wildhütern geschossen wurden, dass nur einer für je sieben oder acht Weibchen übrig gelassen wurde, und doch wurden ganz ungewöhnlich grosse Brüten erzogen. Das Perlhuhn lebt in stricter Monogamie. Mr. Fox rindet aber, dass dieser Vogel am besten fortkommt, wenn man auf zwei oder drei Hennen einen Hahn hält9. Die Canarienvögel paaren sich im Natnrzu-

9 E. S. Dixon sagt indessen positiv (Ornamental Poultry, 1S4S, p. 7G), dass

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Cap. 8.                                          Polygamie.                                                239

stände; aber die Züchter in England bringen mit vielem Erfolge nur ein Männchen zu vier oder fünf Weibchen. Nichtsdestoweniger wird, wie dem Mr. Fox versichert worden ist, nur das erste Weibchen als das eigentliche Weib behandelt, nur dieses und seine Jungen werden von den Männchen gefüttert; die andern werden als Concubinen behandelt. Ich habe diese Fälle angeführt, da sie es in ziemlichein Grade wahrscheinlich machen, dass im Naturzustande monogame Arten sehr leicht entweder zeitweise oder beständig polygam werden können.

In "Bezug auf die Reptilien und Fische muss bemerkt werden, dass zu wenig von ihrer Lebensweise bekannt ist, um uns in den Stand zu setzen, von ihren Hochzeitsarrangements zu sprechen. Man sagt in-dess, dass der Stichling (Gasterosteits) ein Polygamist sei 10, und das Männehen weicht während der Brütezeit auffallend vom Weibchen ab.

Fassen wir nun die Mittel zusammen, durch welche, soweit wir es beurtheilen können, die geschlechtliche Zuchtwahl zur Entwiekelung seeuudärer Sexualeharactere geführt hat. Es ist gezeigt worden, dass die grösste Zahl kräftiger Nachkommen durch die Paarung der kräftigsten und am besten bewaffneten Männehen, welche andere Männchen besiegt haben, mit den kräftigsten und am besten ernährten Weibchen, welche im Frühjahr am ersten zur Brut bereit sind, erzogen wird. Wenn sich derartige Weibehen die anziehenderen und gleichzeitig auch kräftigeren Männehen auswählen, so werden sie eine grössere Zahl von Nachkommen aufbringen als die übrig gebliebenen Weibchen, welche sieh mit den weniger kräftigen und weniger anziehenden Männchen paaren müssen. Dasselbe wird eintreten, wenn die kräftigeren Männchen die mit grösserer Anziehungskraft versehenen und zu derselben Zeit gesünderen und kräftigeren Weibchen auswählen; und besonders wird dies gelten, wenn das Männchen das Weibchen vertheidigt und es bei der Beschaffung von Nahrung für die Jungen unterstützt. Der in dieser Weise von den kräftigeren Paaren beim Aufziehen einer grösseren Anzahl von Nachkommen erlangte Vortheil hat allem Anscheine nach hingereicht, geschlechtliche. Zuchtwahl in Thätigkeit treten zu lassen. Aber ein grosses Uebergewieht an Zahl seitens der Männchen über die Weibchen würde noch wirksamer sein: — mag das Uebergewieht nur gelegentlich und local oder bleibend sein, mag es zur Zeit

die Eier des Perlhuhns unfruchtbar seien, wenn man mehr als ein Weibchen mit einem Männchen halte.

10 Noel Hiunphreys, River Gardens, 1857.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

der Geburt oder später in Folge der bedeutenderen Zerstörung der Weibchen eintreten, oder mag es indirect ein Resultat eines polygamen Lebens sein.

Das Männchen allgemein mehr modifieirt als das Weibchen. — Wenn die beiden Geschlechter von einander in der äusseren Erscheinung abweichen, so ist es durch das ganze Thierreich hindurch das Männchen, welches, mit seltenen Ausnahmen, hauptsächlich modifieirt worden ist; denu das Weibchen bleibt den Jungen seiner eigenen Species und ebenso auch den andern Gliedern derselben Gruppe ähnlicher. Die Ursache hiervon scheint darin zu liegen, dass die Männchen beinahe aller Thiere stärkere Leidenschaften haben als die Weibchen. Daher sind es die Männchen, welche mit einander kämpfen und eifrig ihre Reize vor den Weibchen entfalten ; und diejenigen, welche siegreich aus solchen Streiten hervorgehen, überliefern ihre Superiorität ihren männlichen Nachkommen. Warum die Männchen ihre Merkmale nicht auf beide Geschlechter vererben, wird hernach betrachtet werden. Dass die Männchen aller Säugethiere begierig die Weibchen verfolgen, ist allgemein bekannt. Dasselbe gilt für die Vögel. Aber viele männliche Vögel verfolgen nicht sowohl die Weibchen, als entfalten auch ihr Gefieder, führen fremdartige Gesten auf und lassen ihren Gesang erschallen in Gegenwart der Weibchen. Bei den wenigen Fischen, welche beobachtet worden sind, scheint das Männchen viel eifriger zu sein als das Weibchen; und dasselbe ist bei Alligatoren und, wie es scheint, auch bei Batrachiern der Fall. Durch die ungeheure Classe der Insecten hindurch herrscht, wie Kirby bemerkt11, »das Gesetz, dass das Männchen das „Weibchen aufzusuchen hat." Wie ich von zwei bedeutenden Autoritäten, Mr. Blackwall und Mr. C. Spekce Bäte, höre, sind unter den Spinnen und Crustaceen die Männchen lebendiger und in ihrer Lebensweise herumschweifender als die AVeibcheu. Wenn bei Insecten und Crustaceen die Sinnes- oder Locomotionsorgane in dem einen Geschlechte vorhanden sind, in dem andern dagegen fehlen, oder wenn sie, wie es häufig der Fall ist, in dem einen Geschlechte höher entwickelt sind als in dem andern, so ist es beinahe unabänderlich, soweit ich es nachweisen kann, das Männchen, welches derartige Organe behalten oder dieselben am meisten entwickelt hat, und dies zeigt, dass das Mäun-

11 Kirby aud Spence, Iiitroduction to Eiitoinology. Vol. III. 1826, p. 342.

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Cap. 8.                           Das Männchen mehr modificirt.                                241

chen während der Bewerbung der beiden Geschlechter der lebendigere Theil ist 12.

Das Weibchen ist andererseits mit sehr seltenen Ausnahmen weniger begierig als das Männchen. Wie der berühmte Hunter 13 schon vor langer Zeit bemerkte, verlangt es im Allgemeinen geworben zu werden; es ist spröde, und man kann oft sehen, dass es eine Zeit lang den Versuch macht, dem Männchen zu entrinnen. Jeder, der nur die Lebensweise von Thieren aufmerksam beobachtet hat, wird im Stande sein, sich Beispiele dieser Art in's Gedächtnis? zurückzurufen. Nach verschiedenen später mitzuteilenden Thatsachen zu urtheilen und nach den Resultaten, welche getrost der geschlechtlichen Zuchtwahl zugeschrieben werden können, übt das Weibchen, wenn auch vergleichsweise passiv, allgemein eine gewisse Wahl aus und nimmt ein Männchen im Vorzug vor andern an. Oder wie die Erscheinungen uns zuweilen zu glauben veranlassen dürften: es nimmt nicht dasjenige Männchen, welches ihm das anziehendste war, sondern dasjenige, welches ihm am wenigsten zuwider war. Das Ausüben einer gewissen Wahl von Seiten des Weibchens scheint ein fast so allgemeines Gesetz wie die Begierde des Männchens zu sein.

Wir werden natürlich veranlasst, zu untersuchen, warum das Männchen in so vielen- und so weit von einander verschiedenen Gassen gieriger als das Weibchen geworden ist, so dass es das Weibchen aufsucht und den lebendigeren Theil bei der ganzen Bewerbung darstellt. Es würde kein Vortheil und sogar etwas Verlust an Kraft sein, wenn beide Geschlechter gegenseitig einander suchen sollten. Warum soll aber fast immer das Männchen der suchende Theil sein? Bei Pflanzen müssen die Eichen nach der Befruchtung eine Zeit lang ernährt werden, daher wird der Pollen nothwendig zu den weiblichen Organen hingebracht, er wird auf die Narbe entweder durch die Thätigkeit der In-

12  Ein parasitisches Insect aus der Ordnung der Hymcnopteren bietet (vergl. Westwood, Modern Classific. of Inseots, Vol. II, p. 16Ü) eine Ausnahme von dieser Regel dar, da das Männchen rudimentäre Flügel hat und niemals die Zelle, in welcher es geboren wurde, verlässt, während das Weibchen gut entwickelte Flügel besitzt. Audouin glaubt, dass die Weihchen von den Männchen befruchtet werden, welche mit ihnen in derselben Zelle geboren werden; es ist aber viel wahrscheinlicher, dass die Weibihen andere Zellen besuchen und dadurch nahe Inzucht vermeiden. Wir werden später einigen wenigen exceptionelleu Fällen aus verschiedenen Classen begegnen, wo das Weibchen anstatt des Männchens der aufsuchende und werbende Theil ist.

13  Essays and Observations, edited bei Owen. Vol. I. 1861. p. 104.

Imiiwin, Alistaiimiuui'. 1. Ztvoito Auflage.                                                   10

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

secten oder des Windes oder durch die eigenen Bewegungen der Staubfäden gebracht. Bei den Algen und anderen Pflanzen geschieht dies sogar durch die locomotive Fähigkeit der Antherozoiden. Bei niedrig organisirten Thieren, welche beständig an einem und demselben Orte befestigt sind und getrennte Geschlechter haben, wird das männliche Element unabänderlich zum Weibchen gebracht, und wir können hiervon auch die Ursache einsehen; denn die Eier, selbst wenn sie sich vor ihrer Befruchtung lösten und keiner späteren Ernährung oder Beschützung bedürften, könnten wegen ihrer relativ bedeutenderen Grösse weniger leicht transportirt werden als das männliche Element. Daher sind die Verhältnisse bei Pflanzen 14 und vielen der niederen Thiere in dieser Beziehung analog. Da die Männchen fest angehefteter Thiere dadurch veranlasst wurden, ihr befruchtendes Element auszustossen, so ist es natürlich, dass diejenigen ihrer Nachkommen, welche sich in der Stufenleiter erhoben und die Fähigkeit der Ortsbewegung erlangten, dieselbe Gewohnheit beibehielten und sich den Weibchen bedeutend näherten, damit das befruchtende Element nicht der Gefahr eines langen Weges durch das Wasser des umgebenden Meeres ausgesetzt würde. Bei einigen wenigen der niederen Thiere sind die Weibchen allein festgeheftet und in diesen Fällen müssen die Männchen der suchende Theil sein. In Bezug auf Formen, deren TJrerzeuger ursprünglich freilebend waren, ist es schwer zu verstehen, warum unabänderlich die Männchen die Gewohnheit erlangt haben, sich den Weibchen zu nähern, anstatt von ihnen aufgesucht zu werden. In allen Fällen würde es aber, damit.die Mäunchen erfolgreich Suchende werden, nothwendig sein, dass sie mit starken Leidenschaften begabt würden; die Erlauguug solcher Leidenschaften würde eine natürliche Folge davon sein, dass die begierigeren Männchen eine grössere Zahl von Nachkommen hinterliessen als die weniger begierigen.

Die grössere Begierde des Männchens hat somit iudirect zu der viel häufigeren Entwickeluug seeundärer Sexualcharactere beim Männchen als beim Weibchen geführt. Aber die Entwickeluug solcher Charactere wird auch, wenn die Schlussfolgerung, zu welcher ich nach meinem Studium der domesticirten Th iere. gelangt bin, zuverlässig ist,

14 Prof. Sachs (Lehrbuch der Botanik, 1870, S. G33) bemerkt bei der Schilderung der männlichen und weiblichen reproduktiven Zellen: es „verhält sich die eine bei der Vereinigung activ, .... die andere erscheint hei der Vereinigung passiv."

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Cap. 8.                            Das Männchen mein- inodificirt.                               243

noch durch einen andern Umstand bedeutend unterstützt werden, dadurch nämlich, dass das Männchen viel häufiger variirt als das Weibchen. Tch weiss sehr wohl, wie schwierig es ist, eine Schlussfolgerimg dieser Art zu verificireu. Einige nicht sehr gewichtige Zeugnisse kann man indessen durch eine Vergleichung der beiden Geschlechter des Menschen erlangen, da der Mensch viel sorgfältiger beobachtet worden ist, als irgend ein anderes Thier. Während der Novara-Expedition lä wurde eine ungeheure Zahl von Messungen der verschiedenen Körper-theile bei verschiedenen Kassen angestellt; und dabei wurde gefunden, dass die Männer in beinahe allen Fällen eine grössere Breite der Variation darboten als die Weiber. Ich werde aber auf diesen Gegenstand in einem späteren Capitel zurückzukommen haben. Mr. J. Wood i6, welcher die Abänderungen der Muskeln beim Menschen sorgfältig verfolgt hat, druckt die Schlussfolgerung gesperrt, dass „die grösste Zahl „von Abnormitäten an einem einzelnen Leichnam bei den Männern gebunden wird". Er hatte vorher bemerkt, dass „im Ganzen unter „hundertundzwei Leichnamen die Varietäten mit überzähligen Bildungen „ein halb Mal häufiger bei Männern vorkommen als bei Frauen, was „sehr auftauend gegen die grössere Häufigkeit von Varietäten mit Fehlen gewisser Theile bei Weibern contrastirt, was vorhin besprochen „wurde." Professor Macalistek bemerkt gleichfalls n, dass Variationen in den Muskeln „wahrscheinlicher bei Männern häufiger sind als hei „Weibern." Gewisse Muskeln, welche normal beim Menschen nicht vorhanden sind, finden sich auch häufiger beim männlichen Geschlechte entwickelt als beim weiblichen, obgleich man annimmt, dass Ausnahmen von dieser Begel vorkommen. Dr. Bukt Wilder '" hat hundertzwei-undfünfzig Fälle von der Entwickelnng überzähliger Finger in Tabellen gebracht. Von diesen Individuen waren 86 männliche und 39, oder weniger als die Hälfte, weibliche, während die übrigbleibenden siebenundzwanzig in Bezug auf ihr Geschlecht unbekannt waren. Man darf indess nicht übersehen, dass Frauen häufiger wohl versuchen dürften,

15  Reise der Xovara: Anthropologischer Theil. ISG7, S. 210, 2G9. Die Re. sultate wurden nach den von K. Scherz er und Schwarz ausgeführten Messungen berechnet von Dr. Weisbach. lieber die grössere Variabilität der Männchen bei domesticirten Thieron s. mein „Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication." Bd. 2, S. 98.

16  Proceedings of the Royal Society. Vol. XVI. July 18G8, p. 519, 021. " Proceed. Royal Irish Academy. Vol. X. 1808, p. 123.

18 Massachusetts Medical Society. Vol. II. Xo. 3. 1868, p. 9.

16*

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244                                   Geschlechtliche Zuchtwahl.                            II. Theil.

eine Missbildung dieser Art zu verheimlichen, als Männer. Ob die ver--. hältnissmässig grosse Zahl von Todesfällen unter den männliehen Nachkommen des Menschen und allem Anscheine nach auch der Schafe vor, während und kurz nach der Geburt im Vergleich mit der Zahl der Todesfälle unter den weiblichen Nachkommen (s. Anhang) irgend eine Beziehung zu einer stärkeren Neigung seitens der Organe des Männchens zu variiren und daher in der Structur oder Function abnorm zu werden hat, darüber will ich nicht wagen, auch nur eine Vermuthung zu äussern.

In verschiedenen Classen des Thierreichs kommen einige wenige ausnahmsweise Fälle vor, in welchen das Weibchen statt des Männchens gut ausgesprochene seeundäre Sexualcharactere erlaugt hat, wie z. 15. glänzendere Farben, bedeutendere Grösse, Kraft oder Kampflust. Wie wir hernach sehen werden, findet sich bei Vögeln zuweilen eine vollständige Transposition der jedem Geschlechte gewöhnlich eigenen Charactere; die Weibchen sind in ihren Bewerbungen viel gieriger geworden, die Männchen bleiben vergleichsweise passiv, wählen aber doch, wie es scheint und wie man nach den Kesultaten wohl schliessen darf, sich die anziehendsten Weibchen aus. Hierdurch sind gewisse weibliche Vögel lebhafter gefärbt oder in anderer Weise auffallender verziert, sowie kräftiger und kampflustiger geworden als die Männchen, und es werden dann auch diese Charactere nur den weiblichen Nachkommen überliefert.

Man könnte vermuthen, dass in einigen Fällen ein doppelter Vorgang der Zuchtwahl stattgefunden habe, dass nämlich die Männchen die anziehenderen Weibchen und die letzteren die anziehenderen Männchen sich ausgewählt haben. Doch würde dieser Process, wenn er auch zur Modificatiou beider Geschlechter führen könnte, doch nicht das eine Geschlecht vom andern verschieden machen, wenn nicht geradezu ihr Geschmack für das Schöne ein verschiedener wäre. Dies ist indess für alle Thiere, mit Ausnahme des Menschen, eine zu unwahrscheinliche Annahme, als dass sie der Betrachtung werth wäre. Es gibt jedoch viele Thiere, bei denen die Geschlechter einander ähnlich sind, bei denen beide mit denselben Ornamenten ausgerüstet sind, welche der Thätig-keit der geschlechtlichen Zuchtwahl zuzuschreiben uns wohl die Analogie veranlassen könnte. In solchen Fällen dürfte mit grösserer Wahrscheinlichkeit vermutliet werden, dass ein doppelter oder wechselseitiger Process geschlechtlicher Zuchtwahl eingetreten war. Die

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Cap. 8.                             Das Männchen mehr mortificirt.                              245

stärkeren und früher reifen Weibchen würden die anziehenderen und kräftigeren Männchen gewählt, und die letzteren alle Weibchen mit Ausnahme der anziehenderen zurückgewiesen haben. Nach dem aber, was wir von der Lebensweise der Thiere wissen, ist diese Ansicht kaum wahrscheinlich, da das Männchen allgemein begierig ist, sich mit irgend einem Weibclien zu paaren. Es ist wahrscheinlicher, dass die, beiden Geschlechtern gemeinsam zukommenden Zierden von einem Geschlechtc, und zwar im Allgemeinen dem männlichen, erlangt und dann den Nachkommen beider Geschlechter überliefert wurden. In der That, wenn während einer langdauernden Periode die Männchen irgend einer Spe-cies bedeutend die Weibclien an Zahl überträfen und dann während einer gleichfalls lange andauernden Periode unter verschiedenen Lebensbedingungen das Umgekehrte einträte, so könnte leicht ein doppelter aber nicht gleichzeitiger Process der geschlechtlichen Zuchtwahl in Thätigkeit treten, durch welchen die beiden Geschlechter sehr von einander verschieden gemacht würden.

Wir werden später sehen, dass viele Thiere existiren, bei denen weder das eine, noch das andere Geschlecht brillant gefärbt oder mit speciellen Zierathen versehen ist, und bei denen doch die Individuen beider Geschlechter oder nur des einen wahrscheinlich durch geschlechtliche Zuchtwahl modificirt wrorden sind. Die Abwesenheit glänzender Farben oder anderer Zierathen kann das Resultat davon sein, dass Abänderungen der richtigen Art niemals vorgekommen sind oder dass die Thiere selbst einfache Farben, wie schlichtes Schwarz oder Weiss, vorziehen. Düstere Farben sind oft durch natürliche Zuchtwahl zum Zweck des Schutzes erlangt worden, und die Entwicklung auffallenderer Farben durch geschechtliche Zuchtwahl kann durch die damit verbundene Gefahr oft gehemmt worden sein. In andern Fällen aber haben die Männchen wahrscheinlich lange Zeit hindurch mit einander gekämpft, entweder durch rohe Gewalt oder durch die Entfaltung ihrer Reize oder durch beide Mittel in Verbindung; und doch wird keine Wirkung erreicht worden sein, wenn nicht eine grössere Zahl von Nachkommen von den erfolgreicheren Männchen zur weiteren Vererbung ihrer Superiorität hinterlassen worden ist, als von den weniger erfolgreichen Männchen; und dies hängt, wie früher gezeigt wurde, von verschiedenen complicirten Zufälligkeiten ab.

Geschlechtliche Zuchtwahl wirkt in einer weniger rigorosen Weise als natürliche Zuchtwahl. Die Letztere erreicht ihre Wirkungen durch

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246

G eschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

das Leben oder den Tod, auf allen Altersstufen, der mehr oder weniger erfolgreichen Individuen. Ln der That folgt zwar der Tod auch nicht selten dem Streite rivalisirender Männchen. Aber allgemein gelingt es nur dem weniger erfolgreichen Männchen nicht, sich ein Weibchen zu verschaffen, oder dasselbe erlangt später in der Jahreszeit ein übriggebliebenes und weniger kräftiges Weibchen, oder erlangt, wenn die Art polygam ist, weniger Weibchen, so dass es weniger oder minder kräftige oder gar keine Nachkommen hinterlässt. Was die Structur-verhältnisse betrifft, welche durch gewöhnliche oder natürliche Zuchtwahl erlangt werden, so findet sich in den meisten Fällen, solange die Lebensbedingungen dieselben bleiben, eine Grenze, bis zu welcher die vortheilhaften Modificationeii in Bezug auf gewisse specielle Zwecke sich steigern können. Was aber die Structurverhältnisse betrifft, welche dazu führen, das eine Männchen über das andere siegreich zu machen, sei es im directen Kampfe oder im Gewinnen des Weibchens durch allerhand Reize, so findet sich für den Betrag vortheühafter Modificationeii keine bestimmte Grenze, so dass die Arbeit der geschlechtlichen Zuchtwahl so lange fortgehen wird, als die gehörigen Abänderungen auftreten. Dieser Umstand kann zum Theil den häufig ausserordentliclien Betrag von Variabilität erklären, welchen die secundären Geschlechts-charactere darbieten. Nichtsdestoweniger wird aber die natürliche Zuchtwahl immer entscheiden, dass die siegreichen Männchen keine Charactere solcher Art erlangen, welche für sie in irgend hohem Grade schädlich sein würden, sei es dass zu viel Lebenskraft auf dieselben verwendet würde oder dass die Thiere dadurch irgend grossen Gefahren ausgesetzt würden. Es ist indess die Entwicklung gewisser solcher Bildungen — z. B. des Geweihes bei manchen Hirscharten — bis zu einem wunderbaren Extreme geführt worden und in manchen Fällen bis zu einem Extreme, welches, soweit die allgemeinen Lebensbedingungen in Betracht kommen, für das Männchen von nicht unbedeutendem Nachtheile sein muss. Aus dieser Thatsache lernen wir, dass die Vortheile, welche die begünstigten Männchen aus dem Siege über andere Männchen im Kampfe oder in der Bewerbung erlangt haben, wodurch sie auch in den Stand gesetzt wurden, eine zahlreichere Nachkommenschaft zu hinterlassen, auf die Länge bedeutender gewesen sind als diejenigen, welche aus einer vollkommeneren Anpassung an die äusseren Lebensbedingungen resultiren. Wir werden ferner sehen, und dies hätte sich niemals voraus erkennen lassen, dass das Vermögen, das Weibchen durch Reize

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Cup. 8.                                 Gesetze der Vererbung.                                     247

zu fesseln, in einigen wenigen Fällen von grösserer Bedeutung gewesen ist als das Vermögen, andere Männchen im Kampf zu besiegen.

Gesetze der Vererbung.

Um zu verstehen, in welcher Weise geschlechtliche Zuchtwahl gewirkt und im Laufe der Zeit auffallende Resultate bei vielen Thieren vieler Classen hervorgebracht hat, ist es nothwendig, die Gesetze der Vererbung, soweit dieselben bekannt sind, im Geiste gegenwärtig zu halten. Zwei verschiedene Elemente werden unter dem Ausdrucke „Vererbung" begriffen, nämlich die Ueberlieferung und die Entwicklung von Characteren. Da aber diese meistens Hand in Hand gehen, wird die Unterscheidung oft übersehen. Wir sehen diese Verschiedenheit an denjenigen Merkmalen, welche in den früheren Lebensaltern überliefert werden, welche aber erst zur Zeit der Keife oder während des höheren Alters entwickelt werden. Wir sehen denselben Unterschied noch deutlicher bei seeundären Sexualcharacteren; denn diese werden durch beide Geschlechter hindurch vererbt und doch nur in dem einen allein entwickelt. Dass sie in beiden Geschlechtern vorhanden sind, zeigt sich offenbar, wenn zwei Species, welche scharf niarkirte sexuelle Merkmale besitzen, gekreuzt werden. Denn eine jede überliefert die ihrem männlichen und weiblichen Geschlechte eigenen Charactere auf die Bastard-nachkommen beider Geschlechter. Dieselbe Thatsache wird offenbar, wenn Charactere, welche dem Männchen eigen sind, gelegentlich beim Weibchen sich entwickeln, wenn dieses alt und krank wird; und dies gilt auch umgekehrt für das Männchen. Ferner erscheinen gelegentlich Merkmale, als seien sie von dem Männchen auf das Weibchen übertragen : so z. B. wrenn in gewissen Hühnerrassen Sporne regelmässig bei den jungen und gesunden Weibchen auftreten; in Wahrheit haben sie sich aber nur einfach beim Weibchen entwickelt. Denn in jeder Brut wird jedes Detail der Structur des Spornes durch das Weibchen hindurch auf dessen männliche Nachkommen vererbt. In allen Fällen von Rückschlag werden Charactere durch zwei, drei oder viele Generationen hindurch vererbt und dann unter gewissen unbekannten günstigen Bedingungen entwickelt. Diese bedeutungsvolle Unterscheidung zwischen Ueberlieferung und Entwickelung wird am leichtesten im Sinne behalten werden mit Hülfe der Hypothese der Pangenesis, mag man dieselbe nun als wahr annehmen oder nicht. Dieser Hypothese zu Folge stösst jede Einheit oder Zelle des Körpers Keimchen oder Entwickelungsatome ab,

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248                                   Geschlechtliche Zuchtwahl.                            II. Theil.

welche den Nachkommen beider Geschlechter überliefert werden und sich durch Selbsttheilung vervielfältigen. Sie können während der früheren Lebensjahre oder während aufeinanderfolgender Generationen unentwickelt bleiben: ihre Entwickelung zu kleinsten Einheiten oder Zellen, die denen gleichen, von welchen sie selbst herrühren, hängt von ihrer Verwandtschaft oder Vereinigung mit andern Einheiten oder Zellen ab, die sicli vor ihnen im gesctzmässigen Gange des Wachsthums entwickelt haben.

Vererbung auf entsprechenden Perioden des Lebens. — Die Neigung hierzu ist eine sicher ermittelte Thatsache. "Wenn ein neues Merkmal an einem Thiere auftritt, so lange es jung ist, mag dasselbe nun während des ganzen Lebens bestehen bleiben oder nur eine Zeit lang währen, so wird es der allgemeinen Regel nach in demselben Alter und in derselben Art und Weise auch bei den Nachkommen wiedererscheinen. Wenn auf der anderen. Seite ein neuer Cbaracter im Alter der Reife erscheint oder selbst während des hohen Alters, so neigt er dazu, bei den Nachkommen in demselben vorgeschrittenen Alter wiederzuerscheinen. Treten Abweichungen von dieser Regel auf, so erscheinen die überlieferten Charactere viel häufiger vor als nach dem entsprechenden Alter. Da ich diesen Gegenstand mit hinreichender Ausführlichkeit in einem anderen Werke ,9 erörtert habe, so will ich hier nur zwei oder drei Beispiele anführen, um den Gegenstand in das Gedächtniss des Lesers zurückzurufen. Bei mehreren Hühnerrassen weichen die Hühnchen, während sie noch mit dem Dunenkleide bedeckt sind, dann die jungen Vögel in ihrem ersten wirklichen Gefieder und auch die Hühner in ihrem erwachsenen Federkleide bedeutend von einander, ebenso wie von ihrer gemeinsamen elterlichen Form, dem Gallas bankica, ab; und diese Charactere werden von jeder Zucht ihren Nachkommen zu den entsprechenden Lebensaltern treu überliefert. So haben z. B. die Hühnchen der gefütterten (Spangled) Hamburger, so lange sie mit Dunen bekleidet sind, einige wenige dunkle Flecke auf dem Kopfe und am Rumpfe, sind aber nicht längsweise gestreift, wie in vielen anderen Zuchten; in ihrem ersten wirklichen Gefieder sind sie „wunder-

' Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 2, S. 99. In dem vorletzten Capitel desselben Bandes ist die oben erwähnte provisorische Hypothese der Pangenesis ausführlich erörtert worden.

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Cap. 8.                                 Gesetze der Vererbung.                                      249

„voll gestrichelt", d. h. jede Feder ist von zahlreichen dunklen Strichen quer gezeichnet; aber in ihrem zweiten Gefieder werden die Federn alle gefüttert, d. h. erhalten einen dunklen runden Fleck an der Spitze 20. Es sind daher in dieser Zucht in drei verschiedenen Lebensperioden Abänderungen aufgetreten und sind dann überliefert worden. Die Taube bietet einen noch merkwürdigeren Fall dar, da die ursprüngliche elterliche Species mit Vorschrciten des Alters keine Veränderung des Gefieders erleidet, ausgenommen, dass zur Zeit der Keife die Brust mehr iridescirt. Und doch gibt es Rassen, welche ihre characteristischen Farben nicht eher erlangen, als bis sie sich zwei-, drei- oder viermal gemausert haben; und diese Modifikationen des Gefieders werden regelmässig vererbt.

Vererbung zu entsprechenden Jahreszeiten. — Bei Thieren im Naturzustände kommen zahllose Beispiele vor, dass Merkmale zu verschiedenen Zeiten des Jahres periodisch erscheinen. Wir sehen dies an dem Geweihe der Hirsche und dem Pelzwerke arctischer Thiere, welches während des Winters dick und weiss wird. Zahlreiche Vögel erlangen allein während der Brutzeit glänzende Farben und andere Zierden. Tch kann auf diese Form von Vererbung von den an Thieren im domesticirten Zustande gemachten Beobachtungen aus nur wenig Licht werfen. Pallas gibt an'-', dass in Sibirien die domesticirten Rinder und Pferde während des Winters periodisch heller gefärbt werden, und ich habe eine ähnliche auffallende Veränderung der Farbe bei gewissen Tonies in England beobachtet. Obgleich ich nicht weiss, dass diese Neigung, ein verschieden gefärbtes Kleid während verschiedener Jahreszeiten anzunehmen, vererbt wird, so ist dies doch wahrscheinlich der Fall, da alle Farbenscbattirungeu vom Pferde streng vererbt werden. Auch ist diese durch die Jahreszeit bestimmte Ver-

20 Diese Thatsacheu sind nach der Lohen Autorität eines grossen Züchters, Mr. Teebay, in Tegetmeier's Poultry Book, 1868, p. 158 mitgetheilt. Ueber die Charactere von Hühnchen verschiedener Kassen und über die Rassen der Tauben, welche oben erwähnt werden, s. das Variiren der Thiere und Pflanzen u. s. w. Bd. 1, S. 100, 308. Bd. 2, 101.

11 Novae species Qnadrupedum e Glirium online. 1778, p. 7. Ueber die Vererbung der Farbe bei Pferden s. Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Znstande der Domestiration Bd. 1, S. 63. Vergl. auch in demselben Buche Bd. 2, S. Ol eine allgemeine Erörterung über die durch das Geschlecht beschränkte Vererbung.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

erbung nicht merkwürdiger als eine durch Alter oder Geschlecht beschränkte.

Vererbung durch d a s G e s c h 1 c c li t beschränkt. — Die gleiclimässigc Ueberlieferung von Clraractcrcn auf beide Geschlechter ist die häufigste Form der Vererbung, wenigstens bei denjenigen Thicren, welche keine stark markirten geschlechtlichen Verschiedenheiten darbieten und in der That auch bei vielen mit solchen. Es werden aber nicht selten Charactere ausschliesslich auf dasjenige Geschlecht vererbt, bei welchem sie zuerst erschienen. Hinreichende Belege über diesen Punkt sind in meinem Werke über, das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication' mitgetheilt worden; ich will aber auch hier ein paar Beispiele anführen. Es gibt Passen vom Schafe und der Ziege, bei denen die Hörner des Männchens bedeutend in der Form von denen des Weibchens abweichen ; und diese im Zustande der Domestication erlangten Verschiedenheiten werden regelmässig auf dasselbe Geschlecht wieder überliefert. Bei weiss, braun und schwarz gefleckten Katzen (,tortoise-shellk) sind der allgemeinen Regel zufolge nur die Weibchen so gefärbt, wogegen die Männchen rostroth sind. Bei den meisten Hühnerrassen werden die jedem Gesclilechtc eigenen Charactere nur auf dieses selbe Geschlecht vererbt. Diese Form der Ueberlieferung ist so allgemein, dass es eine Anomalie ist, wenn wir bei gewissen Kassen Variationen gleichmässig auf beide Geschlechter vererbt sehen. So gibt es auch gewisse Unterrassen von Hühnern, bei welchen die Männchen kaum von einander unterschieden werden können, während die Weibchen beträchtlich in der Färbung abweichen. Bei der Taube sind die Geschlechter der elterlichen Species in keinem äusseren Cha-racter von einander verschieden; nichtsdestoweniger ist bei gewissen domesticirten Rassen das Männchen vom Weibchen verschieden gefärbt 2'2. Die Fleischlappen bei der englischen Botentaube und der Kropf bei der Kropftaube sind beim Männchen stärker entwickelt als beim Weibchen; und ohschon diese Charactere durch lange fortgesetzte Zuchtwahl seitens des Menschen erlangt worden sind, so ist doch die Verschiedenheit zwischen den beiden Geschlechtern gänzlich Folge der Form von Vererbung, welche liier geherrscht hat. Denn sie sind nicht

'" Dr. Chapuis, Le Pigeon Voyageur Beige. 18G5, p. 87. Boitard "et Corbie, Les Pigeons de Voliere etc. 1824, p. 173.

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Cap. 8.

Gesetze der Vererbung..

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in Folge der Wünsche des Züchters, sondern eher gegen diese Wünsche aufgetreten.

Die meisten unserer domesticirten Rassen sind durch die Anhäufung vieler unbedeutender Abänderungen gebildet worden; und da einige der aufeinanderfolgenden Stufen nur auf ein Geschlecht, einige auf beide Geschlechter überliefert worden sind, so finden wir in den verschiedenen Kassen einer und derselben Species alle Abstufungen zwischen bedeutender sexueller Verschiedenheit und vollständiger Aehnlichkeit. Es sind bereits Beispiele angeführt worden von den Rassen des Huhns und der Taube, und im Naturzustände sind analoge Fälle von häufigem Vorkommen. Bei Thieren im Zustande der Domestication, ob aber auch im Naturzustande will ich nicht zu sagen wagen, kann das eine Geschlecht ihm eigenthiimliclie Charactere verlieren und hierdurch dazu kommen, dass es in einer gewissen Ausdehnung dem andern Geschlcchte ähnlich wird; z.B. haben die Männchen einiger Hühnerrassen ihre männlichen Schwanz- und Sichelfedcrn verloren. Auf der andern Seite können aber auch die Verschiedenheiten zwischen den Geschlechtern im Zustande der Domestication erhöht werden, wie es beim Merinoschafe der Fall ist, wo die Mutterschafe die Hörner verloren haben. Ferner können Charactere, welche dem einen Geschlechte eigen sind, plötzlich beim anderen erscheinen, wie es bei den Unterrassen des Huhnes der Fall ist, bei denen die Hennen, während sie noch jung sind, Sporne erhalten, oder, wie es bei den Unterrassen der polnischen Hühner sich findet, bei denen, wie man wohl anzunehmen Grund hat, ursprünglich zuerst die Weibchen eine Federkrone erhielten und sie später auf die Männchen vererbten. Alle diese Fälle sind unter Annahme der Hypothese der Pangenesis verständlich; denn sie hängen davon ab, dass die Keimchen gewisser kleinster Einheiten des Körpers, trotzdem sie in beiden Geschlechtern vorhanden sind, doch durch den Einfluss der Domestication in dem einen Geschlechte ruhend erhalten werden oder, wenn sie ihrer Natur nach ruhen, zur Entwickelung gebracht werden.

Es findet sich hier noch eine schwierige Frage, welche passender auf ein späteres Capitel verschoben werden mag, nämlich ob ein ursprünglich in beiden Geschlechtern entwickelter Character durch Zuchtwahl in seiner Entwickelung auf ein Geschlecht allein beschränkt werden kann. Wenn z. B. ein Züchter beobachtete, dass einige seiner Tauben (bei welcher Species Charactere gewöhnlich in gleichem Grade auf beide Geschlechter überliefert werden) in ein blasses Blau variirten, kann er

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

IL Theil.

dann durch lange fortgesetzte Zuchtwahl eine Rasse erziehen, bei welcher nur die Männchen von dieser Färbung sind, während die Weibchen unverändert bleiben? Ich will hier nur bemerken, dass dies äusserst schwierig sein dürfte, wenn es auch vielleicht nicht unmöglich ist. Denn das natürliche Resultat eines Weiterzüchtens von den blassblaucn Männchen würde das sein, seinen ganzen Stamm mit Einschluss beider Geschlechter in diese Färbung hinüberzuführen. Wenn indessen Abänderungen der bewussten Färbung auftreten, welche vom Anfang an in ihrer Entwickelung auf das männliche Geschlecht beschränkt wären, so würde nicht die mindeste Schwierigkeit vorliegen, eine Rasse zu bilden, welche dadurch characterisirt ist, dass beide Geschlechter eine verschiedene Färbung zeigen, wie es in der That mit einer belgischen Rasse erreicht worden ist, bei welcher nur die Männchen schwarz gestreift sind. Wenn in einer ähnlichen Weise irgend eine Abänderung bei einer weiblichen Taube aufträte, welche vom Anfang an in ihrer Entwickelung geschlechtlich beschränkt wäre, so würde es leicht sein, eine Rasse zu erziehen, bei welcher nur die Weibchen in dieser Weise characterisirt wären. Wäre aber die Abänderung nicht ursprünglich in dieser Weise beschränkt, so würde der Process äusserst schwierig, vielleicht unmöglich sein.

Ueber die Beziehung zwischen der Periode der Entwickelung eines Characters und seiner Liebe rlieferung auf ein Geschlecht oder auf beide. — Warum gewisse Charac-tcre von beiden Geschlechtern, andere nur von einem Geschlechte, nämlich von demjenigen, bei welchem der (Jharacter zuerst auftrat, geerbt werden, ist in den meisten Fällen völlig unbekannt. Wir können nicht einmal eine Vermuthung aufstellen, warum bei gewissen Unterrassen der Taube schwarze Streifen, trotzdem sie durch das Weibchen zur Vererbimg gelangen, sich nur beim Männchen entwickeln, während jedes andere Merkmal gleichmässig auf beide Geschlechter überliefert wird; warum ferner bei Katzen die schwarze, braun und weisse Färbung (tortoise-shell) mit seltener Ausnahme nur bei den Weibchen sich entwickelt. Ein und derselbe Character, wie fehlende und überzählige Finger, Farbenblindheit u. s. w. kann beim Menschen nur von den männlichen Gliedern einer Familie und in einer andern Familie nur von den weiblichen geerbt werden, trotzdem er in beiden Fällen ebenso gut durch das entgegengesetzte wie durch das gleichnamige Geschlecht

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Cap. 8.

Gesetze der Vererbung.

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überliefert wird 23. Obgleich wir uns hiernach in Unwissenheit befinden, so gelten doch häufig zwei Regeln: nämlich, dass Abänderungen, welche zuerst in einem von beiden Geschlechtern in einer späteren Lebenszeit auftreten, sich bei demselben Geschlechte zu entwickeln neigen, während Abänderungen, welche zeitig im Leben in einem der beiden Geschlechter zuerst auftreten, zu einer Entwickelung in beiden Geschlechtern neigen. Ich bin indessen durchaus nicht gemeint, hierin die einzige bestimmende Ursache zu erblicken. Da ich nirgends anders diesen Gegenstand erörtert habe und er eine bedeutende Tragweite in Bezug auf geschlechtliche Zuchtwahl hat, so muss ich hier in ausführliche und etwas in-tricate Einzelnheiten eingehen.

Es ist an sich wahrscheinlich, dass irgend ein Character, welcher in frühem Alter auftritt, zu einer gleichmässig auf beide Geschlechter sich äussernden Vererbung neigt. Denn die Geschlechter weichen der Constitution nach nicht sehr von einander ab, so lange das Eeproduc-tionsvermögen noch nicht erlangt ist. Ist auf der andern Seite dieses Vermögen eingetreten und haben die Geschlechter begonnen, ihrer Constitution nach von einander abzuweichen, so werden die Keimchen (wenn ich mich hier der Sprechweise der Hypothese der Pangenesis bedienen darf), welche von jedem variirenden Theile in dem einen Geschlechte abgestossen werden, viel mehr in der Lage sein, die eigenthümlichen Beziehungen zu einer Verbindung mit den Geweben des gleichnamigen Geschlechts darzubieten und sich daher zu entwickeln , und zwar mehr mit diesen, als mit den Keimchen des andern Geschlechts.

Zu der Annahme, dass eine Beziehung dieser Art existire, wurde ich zuerst durch die Thatsache geführt, dass, sobald nur immer in irgendwelcher Weise das erwachsene Männchen von dem erwachsenen Weibchen verschieden geworden ist, das erstere in derselben Weise auch von den Jungen beider Geschlechter verschieden ist. Die Allgemeinheit dieser Thatsache ist durchaus merkwürdig. Sie gilt für beinahe alle Säugethiere, Vögel, Amphibien und Fische, auch für viele Crustaceen, Spinnen und einige wenige Insecten, nämlich gewisse Orthopteren und Libellen. In allen diesen Fällen müssen die Abänderungen, durch deren Anhäufung das Männchen seine eigenthümlichen männlichen Charactere erlangt hat, in einer etwas späten Periode des Lebens eingetreten sein, sonst würden die jungen Männchen ähnlich ausgezeichnet worden sein;

" Verweisungen sind gegeben in meinem „Variiren der Tliiere und Pflanzen im Zustande der Domestication" Bd. 2, S. 94.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

und in Uebereinstimmung mit unserem Gesetz werden sie nur auf erwachsene Männchen vererbt und entwickeln sich nur bei diesen. Wenn andererseits das erwachsene Männchen den Jimgen beider Geschlechter sehr ähnlich ist (wobei diese mit seltener Ausnahme einander gleich sind), so ist es meist auch dem erwachsenen Weibchen ähnlich; und in den meisten dieser Fälle traten die Abänderungen, durch welche das junge und alte Thier ihre gegenwärtigen Merkmale erlangten, wahrscheinlich in Uebereinstimmung mit unserer Regel während der Jugend auf. Hier kann man aber wohl zweifeln, da zuweilen die Charactere auf die Nachkommen in einem früheren Alter vererbt werden als in dem, in welchem sie zuerst bei den Eltern erscheinen, so dass die Eltern abgeändert als sie erwachsen waren, und ihre Charactere dann auf die Nachkommen vererbt haben können, während diese jung waren. Ueberdies gibt es viele Thiere, bei denen die beiden Geschlechter einander sehr ähnlich und doch von ihren Jungen verschieden sind; und hier müssen die Charactere der Erwachsenen spät im Leben erlangt worden sein; trotzdem werden diese Merkmale im scheinbaren Widerspruch gegen unser Gesetz auf beide Geschlechter vererbt. Wir dürfen indessen die Möglichkeit oder selbst Wahrscheinlichkeit nicht übersehen, dass Abänderungen der nämlichen Natur zuweilen gleichzeitig und in gleicher Weise bei beiden Geschlechtern, wenn sie ähnlichen Bedingungen ausgesetzt sind, zu einer im Ganzen späteren Periode des Lebens auftreten; und in diesem Falle werden die Abänderungen auf die Nachkommen beider Geschlechter in einem entsprechenden späten Lebensalter vererbt. Hier würde denn kein wirklicher Widerspruch gegen unsere Hegel eintreten, dass die Variationen, welche spät im Leben auftreten, ausschliesslich auf das Geschlecht vererbt werden, bei dem sie zuerst erscheinen. Dieses letztere Gesetz scheint noch allgemeiner zu gelten als das zweite, dass nämlich Abänderungen, welche in einem der beiden Geschlechter früh im Leben auftreten, zu einer Vererbung auf beide Geschlechter neigen. Da es offenbar unmöglich war, auch nur annäherungsweise zu schätzen, in einer wie grossen Anzahl von Fällen durch das ganze Thierreich hindurch diese beiden Sätze Gültigkeit haben, so kam ich auf den Gedanken, einige auffallende und entscheidende Beispiele zu untersuchen und mich auf das von ihnen gebotene Resultat zu verlassen.

Einen ausgezeichneten Fall bietet für diese Untersuchung die Familie der hii'schartigen Thiere dar. Bei säinmtlichen Arten, mit Ausnahme

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Cap. 8.                                  Gesetze der Vererbung.                                      255

einer einzigen, entwickelt sich das Geweih nur beim Männchen, trotzdem es ganz sicher durch das Weibchen überliefert wird und auch wohl im Stande ist, sich gelegentlich abnormer Weise bei diesem zu entwickeln. Andererseits ist beim Renthiere das Weibchen mit einem Geweihe versehen, so dass bei dieser Art das Geweih entsprechend unserem Gesetze zeitig im Leben auftreten müsste, lange zuvor ehe die beiden Geschlechter zur Reife gelangten und in ihrer Constitution sehr auseinander giengen. Bei allen den anderen Arten der Hirsche müsste das Geweih später im Leben auftreten und in Folge hiervon nur bei demjenigen Geschlechte zur Entwicklung gelangen, bei dem es zuerst am TJrerzeuger der ganzen Familie erschien. Ich finde nun bei sieben zu verschiedenen Sectionen der Familie gehörigen und verschiedene Gegenden bewohnenden Species, bei welchen nur die Männchen Geweihe tragen, dass das Geweih zuerst in einer Zeit erscheint, welche von neun Monaten nach der Geburt, und dies beim Rehbock, bis zu zehn oder zwölf oder selbst noch mehr Monaten nach derselben variirt, letzteres bei den Hirschen der sechs anderen grösseren Species 24. Aber bei dem Renthier liegt der Fall sehr verschieden. Denn wie ich von Professor Nilsson höre, welcher meinetwegen monatelang specielle Untersuchungen in Lappland freundlich genug anstellen Hess, erscheinen die Hörner bei den jungen Thieren innerhalb der ersten vier oder fünf Wochen nach der Geburt, und zwar zu derselben Zeit bei beiden Geschlechtern. Wir haben daher hier ein Gebilde, welches sich zu einer sehr ungewöhnlich frühen Lebenszeit in einer Species der Familie entwickelt und welches beiden Geschlechtern in dieser einen Species eigen ist.

Bei mehreren Arten von Antilopen sind die Männchen allein mit Hörnern versehen, während in der grösseren Zahl beide Geschlechter Hörner haben. In Bezug auf die Periode der Entwickelung derselben theilt mir Mr. Blyth mit, dass im zoologischen Garten gleichzeitig einmal ein junger Kndu (Antilope strepsireros), bei welcher Art nur

24 Ich bin He^rn Cupples sehr verbunden, welcher von Mr. Robertson, dem erfahrenen Oberwildwart des Marquis of Breadalbane, Erkundigungen über den Rehbock und den Hirsch in Schottland für mich eingezogen hat. Iu Bezug auf den Damhirsch bin ich Mr. Eyton und Anderen für Mittheilungen zu Danke verpflichtet. Wegen des Cercus alcen von Nord-Amerika s. Land and Water, 1808, p. 221 u. 254. und wegen Genus yirginunms und strougiilocerua desselben Continents s. J. D. Caton in: Ottawa Acad. of Natur. Science. 1808, p. 13. Wegen des Germia Eldi von Pegu s. Lieutenant Beavan in: Proceed. Zoologie. Soc. 1807, p. 702.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

IL Theil.

die Männchen gehörnt sind, und das Junge einer nahe verwandten Specics, nämlich des Elaud (Antilope oreas) lebten, bei welchem beide Geschlechter gehörnt sind. Nun waren in strenger Uebereinstimmung mit unserem Gesetze bei dein jungen männlichen Kudu, trotzdem derselbe bereits zehn Monate alt war, die Hörner merkwürdig klein, wenn man die schliesslich von ihnen erreichte Grösse in Betracht zieht, während bei dem jungen mäuuliclien Elaud, obgleich er nur drei Monate alt war, die Hörner bereits sehr viel grösser waren als bei dem Kudu. Es ist auch der Erwähnung werth, dass bei der gabelhörnigen Antilope23, bei welcher Species die Hörner zwar bei beiden Geschlechtern vorhanden, aber beim Weibchen fast rudimentär sind, sie nicht eher erscheinen, als ungefähr fünf oder sechs Mouate nach der Geburt. Bei Schafen, Ziegen und den Kindern, bei denen die Hörner in beiden Geschlechtern gut entwickelt sind, wenn sie auch in der Grösse nicht völlig gleich sind, können sie schon bei der Geburt oder bald nachher gefühlt oder selbst schon gesehen werden26. Unser Gesetz lässt uns indess in Bezug auf einige Scbafrassen im Stiche, z. B. bei den Merinos, wo nur die Widder gehörnt sind. Denn in Folge eingezogener Erkundigungen-" bin ich nur im Stande, zu sagen, dass die Hörner bei dieser Basse später im Leben entwickelt werden als bei gewöhnlichen Schafen, bei denen beide Geschlechter gehörnt sind. Es ist aber bei domesti-cirten Schafen das Vorhandensein oder das Fehlen der Homer kein scharf fixirter Character. Eine gewisse relative Anzahl der Merino-mutterschafe trägt kleine Hörner und einige Widder sind hornlos, während bei gewöhnlichen Schafen auch hornlose Mutterschafe gelegentlich geboren werden.

25  Antüncapra americana. Owen, Anatomy of Yertebrates. Vol. III, p. G27.

26  Mir ist versichert worden, dass hei den Schafen in Nord-Wales schon zur Zeit der Geburt die Hörner immer gefühlt werden können und zuweilen selbst einen Zoll lang sind. In Bezug auf das;Rind sagt Youatt (Cattle, 1834, p. 277), dass der Vorsprang des Stirnbeins bei der Geburt die Haut durchbohrt und dass die Hornsubstanz sich bald auf demselben bildet.

27  Prof. Victor Carus hat für mich bei den höchsten Autoritäten in Bezug auf die Merino-Schafe in Sachsen Erkundigungen eingezogen. An der Guineaküste in Afrika gibt es vier Scbafrassen, bei welchen wie bei den Merinos nur die Widder allein Hörner haben; und Mr. Win wo od Rearte theilt mir mit, dass in dem einen beobachteten Falle ein junger, am 10. Febr. geborener Widder zuerst am 6. März die Hörner zeigte, so dass die Entwickelnng der Hörner in diesem Falle zu einer späteren Lebensperiode eintrat, unserem Gesetze zufolge, als bei dem Waliser Schaf, bei denen beide Geschlechter gehörnt sind.

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Cap,. 8.                                Gesetze der Vererbung.                                      257

In den meisten Arten der prachtvollen Familie der Fasanen weichen die Männchen auffallend von den Weibchen ab und erreichen ihre Kör-perzierde in einer verhältnissmässig späten Periode des Lebens. Per Ohrenfasan (CrossopÜlon aucitum) bietet indess eine merkwürdige Ausnahme dar, denn hier besitzen beide Geschlechter die schönen Schwanzfedern, die grossen Ohrbüscliel und den scharlachnen Sammet um den Kopf; und eine Erkundigung im zoologischen Garten hat mir ergeben, dass alle die Charactere in Uebereiustimmung mit unserem Gesetze sehr zeitig im Leben erscheinen. Das erwachsene Männchen kann indessen vom erwachsenen Weibchen durch ein Merkmal unterschieden werden, nämlich durch das Vorhandensein von Spornen; und in Uebereiustimmung mit unserer Regel fangen diese,> wie mir Mr. Bartlett versichert hat, sich nicht vor dem Alter von sechs Monaten zu entwickeln an und können selbst in diesem Alter in beiden Geschlechtern kaum unterschieden werden28. Der männliche und weibliche Pfau differiren auffallend von einander in fast jedem Theile ihres Gefieders, mit Ausnahme des eleganten Foderstutzes auf dem Kopfe, welcher beiden Geschlechtern eigen ist; und dieser entwickelt sich sehr früh im Leben, lange znvor, ehe die anderen Zieratlien sich entwickeln, welche auf das Männchen beschränkt sind. Die wilde Ente bietet einen analogen Fall dar, denn der schöne grüne Spiegel auf den Flügeln ist beiden Geschlechtern gemeinsam, trotzdem er beim Weibchen dunkel und etwas kleiner ist; und dieser entwickelt sich zeitig im Leben, während die gekräuselten Schwanzfedern und andere dem Männchen eigenthi'im-lichen Zierden später entwickelt werden29. Zwischen solchen extremen

'2S Reim gemeinen Pfau (Paw cristatus) besitzt nur das Männchen Sporne, während beim Javanische* Pfau (l'aro mutiru.*) der ungewöhnliche Fall eintritt, dass beide Geschlechter mit Spornen versehen sind. Ich glaubte daher sicher erwarten zu dürfen, dass sich dieselben bei der letzten Species früher im Lehen entwickeln wurden, als beim gemeinen Pfau. Mr. Hegt in Amsterdam theilt mir aber mit, dass bei jungen, zu beiden Species gehörenden Vögeln des vorhergehenden Jahres eine am 23. April 1869 vorgenommene Vergleichung keine Verschiedenheit in der Entwiekelung der Sporne zeigte. Indessen waren zu dieser Zeit die Sporne nur durch unbedeutende Höcker oder Erhebungen repräsentirt. Ich glaube annehmen zu dürfen, dass man es mir mitgetheilt haben würde, wenn später irgend eine Verschiedenheit in der Schnelligkeit der Entwiekelung bemerkbar gewesen wäre.

29 Bei einigen anderen Arten der Familie der Enten ist der Spiegel bei beiden Geschlechtern in einem bedeutenden Grade verschieden; ich bin aber nicht im Stande gewesen, nachzuweisen, ob seine völlige Entwiekelung bei den Männchen

DAKW1N, Abstammung I. Zwi'itu Auflag.                                                             17

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258

Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Fällen grosser sexueller Uebereinstiinnning und bedeutender Verschiedenheit, wie die des Crossoplilon und des Pfaus, könnten viele mitten innenliegende angeführt werden, in denen die Characterc in der Reihenfolge ihrer Entwickelung unseren beiden Gesetzen folgen.

Da die meisten Insecten ihre Puppenhülle in einem geschlechts-reifen Zustande verlassen, so ist es zweifelhaft, ob die Periode der Entwickelung das Uebertragen ihrer Merkmale auf eines oder beide Geschlechter bestimmt. Wir wissen aber nicht, ob die gefärbten Schuppen z. B. in zwei Arten von Schmetterlingen, von denen die eine in den beiden Geschlechtern verschieden ist, während in der anderen beide gleich sind, in demselben relativen Alter im Cocon sich entwickeln. Auch wissen wir nicht, ob alle Schuppen gleichzeitig auf den Flügeln einer und derselben Species von Schmetterlingen entwickelt werden, bei welcher gewisse gefärbte Auszeichnungen auf ein Geschlecht beschränkt sind, während andere Flecke beiden Geschlechtern gemeinsam sind. Eine Verschiedenheit dieser Art in der Periode der Entwickelung ist nicht so unwahrscheinlich, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Denn bei den Orthoptern, welche ihren erwachsenen Zustand nicht durch eine einzige Metamorphose, sondern durch eine Eeihe aufeinanderfolgender Häutungen erreichen, gleichen die jungen Männchen einiger Species zuerst den Weibchen und erlangen ihre unterscheidenden männlichen Merkmale erst während einer späteren Häutung. Streng-analoge Fälle kommen auch während der aufeinanderfolgenden Häutungen gewisser männlichen Krustenthiere vor.

Wir haben bis jetzt nur die Uebertragung von Merkmalen in Bezug auf die Periode der Entwickelung bei Species im ^Naturzustände betrachtet. Wir wollen uns nun zu den domesticirten Thieren wenden und zuerst Monstrositäten und Krankheiten berühren. Das* Vorhandensein überzähliger Finger und das Fehlen gewisser Phalangen muss zu

solcher Arten später im Lehen eintritt als bei der gemeinen Ente, wie es unserer Regel zu Folge der Fall sein sollte. Wir haben aber bei dem verwandten Mergus cucullatus einen Fall dieser Art: hier weichen die beiden Geschlechter auffallend in der allgemeinen Befiederung und auch in einem beträchtlichen Grade in dem Spiegel ab, welcher beim Männchen rein weiss, beim Weibchen gräulich weiss ist. Nein sind die jungen Männchen zuerst in allen Beziehungen den Weibchen ähnlich und haben einen gräulich-weissen Spiegel; dieser wird aber in einem früheren Alter rein weiss, als in dem, in welchem das erwachsene Männchen seine stärker ausgesprochenen sexuellen Verschiedenheiten im Gefieder erhält, s. Au-dubon, Ornithological Biography. Vol. III. 1S35,. p. 210—250.

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Cap. 8.                                 Gesetze der Vererbung.                                       259

einer frühen embryonalen Periode bestimmt werden — wenigstens ist die Neigung zu profusen Blutungen angeboren, wie es wahrscheinlich auch die Farbenblindheit ist —; doch sind diese Eigenthümlichkeiten und andere ähnliche oft in Bezug auf ihre Ueberlieferung auf ein Geschlecht beschränkt, so dass das Gesetz, dass Charactore, welche in einer frühen Periode sich entwickeln, auf beide Geschlechter vererbt zu werden neigen, hier vollständig fehlschlägt. Wie aber vorhin bemerkt wurde, scheint dieses-Gesetz keine nahezu so allgemeine Gültigkeit zu haben, wie der umgekehrte Satz, dass Charactere, welche spät im Leben an einem Geschlechte erscheinen, auch nur ausschliesslich auf dieses selbe Geschlecht vererbt werden. Aus der Thatsache, dass die oben erwähnten abnormen Eigenthümlichkeiten auf ein Geschlecht beschränkt werden, und zwar lange ehe die geschlechtlichen Functionen in Thätig-keit treten, können wir schliessen, dass eine Verschiedenheit irgend welcher Art zwischen den Geschlechtern schon zu einem äusserst frühen Lebensalter bestehen muss. Was geschlechtlich beschränkte Krankheiten betrifft, so wissen wir zu wenig von der Zeit, zu welcher sie überhaupt entstehen, um irgend einen sicheren Schluss zu ziehen. Indessen scheint die Gicht unter unser Gesetz zu fallen, denn sie ist meist verursacht durch Uumässigkeit nach der ersten Jugend und wird vom Vater auf seine Söhne in einer viel ausgesprocheneren Art als auf seine Töchter vererbt.

Bei den verschiedenen domesticirten Schafen, Ziegen und Kindern weichen die Männchen von ihren respectiven Weibchen in der Form oder der Entwickelung ihrer Hörner, ihrer Stirn, ihrer Mähne, ihrer Wamme, ihres Schwanzes und ihrer Höcker auf den Schultern ab; und in Uebereinstimmimg mit unserem Gesetze werden diese Eigenthümlichkeiten nicht eher vollständig entwickelt, als ziemlich spät im Leben. Bei Hunden weichen die Geschlechter nicht von einander ab, ausgenommen darin, dass bei gewissen Kassen, besonders bei dem schottischen Hirschhunde das Männchen viel grösser und schwerer als das Weibchen ist. Und wie wir in einem späteren Capitel sehen werden, nimmt das Männchen - bis zu einer ungewöhnlich späten Lebenszeit beständig an Grösse zu, welcher Umstand nach unserer Kegel es erklären wird, dass die bedeutendere Grösse nur seinen männlichen Nachkommen vererbt wird. Andrerseits ist die dreifarbige Beschaffenheit des Haares (tortoise-shell), welche auf weibliche Katzen beschränkt ist, schon bei der Geburt völlig deutlich, und dieser Fall streitet gegen unser Gesetz. Es gibt eine

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260                                   Geschlechtliche Zuchtwahl.                            IL Theil.

Taubenrasse, bei welcher nur die Männchen mit Schwarz gestreift sind, und die Streifen können selbst bei Nestlingen schon nachgewiesen werden ; sie werden aber deutlicher mit jeder später eintretenden Mauserung, so dass dieser Fall zum Theil unserer Eegel widerspricht, zum Theil sie unterstützt. Bei der englischen Botentaube und dem Kröpfer tritt die völlige Eutwickelung der Fleischlappen und des Kropfes ziemlich spät im Leben ein; und diese Charactere werden in Uebereiu-stimmung mit unserem Gesetze in Vollkommenheit nur den Männchen vererbt. Die folgenden Fälle gehören vielleicht in die früher erwähnte Classe, bei welcher die beiden Geschlechter in einer und derselben Art und Weise auf einer ziemlich späten Periode des Lebens variirt und in Folge dessen ihre neuen Merkmale auf beide Geschlechter in einer entsprechend späten Periode vererbt haben; und wenn dies der Fall ist, so widersprechen derartige Fälle unserer Kegel nicht. So gibt es Unterlassen der Tauben, welche Neumeister 3u beschrieben hat, bei denen beide Geschlechter, nachdem sie sich zwei- oder dreimal gemausert haben, die Farbe verändern, wie es in gleicher AVeise auch der Mandel-purzler thut. Nichtsdestoweniger sind diese Veränderungen, trotzdem sie ziemlich spät im Leben auftreten, beiden Geschlechtern gemeinsam. Eine Varietät des Canarienvogels, nämlich der „London Prize", bietet einen ziemlich analogen Fall dar.

Bei den Hühnerrassen scheint die Vererbung verschiedener Charactere auf ein Geschlecht oder auf beide Geschlechter allgemein durch die Periode bestimmt zu werden, in welcher sich solche Charactere entwickeln. So weicht in allen den Zuchten, bei welchen das erwachsene Männchen bedeutend in der Färbung von den "Weibchen und von der erwachsenen männlichen elterlichen Form abweicht, dasselbe auch von dem jungen Männchen ab, so dass die erst neuerdings erlangten Charactere in einer verliältuissmässig späten Periode des Lebens erschienen sein müssen. Andererseits sind bei den meisten Kassen, bei denen die beiden Geschlechter einander ähnlich sind, die Jungen in nahezu derselben Art und Weise gefärbt wie ihre Eltern, und dies macht es wahrscheinlich, dass ihre Farben zuerst früh im Leben auftraten. Wir sehen Beispiele dieser Thatsache bei allen schwarzen und weissen Kassen, bei denen die Jungen und Alten beider Geschlechter

11,1 Das Ganze des Taubenzucht. 1837, S. 21, 24. In Bezug auf die gestreiften Tauben s. Dr. Chapuis, Le Pigeon Voyageur Beige, 18G5, p. 87.

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Cap. 8.

Gesetze der Vererbung.

261

einander gleich sind. Auch kann nicht behauptet werden, dass in einem schwarzen oder weissen Gefieder etwas Eigeiithumlich.es liege, welches zu seiner Vererbung auf beide Geschlechter führe. Denn allein die Männchen vieler natürlicher Species sind entweder schwarz oder weiss, während die Weibchen sehr verschieden gefärbt sind. Bei den sogenannten Kukuksimterrassen des Huhns, bei welchen die Federn quer mit dunklen Streifen gestrichelt sind , sind beide Geschlechter nnd die Hühnchen in nahezu derselben Art und Weise gefärbt. Das Gefieder der Sebriglit-Bantam-Hühner mit schwarz geränderten Federn ist in beiden Geschlechtern dasselbe und bei den Hühnchen sind die Federn nur schwarz gefleckt, was eine beträchtliche Annäherung an das Ge-rändertseiii darstellt. Die gefütterten Hamburger bieten indess eine theilweise Ausnahme dar, denn wenn schon die beiden Geschlechter sich nicht vollkommen gleich sind, so ähneln sie sich doch einander mehr, als es die Geschlechter der ursprünglichen elterlichen Species thun; und doch erreichen sie ihr charakteristisches Gefieder spät im Leben, denn die Hühnchen sind deutlich gestrichelt. Wendet man sich zu anderen Merkmalen ausser der Farbe, so besitzen allein die Männchen der wilden elterlichen Species und der meisten domesticirten Rassen einen gehörigen, wohlentwickelten Kamm; aber bei dem jungen spanischen Huhne ist er in einem sehr frühen Alter bedeutend entwickelt und dem Anscheine nach in Folge hiervon auch bei den erwachsenen Weibchen von ungewöhnlicher Grösse. Bei der Kampfhahnrasse wird die Kampfsucht in einem wunderbar frühen Alter entwickelt, wovon merkwürdige Beweise gegeben werden könnten; und dieser Character wird auch auf beide Geschlechter vererbt, so dass die Hennen wegen ihrer ausserordentlichen Kampfsucht jetzt allgemein in besonderen Behältern ausgestellt werden. Bei den polnischen Bässen bildet sich die Protuberanz des Schädels, welche die Federkroiie trägt, zum Theil schon ehe die Hühnchen ausschlüpfen und die Federkrone selbst beginnt sehr bald zu wachsen, wenn auch anfangs nur schwach31. Und in dieser Kasse characterisirt eine grosse knöcherne Protuberanz und eine ungeheure Federkrone die erwachsenen Thiere beider Geschlechter.

31 "Wegen ausführlicher Einzelheiten und Verweisungen über alle diese Punkte in Bezug auf verschiedene Kassen des Huhns s. Das Variiren der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 1, S. 30!) u. 316. Was die höheren Thiere betrifft, so sind die geschlechtlichen Verschiedenheiten, welche im Zustande der Domestication entstanden sind, in demselben "Werke unter den die einzelnen Species behandelnden Abschnitten beschrieben.

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262

Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Nach dem mm endlich, was wir jetzt von den Beziehungen gesehen haben, welche in vielen natürlichen Species und domesticirten Rassen zwischen der Periode der Entwickelung ihrer Merkmale und der Art und Weise ihrer Ueberliefernng existirt, — z. B. die auffallende Thatsache des frühen Wachstlroms des Geweihes beim Eenthier, bei dem beide Geschlechter Geweihe tragen, im Vergleich mit dessen viel später eintretenden Wachsthum bei den anderen Species, bei denen das Männchen allein ein Geweih trägt, — können wir schliessen, dass die eine, wenn auch nicht die einzige Ursache des Umstandes, dass Cha-ractere ausschliesslich auf ein Geschlecht vererbt werden, deren Entwickelung in einem späteren Alter ist, und zweitens, dass eine, wenn auch wie es scheint weniger wirksame Ursache des Umstandes, dass Charactere von beiden Geschlechtern vererbt werden, deren Entwickelung in einem frühen Alter ist, in einer Zeit also, wo die Geschlechter in ihrer Constitution mir wenig von einander abweichen. Es scheint indessen, als wenn doch irgend eine Verschiedenheit zwischen den Geschlechtern selbst während einer frühen embi^onalen Periode existiren mnsste; denn in diesem Alter entwickelte Merkmale werden nicht selten auf ein Geschlecht beschränkt.

Zusammenfassung und Schlussbemerkungen. — Nach der vorstellenden Erörterung über die verschiedenen Gesetze der Vererbung sehen wir, dass Merkmale oft oder selbst allgemein geneigt sind, sich bei demselben Geschlecht in dem nämlichen Alter und periodisch in derselben Jahreszeit, in welcher sie zuerst bei den Eltern auftraten, zu entwickeln. Diese Gesetze sind aber in Folge unbekannter Ursachen sehr einer Abänderung ausgesetzt. Die aufeinanderfolgenden Stufen in der Modifikation einer Species können daher leicht auf verschiedenen Wegen überliefert werden; einige dieser Stufen werden nur auf ein Geschlecht, andere auf beide vererbt, einige auf die Nachkommen eines bestimmten Alters und einige andere auf alle Altersstufen. Es sind nicht bloss die Gesetze der Vererbung äusserst complicirt, sondern es sind auch die Ursachen so, welche die Variabilität herbeiführen und beherrschen. Die auf diese Weise verursachten Abänderungen werden durch geschlechtliche Zuchtwahl aufbewahrt und angehäuft, welche an sich wieder eine äusserst complicirte Angelegenheit ist, da sie von der Gluth der Liebe, dem Muthe und der Nebenbuhlerschaft der Männchen und von dem Wahrnehmungsvermögen, dem Geschmacke und dem Willen

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Cap. 8.                 Allgemeines über geschlechtliche Zuchtwahl.                      263

der Weibchen abhängt. Geschlechtliche Zuchtwahl wird auch in Bezug auf das allgemeine Wohlsein der Species von der natürlichen Zuchtwahl beherrscht. Es kann daher nicht anders sein, als dass die Art und Weise, in welcher die Individuen eines von beiden Geschlechtern oder beider Geschlechter durch geschlechtliche Zuchtwahl beeinflnsst werden, im äus-sersten Grade complicirt ist.

Wenn Abänderungen spät im Leben bei einem Geschlechte auftreten und auf dasselbe Geschlecht in demselben Alter überliefert werden, so werden nothwendigerweise das andere Geschlecht und die Jungen unverändert bleiben. Treten die Abänderungen spät im Leben auf, werden sie aber auf beide Gcsclilechter in demselben Alter vererbt, so werden nur die Jungen unverändert gelassen. Indessen können Abänderungen auf jeder Periode des Lebens in einem Geschlechte oder in beiden auftreten und auf beide Gcsclilechter in allen Altersstufen überliefert werden, und dann werden alle Individuen der Art in ähnlicher Weise modificirt werden. Tu den folgenden Capiteln werden wir sehen, dass alle diese Fälle im Naturzustände häufig auftreten.

Geschlechtliche Zuchtwahl kann niemals auf irgend ein Thier wirken, bevor nicht das Alter der lieproduetiou erreicht ist. In Folge der grossen Begierde des Männchens hat sie meistens auf dieses Geschlecht und nicht auf die Weibchen gewirkt. Hierdurch sind die Männchen mit Waffen zum Kampfe mit ihren Nebenbuhlern oder mit Organen zur Entdeckung und zum sichern Festhalten der Weibchen oder zum Beizen oder zum Gefallen derselben versehen worden. Wenn die Geschlechter in dieser Hinsicht von einander abweichen, so ist es auch, wie wir gesehen haben, ein äusserst allgemeines Gesetz, dass das erwachsene Männchen mehr oder weniger vom jungen Männchen verschieden ist; und wir können aus dieser Thatsache schliesen, dass die aufeinanderfolgenden Abänderungen, durch welche das erwachsene Männchen modificirt wurde, allgemein nicht lange vor dem Eintritt des reproduetions-fähigen Alters entwickelt wurden. Sobald aber nur immer einige oder viele der Abänderungen früh im Leben aufgetreten sind, werden die jungen Männchen in einem grösseren oder geringeren Grade an den Characteren der erwachsenen Männchen theilhaben. Verschiedenheiten dieser Art zwischen den alten und den jungen Männchen können häufig beobachtet werden, z. B. bei Vögeln.

Es ist wahrscheinlich, dass junge männliche Thiere oft in, einer AVeise zu variiren gestrebt haben, welche in einem frühen Alter nicht

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Geschleditlidie Zuditwahl.

II. Thal.

bloss für sie von keinem Nutzen, sondern geradezu schädlich gewesen sein würde — wie z. B. die Erlangung glänzender Farben, welche sie ihren Feinden viel sichtbarer gemacht haben würden, oder von Gebilden, wie grossen Hörnern, welche während ihrer Entwickelung viel Lehenskraft beansprucht haben würden. Bei jungen Männchen auftretende Abänderungen dieser Art werden beinahe gewiss durch natürliche Zuchtwahl beseitigt worden sein. Andererseits wird bei erwachsenen und erfahrenen Männchen der durch Erlangung derartiger Charactere eintretende Vortheil in Bezug auf ihre Nebenbuhlerschaft gegeniiher aif-deren Männchen häufig den Umstand, dass sie dadurch Gefahren in mancherlei Graden ausgesetzt wurden, mehr als aufgehoben haben.

Da Abänderungen, welche denen, die dem Männchen eine Superio-rität über andere Männchen beim Kampfe oder beim Aufsuchen, Festhalten oder Bezaubern des andern Geschlechts geben, analog sind, wenn sie durch Zufall beim Weibchen auftreten, diesem von keinem Nutzen sein würden, so werden sie in diesem Geschlechte durch geschlechtliche Zuchtwahl nicht erhalten worden sein. Wir haben hinreichende Belege dafür, dass bei domesticirten Thieren Abänderungen aller Arten durch Kreuzung und zufällige Todesfälle bald verloren gehen, wenn sie nicht sorgfältig bei der Nachzucht ausgewählt werden. In Folge hiervon worden Abänderungen der obigen Art, wenn sie durch Zufall bei Weibchen auftreten, äusserst geneigt sein, verloren zu gehen, und die Weibchen würden dann unverändert gelassen werden, sofern diese Charactere in Betracht kommen, ausgenommen insoweit, als sie durch Uebertra-ginig von den Männchen her dieselben erhalten. Ohne Zweifel werden, wenn die Weibchen variiren und ihre neu erlangten Charactere ihren Nachkommen beiderlei Geschlechts überlieferten, die Charactere, welche den Männchen von Vortheil waren, durch geschlechtliche Zuchtwahl erhalten werden, trotzden sie für die Weibchen selbst von keinem Nutzen sind. In diesem Falle werden beide Geschlechter in der nämlichen Art und Weise modificirt werden. Tch werde indessen später auf diese verwickelten Fälle zurückzukommen haben.

Unaufhörlich hat die Natur von Abänderungen, welche spät im Leben auftreten und nur auf ein Geschlecht überliefert werden, Vortheil gezogen und hat solche durch geschlechtliche Zuchtwahl mit Beziehung auf die Keproduction der Art angehäuft. Es erscheint daher auf den ersten Blick als unerklärliche Thatsache, dass ähnliche Abänderungen nicht auch häufig durch natürliche Zuchtwahl mit Beziehung auf

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Cap. 8.                 Allgemeines über geschlechtliche Zuchtwahl.                      265

die gewönhliclie Lebensweise angehäuft worden sind. Wäre dies eingetreten, so würden die beiden Geschlechter häufig in verschiedener Weise modificirt worden sein, z. B. zum Zwecke des Fangens von Beute oder des Entgehens der Gefahr. Wir haben solche Fälle bereits kennen gelernt und werden später noch anderen Beispielen von Verschiedenheiten dieser Art zwischen den beiden Geschlechtern begegnen, besonders bei den niederen Thieren; doch sind sie bei den höheren Classen selten. Wir sollten indessen im Sinne behalten, dass die Geschlechter in den höheren Classen allgemein eine gleiche Lebensweise haben; und angenommen, dass die Männchen allein in einer Weise variirten, welche ihr Vermögen, sich Subsistenz zu verschaffen, begünstigte n. s. w., und dass sie solche Abänderungen auch nur auf ihre männlichen Nachkommen vererbten, so würden diese allerdings eine Organisation erhalten, welche der der Weibchen überlegen wäre. Es ist aber wahrscheinlich, dass die Weibchen, welche dieselbe allgemeine Constitution haben und denselben Bedingungen ausgesetzt sind, früher oder später in derselben Art und Weise variiren werden; und sobald dies eintritt, werden die Abänderungen gleichmässig durch natürliche Zuchtwahl in beiden Geschlechtern erhalten werden, welche hierdurch schliesslisli einander gleich werden. Der Fall ist von dem weit verschieden, wo Variationen durch natürliche Zuchtwahl angehäuft werden; denn die Lebensbedingungen der beiden Geschlechter in Bezug auf die reproduetiven Functionen sind nicht dieselben, und geschlechtlich überlieferte Modificationen, die nur dein einen Geschlechte von Nutzen sind, werden in diesem erhalten werden, während ähnliche Modificationen oft für das andere Geschlecht vollständig nutzlos sind und in Folge dessen in diesem bald verloren gehen werden'.

In den folgenden Capiteln werde ich von den seeundären Sexual-characteren bei Thieren aller Classen handeln und werde in jedem einzelnen Falle die in dem vorliegenden Capitel auseinandergesetzten Grundsätze anzuwenden versuchen. Die niedrigsten Classen werden uns nur für eine sehr kurze Zeit aufhalten, aber die höheren Thiere, besonders die Vögel, müssen in einer ziemlichen Ausführlichkeit betrachtet werden. Man muss dabei im Auge behalten, dass ich ans bereits angeführten Gründen nur beabsichtigte, einige wenige erläuternde Beispiele von den zahllosen Bildungen zu geben, durch deren Hülfe das Männchen das Weibchen findet oder, wenn es dasselbe gefunden hat, festhält. Auf der

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

andern Seite werden alle, die Bildungseigenthümlichkeiten und Instincte, durch welche ein Männchen andere Männchen besiegt und durch welche dasselbe das Weibchen anlockt oder aufreizt, ausführlich erörtert werden, da dkse in vielen Fällen die interessantesten sind.

Anhang

über die proportionalen Zahlen der beiden Gevchlechtcr bei Thieren verschiedener Classen.

Da Niemand, so weit ich darüber nachkommen kann, den relativen Zahlen der beiden Geschlechter durch das ganze Thierreich Aufmerksamkeit geschenkt hat, will ich hier meine Materialien geben so wie ich sie mir habe sammeln können, obschon sie ausserordentlich unvollständig sind. Sie enthalten nur in einigen wenigen Fällen wirkliche Zählungen und auch diese Zahlen sind nicht sehr gross. Da die Verhältnisszahlen mit Sicherheit und auf Grund im grossen Maassstabe unternommener Zählungen nur vom Menschen bekannt sind, will ich zuerst diese als Maassstab der Vergleichung mittheilen.

Mensch. — In England wurden während des Zeitraums von zehn Jahren (von 1857 bis 186H) 707,120 Kinder im jährlichen Mittel lebendig geboren und zwar im Verhältniss von 104,5 Knaben auf 100 Mädchen. Im Jahre 1857 verhielten sich aber die männlichen Geburten durch ganz England wie 105,2 und im Jahre 1865 wie 104,<> zu 100 weiblichen. Betrachtet man einzelne Bezirke, so war in Buckingham-shire (wo im Mittel jährlich 5000 Kinder geboren werden) das mit t-lere Verhältniss der männlichen zu den weiblichen Geburten während der ganzen Periode der oben genannten zehn Jahre 102,s zu 100, während es in Nord-Wales (wo das jährliche Mittel der Geburten 12,873 beträgt) sich bis auf 106,2 zu 100 erhob. Nimmt man einen noch kleineren Bezirk, z. B. Kutlandshire (wo die jährlichen Geburten im Mittel nur 739 betragen), so verhielten sich im Jahre 1864 die männlichen Geburten wie 114,6 und im Jahre 1862 wie 97,<> zu 100; aber selbst in diesem kleinen Bezirke war das mittlere Verhältniss aus den 7385 Geburten während der ganzen zehnjährigen Periode wie 104,5, zu 100, d. i. also das nämliche Verhältniss wie durch ganz England32.

32 Twenty-ninth Annual Report of the Registrar-General for 1866. In diesem Berichte ist (p. XII) eine specielle zehnjährige Tahelle gegeben.

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Ca]). 8.                   Zahlenverhältniss der beiden Geschlechter.                       267

Die Proportionen werden zuweilen durch unbekannte Ursachen in geringem Grade gestört; so gibt Prof. Paye an, „dass in einigen Bezirken „von Norwegen während einer zehnjährigen Periode beständig zu wenig „Knaben geboren wurden, während in andern das umgekehrte Verhält-„niss bestand". In Frankreich verhielten sich während vierundvierzig Jahren die männlichen zu den weiblichen Geburten wie 106,2 zu 100; aber während dieser Periode ist es in einem Departement fünfmal, in einem andern sechsmal vorgekommen, dass die weiblichen Geburten die männlichen übertrafen.^ In Russland erhebt sich das Verhältniss sogar bis auf 108,9 zu 100 33. Es ist eine merkwürdige Thatsache, dass bei Juden das, Verhältniss der männlichen Geburten entschieden grösser ist als bei Christen: so verhalten sich die männlichen Geburten der Juden in Prenssen wie 113, in Breslau wie 114 und in Liefland wie 1.20 zu 100 weiblichen, während die christlichen Geburten in denselben Gegenden das gewöhnliche Verhältniss zeigen, z. B. in Liefland von 104 zu 100:u. .Eine noch eigentümlichere Thatsache ist es, dass bei verschiedenen Nationen unter verschiedenen Bedingungen und Climaten, in Neapel, Preussen, Westplialen, Frankreich und England der Ueberscbuss der Knaben über die Mädclien in den Geburten geringer ist, wenn sie unehelich als wenn sie ehelich geboren werden 35.

Dem Prof. Faye und andern Schriftstellern zufolge würde in verschiedenen Theilen von Europa „ein noch grösseres Ueberwiegen der „Knaben angetroffen werden, wenn der Tod beide Geschlechter im Mut-„terleibe und während der Geburt im gleichen Verhältnisse träfe. Es „ist aber Thatsache, dass auf je 100 todtgeborene Mädchen in mehreren Ländern von 134,6 bis 144,9 todtgeboreuer Knaben kommen." Ausserdem sterben auch während der ersten vier oder fünf Lebensjahre mehr'Knaben als Mädchen; so sterben z. B. in England während des „ersten Jahres 126 Knaben auf je 100 Mädchen, — ein Verhältniss, „welches sich in Frankreich noch ungünstiger herausstellt" se. Als

33  In Bezug auf Norwegen und Russland s. einen Auszug von Prof. Faye's Untersuchungen in: British and Foreign Medico-Chirurgical Review April, 1867, p. 343, 345. In Bezug auf Frankreich s. das Annuaire pour l'an 1867, p. 213.

34  In Betreff der Juden s. Thury, La loi de Production des Sexes. 1863, p. 25.

35  Babbage, Edinburgh Journal of Science, 1829. Vol. I, p. 88, auch p. 90 über todtgeborene Kinder. Ueber uneheliche Kinder in England s. den Report of Registrar-General für 18G6, p. XV.

39 British and Foreign Medico-Chirurgical Review, April 1867, p. 343. D.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Tlieil-

eine Folge dieses Ueberwiegens des Sterblichkeitsverhältnisscs bei Knaben und des Umstandes, dass Männer im erwachsenen Alter verschiedenen Gefahren ausgesetzt sind, ebenso ihrer Neigung zum Auswandern, erscheinen die Frauen in allen lange bestehenden Staaten, wo statistische Erhebungen angestellt worden sind 37, als beträchtlich die Männer an Zahl überwiegend.

Es ist oft vermuthet worden, dass das relative Alter der Eltern das Geschlecht der Nachkommen bestimme; und Prof. Leuckakt 38 hat seiner Ansicht nach einen Zweifel ausschliessendc Belege in Bezug auf den Menschen und gewisse domesticirte Tliiere vorgebracht, um zu zeigen, dass dies ein bedeutungsvoller Factor bei dem Resultate sei. Ferner glaubte man, dass die Periode der Befruchtung eine wirksame Ursache sei; neuere Beobachtungen erschüttern aber diese Ansicht. In Bezug auf den Menschen vermuthet man ferner, dass Polygamie die Geburt einer grösseren Proportion von Mädchen veranlasse; aber Dr. Camprell 39 hat diesem Gegenstände in den Harems von Siam eingehende Aufmerksamkeit gewidmet und ist zu dem Schlüsse gelangt, dass das Verhältniss der männlichen zu den weiblichen Geburten dasselbe ist wie bei monogamen Verbindungen. Kaum irgend ein Thier ist in solchem Maasse polygam gemacht worden als unsere Englischen Rennpferde, und doch werden wir sofort sehen, dass deren männliche und weibliche Nachkommen fast genau gleiche Zahlen darbieten.

Pferde. — Herr Tegetmeier hat die Güte gehabt, aus dem „Karing Calendar" die Geburten von Rennpferden während einer Periode von vier-nndzwanzig Jahren, nämlich von 1846 bis 1867 für mich in Tabellen zu bringen; das Jahr 1849 ist weggelassen, da in diesem Jahre die Erstark bemerkt gleichfalls (Tenth Annual Report of Births, Deaths etc. in Scot-lstnd, 18G7, p. XXVIII), dass „diese Beispiele hinreichen dürften, um zu zeigen, dass beinahe auf jeder Altersstufe die Männer in Schottland dem Sterben mehr unterliegen und ein höheres Sterblichkeitsverhältniss zeigen als die Frauen." Diese eigenthümliche Thatsache macht sich indessen am stärksten in der Periode der Kindheit geltend, wo doch Anzug, Nahrung und allgemeine Behandlung beider Geschlechter gleich sind, was zu beweisen scheint, dass das höhere Sterblichkeitsverhältniss des männlichen Geschlechts eine vom Geschlecht allein abhängige, eingeprägte, natürliche nnd constitutionelle Eigentümlichkeit ist.

J7 Bei den wilden Gnaranys von Paraguay stehen die "Weiber nach den Angaben des sorgfältigen Azara (Voyages dans FAmeriqne ineridionale, Tom. II. 1809, p. 60, 179) zu den Männern im Verhältniss von 14: 13.

ss Leuckart in: Wagn er's Handwörterbuch der Physiologie, Bd. 4. 1853, S. 774.

39 Anthropological Review, April, 1870, p. CVIII.

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Cap. 8.                       Zahlenverhältnisse der Geschlechter.                            269

hebungen nicht veröffentlicht wurden. Die Totalzahl aller Geburten betrug 25,56040, wovon 12,763 männliche und 12,797 weibliche waren, oder die männlichen standen im Verhältnis.? von 99,7 zu 100 weiblichen. Da diese Zahlen ziemlich gross sind und aus allen Theilen von England während des Verlaufs mehrerer Jahre zusammengetragen sind, so können wir mit vielem Vertrauen sihlicssen, dass bei dem domesticirten Pferde oder mindestens beim Kennpferde die beiden Geschlechter in fast gleicher Anzahl producirt werden. Die Schwankungen in den Verhältnisszahlen während der aufeinanderfolgenden Jahre sind denjenigen sehr gleich, welche beim Menschen vorkommen, wenn ein kleiner und dünn bevölkerter Bezirk in Betracht gezogen wird; so verhielten sich im Jahre 1856 die männlichen Pferde wie 107,i, und im Jahre 1867 nur wie 92,6 zu 100 weiblichen. In den tabellarisch geordneten Erhebungen variirt das Verhältniss periodisch, denn die Männchen überwogen die Weibchen während sechs aufeinanderfolgender Jahre; und die Weibchen überwogen die Männchen während zweier Perioden, jede von vier Jahren; dies kann indessen wohl zufällig sein; wenigstens kann ich nichts der Art beim Menschen in der zehnjährigen Tabelle aus dem Registrar's Report für 1866 entdecken. Ich kann hinzufügen, dass in derselben Weise, wie dies auch für gewisse Kühe und Frauen gilt, gewisse Stuten mehr Junge von dem einen Geschlechte als vom andern hervorzubringen neigen. Mr. Wrigiit von Yeldersley House theilt mir mit, dass eine seiner arabischen Stuten, trotzdem sie siebenmal zu verschiedenen Hengsten gebracht wurde, sieben Stutenfüllen hervorbrachte.

Hunde. — Während eines Zeitraums von zwölf Jahren, von 185 7 bis 1868 sind die Geburten einer grossen Anzahl von Windspielen aus ganz England in das Journal „The Field'' eingeschickt worden; und ich bin wiederum Herrn Tegbtmeiee dafür verbunden, dass er mir die Resultate sorgfältig in Tabellen gebracht hat. Die verzeichneten Geburten betrugen im Ganzen G878. von denen 3605 männliche und 3273 weibliche waren; sie standen also zu einander im Verhältniss von 110,1 männlichen zu 100 weiblichen Geburten. Die grössten Schwankungen kamen vor im Jahre 1864, wo sich die Zahlen wie 95,3 männliche, und im Jahre 1867, wo sie

40 Während der letzten elf Jahre ist auch die Zahl der Stuten verzeichnet worden, welche sich als unfruchtbar herausstellten oder welche ihre Füllen zu früh gebaren; und dabei verdient es Beachtung, da es zeigt, wie unfruchtbar diese sehr gut genährten, vielmehr noch in enger Inzucht vermehrten Thiere geworden sind, dass nicht viel unter einem Drittel der Stuten keine lebenden Füllen ergaben. So wurden während des Jahres 1856 809 Hengst- und 816 Stutenfüllen geboren und 743 Stuten brachten keine Nachkommen hervor. Während des Jahres 1SC7 wurden 836 Hengst- und 902 Stutenfüllen geboren und 794 Stuten schlugen fehl.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

sich wie 118,3 männliche zu 100 weiblichen verhielten. Das oben angegebene mittlere Verhältniss von 110,i zu 100 ist für den Windhund wahrscheinlich nahezu correct; ob es aber mich für andere domesticirte Kassen gelten dürfte, ist in ziemlichem Grade zweifelhaft. Mr. Cupples hat sich bei mehreren grossen Hundezüchtern erkundigt und dabei erfahren, dass alle ohne Ausnahme der Ansicht sind, dass die Weibchen in der Mehrzahl geboren werden; er vcrmuthet, diese Annahme könne wohl dadurch entstanden sein, dass die Weibchen weniger hoch geschätzt werden, und die damit zusammenhängende Enttäuschung mache auf das Gemüth einen stärkeren Eindruck.

Schaf. — Das Geschlecht der Schafe wird von den Landwirthen erst mehrere Monate nach der Geburt ermittelt, zu der Zeit, wenn die Männchen castrirt werden, so dass die folgenden Erhebungen nicht die Verhältnisszahlen zur Zeit der Geburt geben. Ueberdies finde ich, dass mehrere grosse Schafzüchter in Schottland, welche jährlich einige tausend Schafe erziehen, fest überzeugt sind, dass während des ersten oder der zwei ersten Jahre eine grössere Zahl von Männchen als von Weibchen stirbt; es wurde hiernach zur Zeit der Geburt das Verhältniss der Männchen etwas grösser sein als zur Zeit der Castration. Dies ist ein merkwürdiges Zusammentreffen mit dem, was, wie wir gesehen haben, beim Menschen eintritt; und wahrscheinlich hängen beide Fälle von einer gemeinsamen Ursache ab. Ich habe von vier Herren in England, welche während der letzten zehn oder sechszehn Jahre Niederuugsrassen, hauptsächlich Leicesterschafe, gezüchtet haben, Zahlenangaben erhalten; die Zahl der Geburten beträgt im Ganzen 8965; davon sind 4407 männliche und 4558 weibliche, dies ergibt also ein Verhältniss von 96,7 männlichen zu 100 weiblichen Lämmern. In Bezug auf die Cheviotrasse und die in Schottland gezüchteten Schafe mit schwarzem Gesicht habe ich' von sechs Züchtern, worunter zwei in grossem Maassstabe züchten, hauptsächlich aus den Jahren 1867 bis 1809 Angaben erhalten, einige reichen aber bis 1862 zurück. Die Gesammtzahl aller notirten Geburten beläuft sich auf 50,685 und besteht aus 25,071 männlichen und 25,614 weiblichen, so dass die Männchen im Verhältniss von 97,9 zu 100 Weibchen stehen. Nehmen wir die englischen und schottischen Erhebungen zusammen, so erhebt sich die Gesammtzahl auf 59,650, von denen 29,4 78 männliche und 30,172 weibliche Geburten sind, also im Verhältniss von 97,7 männlichen zu 100 weiblichen. Bei Schafen sind also ganz bestimmt im Alter, wo die Männchen castrirt werden, die Weibchen in der Mehrzahl; ob dies aber auch für die Zeit der Geburt gilt, ist zweifelhaft, weil die Männchen häufiger zeitig sterben41.

41 Ich bin Herrn Cupples sehr verbunden, dass er mir die obenerwähnten statistischen Angaben aus Schottland ebenso wie einige der folgenden Mitteilungen über Binder verschafft hat. Zuerst hat Mr. R. Elliot von Laighwood meine

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Cap. 8.

Zahlcnverbältnissc der Geschlechter.

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In Bezug auf Rinder habe ich Zahlenangaben von neun Herren erhalten, zusammen 982 Geburten betragend, also zu wenig, um zuverlässige Grundlagen zu gehen. Es waren 47 7 Stierkälber und 505 Kuhkälber geboren, also in dem Verhältniss von 94,4 männlichen auf 100 weibliche. Der Eev. W. D. Fox theilt mir mit, dass unter 34 im Jahre 1867 auf einer Farm in Derbyshire geborenen Kälbern nur ein einziges Stierkalb sich fand. Mr. Harrison Weir schreibt mir, dass er sich bei mehreren Schweinezüchtern erkundigt hat; die meisten schätzen das Verhältniss der männlichen zu den weiblichen Geburten wie 7 zu 6. Derselbe Herr hat viele Jahre lang Kaninchen gezüchtet und dabei beobachtet, dass eine viel grössere Zahl von männlichen als weihlichen Jungen geboren werden.

Ucber Säugethiere im Naturzustande bin ich nur sehr wenig zu erfahren im Stande gewesen. In Bezug auf die gemeine Ratte habe ich widersprechende Angaben erhalten. Mr. R. Elliot von Laighwood theilt mir mit, ein Rattenfänger habe ihm versichert, dass er immer die Männchen in bedeutender Mehrzahl gefunden habe, selbst unter den Jungen in den Nestern. In Folge hiervon untersuchte Mr. Eli.iot später selbst einige Hundert alter Ratten und fand die Angabe bestätigt. Mr. F. Buckland hat eine grosse Anzahl weisser Ratten gezogen, und auch er ist der Meinung, dass die Männchen bedeutend an Zahl die Weibchen überwiegen. In Bezug auf Maulwürfe wird gesagt, dass „die Männchen weit zahlreicher „seien als die Weibchen" i2; und da das Fangen dieser Thiere eine besondere Beschäftigung mancher Leute ist, so kann man sich vielleicht auf die Angabe verlassen. Bei der Schilderung einer Antilope von Süd-Afrika (Kobus eUipsiptymnus) bemerkt Sir A. Smitii ii, dass in den Heerdeu dieser und anderer Species die Männchen im Vergleiche mit den Weibchen geringer an Zahl sind: die Eingeborenen glauben, dass auch bei der Geburt der Thiere dies Verhältniss herrsche; Andere glauben, dass die jungen Männchen von den Heerden weggetrieben werden, und Sir A. Smitii sagt, dass er zwar selbst niemals Heerden gesehen habe, welche nur aus jungen Männchen bestanden hätten, dass aber Andere versichern, dass dies vorkomme. Es scheint wohl wahrscheinlich zu sein, dass, wenn die jungen Männchen von den Heerden fortgetrieben sind, sie sehr leicht den vielen Haubthieren des Landes zur Beute fallen.

Aufmerksamkeit auf den frühen Tod der Männchen gelenkt, eine Angabe, die mir später Mr. Aitchison und Andere bestätigten. Dem letztgenannten Herrn und Mr. Payan bin ich Dank schuldig für die umfassenderen Zahlenangaben über Schafe.

41 Bell, History of British Quadrnpeds, p. 100.

43 Illustrations of the Zoology of S. Africa. 1849, pl. 29.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Vögel.

In Bezug auf das Huhn habe ich nur einen einzigen Bericht erhalten, nämlich von 1001 Hühnchen eines hochgezüchteten Stammes von Co-chinchina -Hühnern, welche Mr. Stretch im Verlaufe von acht .Taliren erzogen hat; 487 ergaben sich als Männchen und 514 als Weibchen, das ist also ein Verhältniss von 94,: zu 100. Was die domesticirten Tauben betrifft, so sind hier gute Belege vorhanden, dass die Männchen im Exccss erzeugt werden, oder dass sie länger leben; denn diese Vögel paaren sich ausnahmslos treu, und einzelne Männchen sind, wie mir Mr. Tegetmeier mittheilt, immer billiger zu kaufen als Weibchen. Gewöhnlich ist von den beiden aus den zwei in demselben Gelege sich findenden Eiern erzogenen Vögeln das eine ein Männchen, das andere ein Weibchen; aber Mr. Har-rison Weir, welcher ein so bedeutender Züchter gewesen ist, sagt mir, dass er oft in demselben Neste zwei Tauber, selten dagegen zwei Tauben erzogen habe; ausserdem ist das Weibchen allgemein von beiden das schwächere Thier und geht leichter zu Grunde.

Was die Vögel im Naturzustände betrifft, so sind Mr. Gould und Andere 44 überzeugt, dass die Männchen allgemein zahlreicher sind; während doch, da die jungen Männchen vieler Arten den Weibchen ähnlich sind, natürlich die letzteren als die am zahlreichsten vertretenen scheinen sollten. Mr. Baker von Leadenhall hatte grosse Mengen von Fasanen aus von wilden Vögeln gelegten Eiern erzogen und theilt Mr. Jesxer Weir mit, dass meistens vier oder fünf Hähne auf je eine Henne producirt werden. Ein erfahrener Beobachter bemerkt43, dass in Scandinavien die Brüten des Aner- und Birkhuhns mehr Männchen als Weibchen enthalten, und dass von dem „Dal-ripa" (einer Art Schneehuhn [Lagopus subälpina Nilss.]) mehr Männchen als Weibchen die ,,Leks'' oder Balzplätze besuchen; den letzteren Umstand erklären indessen einige Beobachter dadurch, dass eine grössere Zahl von Hennen von kleinen Raubthieren getödtet wird. Aus verschiedenen von White in Seiborne 46 mitgeteilten Thatsachen scheint klar hervorzugehen, dass von den Rebhühnern die Männchen im südlichen England in beträchtlicher Ueberzahl vorhanden sein müssen ; und mir ist versichert worden , dass dies auch in Schottland der Fall sei. Mr. Weir erkundigte sich bei den Händlern, welche zu gewissen Zeiten des Jahres den Kampfläufer (Machetes piujnax) erhalten, und erhielt die Auskunft, dass bei dieser Art die Männchen bei weitem die zahlreichsten sind. Derselbe Natur-

41 Brohm kommt zu demselben Schlüsse (Ilhistr. Thierleben. Bd. IV, S. 990). 4ä Nach der Autorität von L. Lloyd, Game Birds of Sweden. 18G7, p. 12, 132.

46 Natural History of Seiborne. Letter XXIX. Ausg. von 1825. Vol. I, p. 139.

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Cap. 8.                       Zalilenverhältnisse der Geschlechter.                            273

forscher hat sich auch für mich bei den Vogelstellern erkundigt, welche jedes Jahr eine erstaunliche Menge verschiedener kleiner Vögel für deu Londoner Markt lebendig fangen, und erhielt ohne Zögern die Antwort, dass beim Buchflnkeu die Männchen an Zahl weit überwiegen; und zwar glaubte er ein so hohes Verhältniss wie 2 zu 1 oder mindestens wie 5 zu 3 annehmen zu müssen 47. Auch bei Amseln waren, wie derselbe Mann behauptete die Männchen die zahlreichsten, mochten sie nun in Schlingen oder Nachts in Netzen gefangen werden. Allem Anscheine nach kann man sich auf diese Angaben verlassen, da derselbe Mann angab, bei der Lerche, dem Leiufinken (Linaria montana) und dem Stieglitz seien die Geschlechter in ziemlich gleicher Anzahl vorhanden. Auf der andern Seite ist es sicher, dass beim gemeinen Hänflinge die Weibchen bedeutend überwiegen, aber während verschiedener Jahre in ungleicher Weise; der genannte Beobachter fand in manchen Jahren das Verhältniss der AVeibcheu zu den Männchen wie vier zu eins. Man muss indessen niclit ausser Acht lassen, dass die Hauptjahreszeit zum Fangen der Vögel nicht vor dem September anfängt, so dass bei einigen Species zum Theil schou die Wanderung begonnen haben kann; und die Schwärme bestehen um diese Zeit oft nur aus Weibchen. Mr. Salvin richtete seine Aufmerksamkeit besonders auf die Geschlechter der Colibri's in Central-Amerika und ist überzeugt, dass bei deu meisten Species die Männchen überwiegen; so erlangte er in einem Jahre 204 Exemplare, welche zu zehn Species gehörten, und darunter waren 166 Männchen und 38 Weibchen. Bei zwei anderen Arten waren die Weibchen in der Mehrzahl; die Verhältnisse variiren aber augenscheinlich entweder während verschiedener Jahreszeiten oder au verschiedenen Localitäten; denn bei einer Gelegenheit verhielten sich die Männchen von Gampyloptcrus Jie-müeucurus zu den Weibchen wie fünf zu zwei und bei einer andern Gelegenheit gerade im umgekehrten Verhältniss 4S. Da es zu dem letztem Punkte in Bezug steht will ich hinzufügen, dass Mr. Powvs fand, dass sich in Corfu und Epirus die Geschlechter des Buchfinken getrennt hielten und zwar waren „die Weibchen bei weitem die zahlreichsten", während Mr. Tristram in Palästina fand, dass „die männlichen Schwärme dem Anscheine nach die

47  Mr. Jenner Weir erhielt ähnliche Auskunft als er während des folgenden Jahres Erkundigungen anstellte. Um eine Idee von der Zahl der Buchfinken zu geben, will ich noch anführen, dass im Jahre 1800 zwei Sachverständige eine Wette machten; der eine fleug an einem Tage 02, der andere 40 männliche Buchfinken. Die grösste Zahl, welche ein Mann an einem einzigen Tage fleug, war 70.

48  The Ibis. Vol. II, p. 200, citirt in Gonld's Trochilidae, 1861, p. 52. In Bezug auf die vorstehenden Verhältnisszahlen hin ich Herrn Salviu für eine tabellarische Uebersicht seiner Resultate verbunden.

Darwin, Abstammung. I. Zweite Auflage.                                                    18

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

weiblichen bedeutend an Zahl übertrafen" 49. Su sagt ferner Mr. G. Taylor50 in Bezug auf Quiscalits major, dass in "Florida, „sehr wenig Weibchen im Verhiiltniss zu den Männchen" vorkamen, während in Honduras das umgekehrte Verhältniss herrschte und die Species den Character einer polygamen darböte.

Fische.

Bei Fischen können die Zahlenverhältnisse der beiden Geschlechter nur dadurch ermittelt werden, dass sie im erwachsenen oder fast erwachsenen Zustande gefangen werden; und auch dann noch sind viele Umstände vorhanden, welche das Erreichen irgend einer richtigen Folgerung erschweren ai. Unfruchtbare („gelte") Weibchen können leicht für Männchen genommen werden, wie Dr. Günther in Bezug auf die Forelle gegen mich bemerkt hat. Man glaubt, dass bei einigen Species die Männchen sehr bald sterben, nachdem sie die Eier befruchtet haben. Bei vielen Species sind die Männchen von viel geringerer Grösse als die Weibchen, so dass eine grosse Zahl von Männchen aus demselben Netze entschlüpfen können, mit welchem die Weibchen gefangen werden. Mr. Carbonnier a2, welcher der Naturgeschichte des Hechtes (jEsox lucius) eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat, gibt an, dass viele Männchen in Folge ihrer geringeren Grösse von den grösseren Weibchen verschlungen werden: auch ist er der Ansicht, dass die Männchen fast aller Fische aus derselben Ursache grösserer Gefahr ausgesetzt sind als die Weibchen. Nichtsdestoweniger scheinen in den wenigen Fällen, in welchen die proportionalen Zahlen der Geschlechter wirklich beobachtet worden sind, die Männchen in bedeutender Ueberzahl vorhanden zu sein.. So gibt Mr. Ii. Büist, der Oberaufseher der in Stormontfield eingerichteten Versuche, an, dass im Jahre 1865 unter 70 wegen der Beschaffung von Eiern ans Land gezogenen Lachsen über 60 Männchen waren. Auch im Jahre 1867 lenkt er die Aufmerksamkeit „auf das ungeheure „Misverhältiriss der Weibchen zu den Männchen. Wir hatten im Anfange „mindestens zehn Männchen auf ein Weibchen." Später wurden Weibchen in genügender Anzahl zur Erlangung von Eiern gefangen. Er fügt hinzu: „wegen der verhältuissmässig so grossen Anzahl von Männchen kämpfen „uud zerren sie sich beständig auf den Laichplätzen herum" '3. Ohne

49 Ibis, 1860, p. 137. 1867, p. 3G9.

Sü Ibis, 1862, p. 137.

äl Leuckart citirt Bloch (Wagncr's Handwörterbuch der Physiol. Bd. 4. 1853, S. 775), dass hei Fischen zweimal so viel Männchen als Weibchen vorkommen.

" Citirt in „The Farmer", Mareh 18. 1SG9, p. 369.

53 The Stormontfield Piscicultural Experiments, p. 23. „The Field", 29. Juni, 18G7.

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Cap 8.                       Zahleiiverbültmsse der Geschlechter.                            275

Zweifel lässt .sich dies MLsverhältniss wenigstens zum Theil, ob g'anz ist sehr zweifelhaft, dadurch erklären, dass die Männchen vor den Weibchen in den Flüssen stromaufwärts wandern. In Bezug auf die Forelle bemerkt Mr. Fr. Bucexaxd : „es ist eine merkwürdige Thatsache, dass die Männchen „an Zahl sehr bedeutend die Weibchen übertreffen. Es findet sich ausnahmslos, dass, wenn die Fische zuerst in die Netze fahren, sich zum „wenigsten sieben oder acht Männchen auf ein Weibchen gefangen haben. „Ich kann dies nicht vollständig erklären; entweder die Männchen sind „zahlreicher als die Weibchen oder die letztern suchen sich eher durch „Verbergen als durch Flucht zu retten." Er fügt dann hinzu, dass man durch sorgfältiges Absuchen der Ufer hinreichend Weibchen zur Gewinnung der Eier erlangen könne °4. Mr. H. Lee theilt mir mit, dass unter 212 zn diesem Zwecke in Lord Portsmouth's Parke gefangenen Forellen 150 Männchen und G2 Weibchen sich fanden.

Auch bei den Cypriniden scheinen die Männchen in der Mehrzahl vorhanden zu sein; aber mehrere Glieder dieser Familie, nämlich der Karpfen, die Schleihe, der Brachsen und die Elritzc folgen dem Anscheine nach dem im Tbierreiche seltenen Gebrauche der Polyandrie; denn beim Laichen begleiten stets zwei Männchen das Weibchen, eines auf jeder Seite, und beim Brachsen sogar drei oder vier. Diese Thatsache ist so wohl bekannt, dass es allgemein empfohlen wird, beim Besetzen eines Teiches zwei männliche Schleilicn auf ein Weibchen oder wenigstens drei Männchen auf zwei Weibchen zu nehmen. In Bezug auf die Elritze führt ein ausgezeichneter Beobachter an, dass auf den Laichplätzen die Männchen zehnmal so zahlreich sind als die Weibchen; sobald ein Weibchen unter die Männchen kommt, „drücken sich sofort zwei Männchen, auf jeder Seite eines, an dasselbe „heran, und wenn sie sich eine Zeit lang in dieser Situation befunden haben, „werden sie von zwei andern Männchen abgelöst" 55.

Insecten.

In dieser Classe bieten nur die Lepidoptern die Mittel dar, über die proportionalen Zahlen der Geschlechter zu einem Urtheile zu gelangen; denn diese sind von vielen guten Beobachtern mit besonderer Sorgfalt gesammelt und vom Ei oder vom Eaupenzustand in grosser Zahl erzogen worden. Ich hatte gehofft, dass mancher Züchter von Seidenwürmern vielleicht eine sorgfältige Liste geführt haben würde; aber nachdem ich nach Frankreich und

54  Land and Water, 1S63, p. 41.

55  Yarrell, Ilistory of British Fishes. Vol. I. 133G, p. 307; über Cyprinus carpio p. 331; über Tinea ttdyarls p. 331; über Ahramis brama p. 330. In Bezug auf die Elritze (Leudsms phoxinm) s. Loudou's Mag. of Natur. Hist. Vol. V. 1332, p. G32.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Italien geschrieben und verschiedene Abhandlungen eingesehen habe, kann ich nur sagen, dass ich nirgends finde, dass dies jemals geschehen ist. Die allgemeine Meinung scheint dahin zu gehen, dass die Geschlechter in ziemlich gleicher Zahl auftreten; wie ich aber von Prof. Caxestrix i höre, sind in Italien viele Züchter überzeugt, dass die "Weibchen in der Mehrzahl erzeugt werden. Indessen theilt mir derselbe Forscher mit, dass von den beiden jährlichen Zueilten des Ailanthus-Seidenwurms (Bombyx cynthia) die Männchen in der ersten bedeutend überwiegen, während in der zweiten die Geschlechter ziemlich in gleicher Anzahl oder vielleicht die Weibchen eher in Mehrzahl auftreten.

Was die Schmetterlinge im Naturzustände betrifft, so sind mehrere Beobachter sehr von dem, allem Anscheine nach enormen Uebergewicht der Männchen frappirt worden 58. So sagt Mr. Eates ,">7, wo er von den, und zwar nicht weniger als ungefähr einhundert Arten spricht, welche den oberen Theil des Amazonenstromes bewohnen, dass die Männchen viel zahlreicher sind als die Weibchen, sogar selbst bis zum Yerhältniss von hundert zu vier. In Nord-Amerika schätzt Edwards, welcher bedeutende Erfahrung hatte, bei der Gattuug Papüio die Männchen zu den Weibchen wie vier zu eins; und Mr. Walsh, welcher mir diese Angabe mittheilte, sagt mir, dass es bei P. tumus sicher der Fall sei. In Süd-Afrika fand Mr. Trimbn bei neunzehn Species die Männchen in der Mehrzahl58; und bei einer derselben, welcher auf offenen Stellen schwärmt, schätzt er das Yerhältniss der Männchen zu den Weibchen wie fünfzig zu eins. Von einer anderen Art, bei welcher die Männchen an gewissen Lokalitäten zahlreich waren, sammelte er während sieben Jahren nur fünf Weibchen. Auf der Insel Bourbon sind nach der Angabe des Mr. Maillard die Männchen von einer Species Papüio zwanzigmal so zahlreich wie die Weibchen 5i). Mr. Trimen theilt mir mit, dass es nach dem, was er selbst gesehen oder von Andern gehört hat, selten vorkommt, dass die Weibchen irgend eines Schmetterlings au Zahl die Mämicheu übertreffe; doch ist dies vielleicht bei drei südafrikanischen Arten der Fall. Mr. Wallace 60 gibt an, dass von der Ornithoptera croesus im Malayischen Archipel die Weibchen häufiger sind

56 Leuckart citirt Meinecke (AVagner's Handwörterbuch der Physiol. Bd. 4, 1853, S. 775) in Bezng auf die Angabe, dass bei Schmetterlingen die Männchen drei- bis viermal zahlreicher sind als die Weibchen.

" The Naturalist on the Amazons. Vol. II. 1863, p. 228, 347.

58  Vier von diesen Fällen hat Mr. Trimen mitgetheilt in seinem Rhopalo-cera Africae Australis.

59  citirt von Trimen in: Transact. Entomol. Soc. Vol. V, part IV. 18G6, p. 330.

r'° Transact. Liimean Soc. Vol. XXV, p. 37.

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Cap. 8.                       Zahlenverhältnissc der Geschlechter.                             277

und leichter gefangen werden als die Männchen; dies ist aber ein seltener Schmetterling. Ich will hier hinzufügen, dass Güenee in Bezug auf Hype-rythra, einem Genus der Motten, sagt, in Sammlungen aus Indien würden vier bis fünf Weibchen auf ein Männchen geschickt.

Als diese Frage nach den proportionalen Zahlen der Geschlechter der Insecten vor die Entomologische Gesellschaft gebracht wurde61, wurde allgemein zugegeben, dass die Männchen der meisten Lepidoptern im erwachsenen oder Imagozustand in grösserer Zahl gefangen würden als die Weibchen; aber mehrere Beobachter schrieben diese Thatsache dem Umstände zu, dass die Lebensweise der Weibchen mehr zurückhaltender sei und das Männchen zeitiger den Cocon verlasse. Dass das letztere bei den meisten Schmetterlingen ebenso wie auch bei anderen Insecten der Fall ist, ist allerdings wohl bekannt. Hierdurch gehen, wie Mr. Personnat bemerkt, die Männchen des domesticirten Bombyx Yamamai im Anfange der Saison und die Weibchen am Ende derselben verloren, weil sie nicht gepaart werden können 62. Ich kann mich indessen doch nicht überzeugen, dass diese Ursachen genügen sollten, den bedeutenden Ueberschuss von Männchen bei den oben erwähnten Schmetterlingen, welche in ihrem Vaterlande so ausserordentlich gemein sind, zu erklären. Mr. Stainton, welcher viele Jahre hindurch den kleineren Motten eine so eingehende Aufmerksamkeit gewidmet hat, theilt mir Folgendes mit: als er sie im Imagozustande gesammelt habe, sei er der Meinung gewesen, dass die Männchen zehumal so zahlreich wären als die Weibchen; seitdem er sie aber in grossem Maassstabe aus der Kaupe erzöge, sei er überzeugt, dass die Weibchen am zahlreichsten seien. Mehrere Entomologen stimmen dieser Ansicht bei. Doch sind Mr. Doubleday und einige Andere der entgegengesetzten Meinung und sind überzeugt, dass sie aus dem Ei oder von dem Raupeuznstande eine grössere Anzahl von Männchen als Weibchen aufgezogen haben.

Ausser der beweglicheren Lebensweise der Männchen, ihrem zeitigeren Verlassen der Cocons und dem Vorzug, den sie in manchen Fällen offenen Plätzen geben, können noch andere Ursachen für die scheinbare oder wirkliche Verschiedenheit in den proportionalen Zahlen der beiden Geschlechter bei den Lepidoptern angeführt werden und zwar sowohl wenn sie im Imagozustande gefangen, als auch wenn sie aus dem Ei oder dem Raupen zustande aufgezogen werden. Viele Züchter in Italien sind, wie ich von Prof. Cane-strini höre, der Meinung, dass die weibliche Raupe des Seidenschmetterlings mehr von der neuerdings aufgetretenen Krankheit leidet als die mänuliche; und Dr. Staudinger theilt mir mit, dass beim Aufziehen von Schmetterlingen

61  Proceed. Entomol. Soc. Febr. 17, 1868.

62  citirt von Wallace in: Proceed. Entomol. Soc. 3. Ser. Vol. V. 1867, p. 487.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

mehr Weibchen im Cocon sterben als Mänuchen. Bei vielen Species ist die weihliche Raupe grösser als die männliche; ein Sammler wird aber natürlich die schönsten Exemplare auswählen und daher unbeabsichtigter Weise eiue grössere Zahl von Weibchen sammeln. Drei Sammler haben mir erzählt, dass sie dies allerdings in der Gewohnheit hätten; Dr. AVallace ist indessen überzeugt, dass die meisten Sammler alle Exemplare von den seltenereu Arten nehmen, welche sio linden können, da diese allein der Mühe des Aufziehens werth sind. Haben Vögel eine grössere Zahl von Raupen um sich herum, so werden sie wahrscheinlich die grösseren verschlingen ; auch theilt mir Prof. Canestrixi mit, dass in Italien einige Züchter, allerdings aber auf unzureichende Beweise gestützt, der Ansicht sind, dass in der ersten Zucht des Ailanthus-Seideuspinners die Wespen eine grössere Zahl weiblicher als männlicher Ranpen zerstören. Dr. Wallace bemerkt ferner, dass die weiblichen Raupen, weil sie grösser als die männlichen sind, mehr Zeit zu ihrer Entwickoluug brauchen und mehr Nahrung und Feuchtigkeit zu sich nehmen; sie werden dadurch während einer längeren Zeit der Gefahr, von Ichneumouen, ATögeln u. s. w. zerstört zu werden, ausgesetzt sein und in Zeiten des Mangels in grösserer Anzahl umkommen. Es erscheint daher ganz gut möglich, dass im Naturzustände weniger weibliche Lepidoptern den Reifezustand erreichen, als männliche; und für unseren speciellen Zweck haben wir es mit den Zahlen im Reifezustand zu thun, wenn die Geschlechter bereit sind, ihre Art fortzupflanzen.

Die Art und Weise, in welcher die Männchen gewisser Motten sich in ausserordentlichen Masseu um ein einziges Weibchen ansammelu, weist dem Anscheine nach auf einen bedeutenden Ueherschuss an Männchen hin; doch kann diese Thatsache wohl vielleicht auch dadurch erklärt werden, dass die Männchen zeitiger ihre Pnppenhülse durchbrechen. Mr. Stainton theilt mir mit, man könne oft sehen, wie zwölf bis zwanzig Männchen sich um ein einziges AVeibchen von Elacliista rafocinerca versammeln. Es ist bekannt, dass, wenn man eine jungfräuliche Lasiocampa quercus oder Saturnia car-pini in einem Behältnisse an die Luft setzt, sich in grosser Anzahl Männchen um sie her versammeln, und ist sie in einem Zimmer eingeschlossen, so kommen die Männchen selbst (in England) durch den Kamin zu ihr. Mr. Doübleday glaubt sich erinnern zu können, dass er an fünfzig bis hundert Männchen von jeder oben erwähnten Species im Verlaufe eines einzigen Tages von einem gefangen gehaltenen AVeibchen herbeigelockt gesehen habe. Mr. Trimen stellte auf der Insel AA'ight eiue Schachtel frei hin, in 'welcher ein Weihchen der Lasiocampa am vergangenen Tage eingeschlossen worden war, und sehr bald versuchten fünf Männchen sich Eingang zu verschaffen. Mr. ArERREAux steckte in Australien das AVeibchen einer kleinen Bomhvx-Avt in einer Schachte] in seine Tasche und wurde

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;ip. S.

ZahleiiverliiiltiHssc der Geschlechter.

279

dann von einer Menge Männchen begleitet, so dass ungefähr 208 mit ihm zusammen in das Haus kamen 6S.

Mr. Doubleday hat meine Aufmerksamkeit auf Dr. Staudinger's Lepi-doptern - Liste 64 gelenkt, welche die Preise der Männchen und Weibchen von 390 Species oder gut markirten Varietäten von Schmetterlingen (Rho-palocera) aufführt. Die Preise der sehr gemeinen Arten sind natürlich für beide Geschlechter dieselben; aber bei 113 der selteneren Arten sind sie verschieden; dabei sind in allen Fällen mit Ausnahme eines einzigen die Männchen die billigeren. Im Mittel von den Preisen der 113 Species verhält sich der Preis der Männchen zu dem der Weibchen wie 100 zu 149 ; und dem Anscheine nach weist dies darauf hin, dass die Männchen im umgekehrten Verhältniss aber in denselben Zahlen den Weibchen überlegen sind. Ungefähr 2000 Species oder Varietäten von Motten (Ileterocera) sind catalogisirt, wobei diejenigen mit flügellosen Weibchen wegen der Verschiedenheit in der Lebensweise der beiden Geschlechter hier weggelassen werden; von diesen 2000 Species haben 141 einen nach dem Geschlechte verschiedenen Preis, darunter sind die Männchen von 130 billiger, dagegen die Männchen von nur 11 Species theuerer als die Weibchen. Im Mittel verhält sich der Preis der Männchen zu dein der Weibchen wie 100 zu 143. In Bezug auf die Schmetterlinge in dieser mit Preisen versehenen Liste ist Mr. Doubleday (und kein Mensch in England hat eine grössere Erfahrung gesammelt) der Ansicht, dass sich in der Lehensweise dieser Arten nichts fiudet, was die Verschiedenheit in den Preisen der beiden Geschlechter erklären könne und dass die einzige Erklärung nur in dem Ueberwiegen der Männchen der Zahl nach liegen könne. Ich bin aber verpflichtet hinzuzufügen, dass Dr. Staudetger, wie er mir mittheilt, selbst anderer Meinung ist. Er meint, dass die weniger lebendigen Gewohnheiten der Weibchen und das frühere Verlassen der Puppenhülsen seitens der Männchen es erkläre, warum seine Sammler eine grössere Anzahl von Männchen als von Weibchen erhalten, was denn natürlich anch den niedrigeren Preis der ersteren erkläre. In Bezug auf die aus Baupen erzogenen Exemplare glaubt, wie vorhin schon angeführt, Dr. Staudixger, dass eine grössere Zahl von Weibchen während der Gefangenschaft sterben, als von Männchen. Er fügt noch hinzu, dass bei gewissen Arten das eine Geschlecht während gewisser Jahre das andere überwiege.

Von directen Beobachtungen über die Geschlechter von Lepidoptern, welche entweder aus dem Ei oder aus der Raupe erzogen wurden, habe ich nur die wenigen folgenden Zahlenangaben erhalten:

63 Blanchard, Metamorphoses, Moeurs des Insectes. 1868, p. 225—226. CJ Lepidoptern-Donblettenliste. Berlin, Nr. X, 1SGC.

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280

Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Männchen. Weibchen. The Rev. J. Hellius 6"' in Esotor erzog während

des Jahres 1868 Imagos von 73 Species, welche

enthielten.......153             137

Mr. Albert Joses in Elthain erzog im Jahre 1868

Imagos von 9 Species, welche enthielten          . 15'J             126

Im Jahre 1869 erzog derselbe Images von 4

Species, davon waren . . . . ,114             112

Mr. Bückler in Emsworth, Hanta, erzog im Jahre

1869 Imagos von 74 Species, davon waren . 180             169

Dr. Wallace in Colchester erzog in einer Brut

von Bombyx cynthia . . . . .52               48

Dr. Wallace erzog 1869 aus Cocons von Bombyx

I'ernyi, welche aus China geschickt worden

waren........224             123

Dr. Wallace erzog in den Jahren 1868 u. 1869

ans zwei Sätzen von Cocons der Bombyx Ya-

mamai          ....... 52               46

Total . . 934             761

In diesen acht Partien von Cocons und Eiern wurden daher Männchen im Ueberschuss erzeugt. Nimmt man sie alle zusammen, so ist das Ver-hältniss der Männchen zu dem der Weibchen wie 122,7 zu 100. Die Zahlen, sind aber kaum gross genug, um für zuverlässig geltcu zu können. Nach den, von verschiedenen Quellen herrührenden oben mitgetheilteu Belegen, welche sämmtlich nach einer und derselben Richtung hinweisen, gelange ich im Ganzen zu der Folgerung, dass bei den meisten Species der Lcpidüptern die Männchen im Imagoznstande allgemein die Weibchen der Zahl nach übertreffen, welches auch ihr Yerhältniss bei ihrem ersten Vorlassen der Eihüllc gewesen sein mag.

In Bezug auf die anderen Insectenordnungen bin ich nur im Stande gewesen, sehr wenig zuverlässige Informationen zusammenzubringen. Beim Hirschkäfer (Lucanus cervus) „scheinen die Männchen viel zahlreicher zu sciu als die Weibchen"; als aber, wie Cornelius es im Laufe des Jahres 1867 beobachtete, eine ungewöhnliche Anzahl dieser Käfer in dem einen Theile von Deutschland auftraten, schienen die Weibchen die Männchen im Verhältniss von sechs zu eins zu übertreffen. Bei einem der Elateriden

65 Dieser Beobachter ist so freundlich gewesen, mir einige Resultate aus früheren Jahren zu schicken, nach welchen die Weibchen das Uebergewicht zu haben scheinen; es waren aber so viele der Zahlenangaben blosse Schätzungen, dass ich es für unmöglich fand, sie tabellarisch zu ordnen.

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Cap. 8.

Zahlenverhältnisse der Geschlechter.

281

sollen, wie man sagt, die Männchen viel zahlreicher als die Weibchen sein, und „oft findet man zwei oder drei Männchen in Verbindung mit einem Weibchen"66, so dass hier Polyandrie zu herrschen scheint. Von Siagonium (Staphyliniden), bei welchem die Männchen mit Hörnern versehen sind, „sind die Weibchen bei weitem zahlreicher als das andere Geschlecht." In der entomologischen Gesellschaft führte Mr. Jakson an, dass die Weibchen des Rinden fressenden Tonmus villosus so häufig sind, dass sie zu einer Plage werden, während die Männchen so selten sind, dass man sie kaum kennt. In anderen Ordnungen sind aus unbekannten Ursachen, wie es aber in einigen Fällen scheint in Folge einer Parthenogenesis, die Männchen gewisser Species noch niemals aufgefunden worden oder sind äusserst selten, so bei mehreren Arten der Cynipiden67. Bei allen gallenbildenden Cynipidon, welche Mr. AValsh bekannt sind, sind die Weibchen vier- oder fünfmal so zahlreich als die Männchen; dasselbe ist auch, wie er mir mittheilt, bei den gallenbildenden Ceciäomyiäac Zweiflügler) der Fall. Von einigen gemeinen Species der Blattwespon (Tenthredinae) hat Mr, F. Smith Hunderte von Exemplaren aus Larven aller Grössen erzogen, hat aber niemals ein einziges Männchen erhalten. Auf der anderen Seite sagt Cuktis 6"\ dass sich bei mehreren von ihm aufgezogenen Arten (Atkalia) die Männchen zu den Weibchen wie sechs zu eins verhielten, während bei den geschlechts-reifen, in den Feldern gefangenen Insecten der nämlichen Species genau das umgekehrte Verhältuiss beobachtet wurde. In Bezug auf die Neurop- -tern führt Mr. AValsh an, dass bei vielen, aber durchaus nicht bei allen Arten der Odonaten-Gruppe (Ephemerina) ein bedeutender Ueberschuss an Männchen existirt; auch bei der Gattung Iletaerina sind die Männeben mindestens viermal so zahlreich als die Weibchen. Bei gewissen Arten der Gattung Gom-phus sind die Männchen in gleicher Anzahl mit den Weibchen vorhanden, während in zwei anderen Species die Weibchen zwei- oder dreimal so zahlreich sind als die Männchen. Von einer europäischen Species von I'socus können Tausende von Weibchen ohne ein einziges Männchen gesammelt werden, während bei andern Arten der nämlichen Gattung beide Geschlechter häufig sind69. In England hat Mr. MacLachlax Hunderte

66 Günther's Piecord of zoological Literature, 1867, p. 2G0. Ueber die Ueberzahl der weiblichen Lucanus ebenda p. 250. Ueber die Männchen des Imcanus in England s. AVestwood, Modern Classific. of Insects. Vol. I, p. 187. Ueber Siagonium ebend. p. 172.

61 AValsh, in: The American Entomologist. Vol. I, 1869, p. 113. F. Smith, in: Record of zoological Literature. 18G7, p. 328.

68  Farm-Insects, p. 45—46.

69  Ohservations on North American Xeuroptera by H. Hagen and B. D. AValsb in: Proceed. Entomol. Soc. Philadelphia, Oct. 18G3, p. 168, 223, 239.

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282

Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Thcil.

der weihlichen Apatania muliebns gesammelt, aber das Männchen niemals gesehen; und von Borcus hi/emalis sind hier nur vier oder fünf Männchen gesehen worden70. Bei den meisten dieser Arten (ausgenommen, so viel ich gehört hahe, die Tenthredinen) ist kein Grund zur Verinuthung vorhanden, dass die Weibchen parthenogenetisch fortpflanzen; und da sehen wir denn, wie unwissend wir über die Ursache der offenbaren Verschiedenheit der proportionalen Zahlen der beiden Geschlechter sind.

Was die anderen Classeu der Arthropoden betrifft, so bin ich noch weniger im Stande gewesen, mir Information zu verschaffen. In Bezug auf Spinnen schreibt mir Mr. Blackwall, welcher dieser Classe viele Jahre hindurch sorgfältige Aufmerksamkeit gewidmet hat, dass die Männchen ihrer herumschweifenden Lebensweise wegen häufiger gesehen werden und daher zahlreicher zu sein scheinen. Bei einigen wenigen Species ist dies factisch der Fall; er erwähnt aber mehrere Arten aus sechs Gattungen, bei denen die "Weibchen viel zahlreicher zu sein scheinen als die Männchen71. Die im Vergleiche mit der der Weihchen geringe Grösse der Männchen, welche zuweilen bis zu einem extremen Grade getrieben ist, und ihr äusserst verschiedenes Aussehen kann wohl in einigen Fällen ihre Seltenheit in den Sammlungen erklären72.

Einige der niederen Crustaceen sind im Stande ihre Art geschlechtslos fortzupflanzen und dies wird wohl die äussorste Seltenheit der Männchen erklären. Bei einigen anderen Formen (so bei Tanais und Cypriff) ist Grund zur Annahme vorhanden, wie mir Fritz Müller mittheilt, dass das Männchen viel kurzlebiger ist als das Weibchen, weicher Umstand, vorausgesetzt dass die beiden Geschlechter anfangs in gleicher Zahl vorhanden sind, die Seltenheit der Männchen erklären würde. Auf der anderen Seite hat der nämliche Naturforscher an den Küsten vou Brasilien ausnahmslos bei weitem mehr Männchen als Weibchen von den Diastyliden und Cypri-dinen gefangen: so waren unter 63 Exemplaren einer Species der letzten Gattung, die er an einem Tage gefangen hatte, 57 Männchen; er ver-muthet aber, dass dieses Ueberwiegen vielleicht Folge irgend einer unbekannten Verschiedenheit in der Lebensweise der beiden Geschlechter sein mag. Bei einer der höheren Brasilianischen Krabben, nämlich einem Gelasimus, fand Fritz Müller die Männchen viel zahlreicher als die Weibchen. Nach

70 Proceed. Entomol. Soc. London, Febr. 17, 1868.

" Eine andere bedeutende Autorität in Bezug auf diese Classe, Prof. Thoreil in Upsala (On European Spiders, 1869—70. Part I, p. 205) äussert sich so, als wenn weibliche Spinnen im Allgemeinen häufiger wären als die männlichen.

r2 s. über diesen Gegenstand Mr. Pickard-Cambridge citirt in Quarterly Journal of Science. 1868, p. 429.

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Cap. 8.                     Zahleuverkitltnisse der Geschlechter.                         28.3

der reichen Erfahrung des Mr. Spence Bäte scheint hei sechs gemeinen Britischen Krabben, deren Namen er mir mitgetheilt hat, das Umgekehrte der Fall zu sein.

Ueber das Vermögen der natürlichen Zuchtwahl die proportionalen Zahlen der Geschlechter zu reguliren und über Allgemeine Fruchtbarkeit. — In einigen besonderen Fällen kann ein Ueberwiegen des einen Geschlechts au Zahl über das andere für eine Species von grossem Vortheile sein; dies ist z. B. mit den sterilen Weibchen socialer Insecten oder bei denjenigen Thiercn der Fall, bei welchen mehr als ein Männchen erforderlich ist um das Weibchen zu befruchten, wie bei gewissen Cirripedien und vielleicht bei gewissen Fischen. Eine Ungleichheit zwischen den Geschlechtern kann in diesen Fällen durch natürliche Zuchtwahl nicht erlangt worden sein; ihrer Seltenheit wegen brauchen sie aber nicht eingehend betrachtet zu werden. In allen gewöhnlichen Fällen würde eine Ungleichheit gewissen Individuen von keinem grösseren Vortheile oder Nachthoile sein als anderen; und deshalb kann sie kaum das Resultat natürlicher Zuchtwahl sein. Wir müssen die Ungleichheit der directen Einwirkung jener unbekannten Bedingungen zuschreiben, welche es beim Menschen verursachen, dass in gewissen Ländern die Männchen in einem etwas bedeutenderen Ueberschusse geboren werden als in anderen, oder welche die Ursache davon sind, dass das Verhältniss zwischen den Geschlechtem unbedeutend bei legitimen und illegitimen Geburten differirt.

Wir wollen nun einmal den Fall annehmen, eine Species producire aus den eben erwähnten unbekannten Ursachen von dem einen Ge-schlechte — wir wollen sagen von dem männlichen — einen Ueber-schuss, welcher überflüssig und nutzlos oder beinahe nutzlos ist. Könnte nun die Zahl der Geschlechter durch geschlechtliche Zuchtwahl ausgeglichen werden? Nach der Thatsache, dass alle Charactere variabel sind, können wir mit Sicherheit annehmen, dass gewisse Paare einen etwas geringeren Ueberschuss an Männchen über die Weibchen produ-ciren werden, als andere Paare. Angenommen, die factische Zahl der Nachkommen bliebe constant, so würden die ersteren nothwendig mehr Weibchen produciren und in Folge hiervon produetiver sein. Nach der Wahrscheinlichkeitslohre würde eine grössere Zahl von Nachkommen der produetiveren Paare leben bleiben und diese würden eine Neigung erben, weniger Männchen und mehr Weibchen zu erzeugen. Hierdurch

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284                                   Geschlechtliche Zuchtwahl.                            II. Theil.

würde sich eine Neigung zur Ausgleichung der Geschlechter entwickeln. Unsere Species würde aber durch diesen Process, wie oben bemerkt produetiver gemacht werden, und dies wird in vielen Füllen auch nicht entfernt einen Vortheil darbieten; denn sobald nur immer die Grenze der bestehenden Zahl nicht von der Zerstörung durch Feinde, sondern von der Menge der Nahrung abhängt, wird die erhöhte Fruchtbarkeit zu einer schärferen Concurrenz führen und die Meisten der Lebenblei-benden werden schlecht ernährt. In diesem Falle würde, wenn die Geschlechter durch eine Zahleuzunahme der Weibchen ausgeglichen würden, eine gleichzeitige Abnahme der Gesammtzahl der Nachkommen wohlthätig oder selbst nothwendig für die Existenz der Art sein und dies kann, wie ich glaube, in der später zu schildernden Weise durch die natürliche Zuchtwahl bewirkt werden. Dieselbe Keihe von Betrachtungen ist für den obigen wie für den folgenden Fall anwendbar, wenn wir annehmen, dass anstatt der Männchen Weibchen in Ueberschuss erzeugt werden; denn solche Weibchen wären, da sie sich nicht mit Männchen verbinden, überflüssig und nutzlos. Dasselbe würde für polygame Arten gelten, wenn wir annehmen, dass der Ueberschuss der Weibchen über die Maassen gross sei.

Ein Ueberwiegen des einen Geschlechts, — wir wollen wieder sagen des männlichen, — könnte indessen dem Anscheine nach durch die natürliche Zuchtwahl in einer andern und indirecten Weise elimi-nirt werden, nämlich durch eine factische Verminderung der Männchen ohne irgend welche Zunahme der Weibchen und folglich auch ohne Zunahme der Productivität der Art. Nach der Variabilität aller Cha-ractere können wir uns überzeugt halten, dass einige Paare, welche irgend eine Localität bewohnen, einen etwas geringeren Ueberschuss an überzähligen Männchen, aber eine gleiche Anzahl produetiver Weibchen hervorbringen werden. Wird die ganze Nachkommenschaft der mehr und der weniger Männchen producii enden Eltern vollständig durcheinander gemischt, so werden keine derselben irgend einen direeten Vortheil vor anderen haben; aber diejenigen, welche wenig überzählige Männchen hervorbringen, werden einen grossen direeten Vortheil haben, den nämlich, dass ihre Eier oder Embryonen wahrscheinlich grösser und schöner oder ihre Jungen sowohl im Mutterleibe als später besser ernährt werden. Wir sehen Illustrationen dieses Princips bei Pflanzen; diejenigen, welche eine ungeheure Anzahl von Samen produciren, bringen nur kleine hervor, während diejenigen, welche vergleichsweise wenig Samen tragen,

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Cap. 8.

Zahleiiverhältnisse der Geschlechter.

285

oft grosse mit Nahrungsstoff zum Gebrauche des jungen Sämlings gut versorgte Samen hervorbringen73. Es werden daher die Nachkommen derjenigen Eltern, welche am wenigsten Kraft auf die Erzeugung überzähliger Männchen verschwendet haben, die grösste Wahrscheinlichkeit haben, leben zu bleiben, und werden dieselbe Neigung, keine überzählige Männchen zu produciren, erben, während sie doch in Bezug auf die Erzeugung von AVeibchen ihre volle Fruchtbarkeit bewahren. Dasselbe würde auch im umgekehrten Falle mit den AVeibchen eintreten. Irgend ein unbedeutender Ueberschuss eines der beiden Geschlechter wird indessen kaum in einer so indirecten Weise gehemmt werden können. Auch ist factisch eine beträchtliche Ungleichheit zwischen den Geschlechtern nicht immer verhindert worden, wie wir an den in der vorstehenden Erörterung gegebenen Beispielen gesehen haben. In diesen Fällen sind die unbekannten Ursachen, welche das Geschlecht des Embryo bestimmen und welche unter gewissen Bedingungen zur Hervorbringung eines Ueberscliusses des einen Geschlechts über das andere führen, nicht durch das Ueberleben derjenigen Varietäten überwunden worden, welche dem geringsten Verschwenden organischer Substanz und organischer Kraft durch Erzeugung überzähliger Individuen des einen Geschlechts ausgesetzt waren. Nichtsdestoweniger können wir schliessen, dass die natürliche Zuchtwahl, zwar zuweilen wirkungslos, die relativen Zahlen der beiden Geschlechter auszugleichen bestrebt sein wird.

Nachdem ich so viel über die Ausgleichung der beiden Geschlechter gesagt habe, dürfte es nicht unzweckmässig sein, ein paar Bemerkungen über die Regulirnng der gewöhnlichen Fruchtbarkeit der Species durch natürliche Zuchtwahl hinzuzufügen. In einer eingehenden Erörterung hat Mr. Herbert Spencer gezeigt74, dass bei allen Organismen ein Verhältniss zwischen den beiden Momenten besteht, welche er Indivi-duation und Genesis nennt; daraus folgt, dass Wesen, welche in ihrem Wachsthume, complicirten Baue oder in ihren Lebensthätigkeiten viel Substanz oder Kraft verbrauchen, oder welche Eier und Embryonen von bedeutender Grösse erzeugen oder welche viel Lebenskraft auf die Ernährung ihrer Jungen verwenden, nicht so produetiv sein können, als

,s Mir ist oft die Thatsache aufgefallen, dass hei mehreren Species von Primula die Samen in denjenigen Kapseln, welche nur einige wenige Körner enthielten, sehr bedeutend grösser waren, als die zahlreichen Samen in den produc-tiveren Kapseln.

,J Principles of Biology. Vol. II, 1SG7, Cap. II—XI.

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28G

Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Thcil.

Wesen einer entgegengesetzten Natur. Mr. Spencer zeigt ferner, dass unbedeutendere Verschiedenheiten in der Fruchtbarkeit durch natürliche Zuchtwahl regulirt werden. So wird die Fruchtbarkeit einer jeden Art sich zu vergrössern streben, da die fruchtbareren Paare eine grössere Zahl von Nachkommen hervorbringen; und diese wiederum werden schon ihrer Zahl wegen die grösste Wahrscheinlichkeit für sich haben, leben zu bleiben, und werden ihre Neigung zur grösseren Fruchtbarkeit vererben. Das einzige Hemmniss für eine beständige Zunahme der Fruclitljarkeit bei allen Organismen scheint entweder in dem Aufwände von mehr Lebenskraft und den grösseren Gefahren zu liegen, denen Eltern, welche eine zahlreichere Nachkommenschaft erzeugen, ausgesetzt sind, oder in dem Umstände, dass die Erzeugung sehr zahlreicher Eier uud Jungen mit ihrer geringeren Grösse und geringeren Lebenskraft oder später mit ihrer weniger guten Ernährung zusammenfällt. Iu jedem einzelnen Falle genau abzuwägen, wie gross die Nachtheile einer Erzeugung zahlreicher Nachkommen für eine Art und wie gross die Vortheile sind (wie z. B., dass wenigstens einige Individuen verschiedenartigen Gefahren entgehen werden), liegt völlig jenseits unseres Beurtheilungs-vermögens.

Wie die Fruchtbarkeit eines Organismus, wenn er einmal äusserst fruchtbar gemacht worden ist, durch natürliche Zuchtwahl verringert werden kann, ist nicht so deutlich zu verstehen als wie diese Eigenschaft zuerst erlangt wurde. Und doch liegt auf der Hand, dass, wenn die Individuen einer Species in Folge der Abnahme ihrer natürlichen Feinde beständig in grösserer Zahl aufgezogen würden, als sich zu erhalten im Stande wären, sie sämmtlich leiden würden. Nichtsdestoweniger würden die Nachkommen der weniger fruchtbaren Eltern keinen directen Vortheil über die Nachkommen der fruchtbareren Eltern voraus haben, wenn alle in einem und demselben Bezirke durch einander gemengt lebten. Sämmtliche Individuen würden versuchen, sich gegenseitig einander auszuhungern. Allerdings würden die Nachkommen der weniger fruchtbaren Eltern unter einem grossen Nachtheile zu leiden haben; denn schon nach der einfachen Thatsache', dass sie in geringerer Zahl erzeugt sind, wrerden sie einer Ausrottung am meisten ausgesetzt sein. Indirect indessen werden sie an einem grossen Vortheile Theil haben; denn unter der vorausgesetzten Bedingung starker Concurrenz, wo sämmtliche Individuen in Noth um Nahrung sind, ist es äusserst wahrscheinlich, dass diejenigen Individuen, welche iu Folge irgend einer Abäude-

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Cap. 8.                      Zahlenverhältnissc der Geschlechter.                            287

mag ihrer Constitution weniger Eier oder Junge hervorbringen, diese von besonderer Grösse oder Lebenskraft hervorbringen werden; und die aus solchen Eiern erzogenen oder aus solchen Jungen erwachsenen reifen Individuen werden offenbar die grösste Wahrscheinlichkeit haben, leben zu bleiben und werden eine Neigung zu verminderter Fruchtbarkeit vererben. Ueberdies werden die Eltern, welche weniger Nachkommen zu ernähren und zu versorgen hatten, selbst einem weniger harten Stande im Kampfe nm's Dasein ausgesetzt sein und mit grösserer Wahrscheinlichkeit andere Formen überleben. Tn dieser Weise, und soweit ich es übersehen kann in keiner andern, wird unter den oben genannten Bedingungen einer scharfen Coucurrenz um Nahrung die natürliche Zuchtwahl zur Bildung einer neuen weniger fruchtbaren, aber besser als die elterliche Kasse zum Ueberlebenbleibeii ausgestatteten Rasse führen.

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Neuntes Capitel.

Secundäre Sexiialcliaractere in den niederen Classen des Thierreichs.

Derartige Charactere fehlen in den niedersten Classen. — Glänzende Farben. — Mollusken. — Anneliden. — Crustaceen, secundäre Sexualcharactere hier stark entwickelt; Dimorphismus; Farbe; Charactere, welche nicht vor der Keife erlangt werden. — Spinnen, Geschlechtsfarben derselben; Stridulation der Männchen. — Myriapoden.

In den niedersten Classen des Thierreichs sind die beiden Geschlechter nicht selten in einem und demselben Individuum vereinigt und in Folge hiervon können secundäre Sexualcharactere nicht entwickelt werden. In vielen Fällen, wo die beiden Geschlechter getrennt sind, sind die einzelnen verschiedeiigeschlechtlichen Individuen an irgend eine Unterlage dauernd befestigt, so dass das eine nicht das andere suchen oder um dasselbe kämpfen kann. Ueberdies ist es beinahe sicher, dass diese Thiere zu unvollkommene Sinne und viel zu niedrige Geisteskräfte haben, um gegenseitig die Mitwerbung zu empfinden oder die Schönheit und andere Anziehungspunkte des andern Geschlechts zu würdigen.

In so niedrigen Classen wie den Protozoen, Coelenterateu, Echi-nodermen und Scoleciden kommen daher echte secundäre Sexualcharactere nicht vor; und diese Thatsache stimmt zu der Annahme, dass derartige Charactere in den höheren Classen durch geschlechtliche Zuchtwahl erlangt worden sind, welche von dem Willen, den Begierden und der Wahl der beiden Geschlechter abhängt. Nichtsdestoweniger kommen dem Anscheine nach einige wenige Ausnahmen vor: so höre ich z. B. von Dr. Baird, dass die Männchen gewisser Eingeweidewürmer vor den Weibchen unbedeutend in der Färbung abweichen. Wir haben aber keinen Grund zu der Vermuthung, dass derartige Verschiedenheiten durch geschlechtliche Zuchtwahl gehäuft worden seien.

Viele von den niederen Thieren, mögen sie hermaphroditisch oder

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Cap. 9.                                  Polypen und Medusen.                                      289

getrenntgeschleehtlich sein, sind mit den glänzendsten Farbentönen geziert oder in einer eleganten Art und Weise sehattirt oder gestreift. Dies ist der Fall mit vielen Corallen und See-Anemonen (Ariimae), mit einigen Quallen (Medusae, Porpila u. s. w.), mit manchen Planarien, Ascidien, zahlreichen Seesternen, Seeigeln u. s. w.; wir können aber aus den bereits angeführten Gründen, nämlich aus der Vereinigung der beiden Geschlechter bei einigen dieser Thiere, dem dauernd festgehefteten Zustande anderer und den niedrigen Geisteskräften aller, schliessen, dass solche Farben nicht als geschlechtliche Anziehungsreize dienen und nicht durch geschlechtliche Zuchtwahl erlangt worden sind. Bei den höheren Thieren liegt die Sache sehr verschieden; denn wenn bei diesen das eine Geschlecht glänzender oder auffallender gefärbt ist als das andere und wenn keine Verschiedenheit in den Lebensgewohnheiten der beiden Geschlechter besteht, welche diese Abweichungen erklären könnte, so haben wir Grund, an den Einfluss der geschlechtlichen Zuchtwahl zu glauben; diese Annahme wird auch dadurch noch kräftig unterstützt, dass die bedeutender verzierten Individuen, welches fast immer die Männchen sind, ihre ßeize vor dem andern Geschleehte entfalten. Sind beide Geschlechter glcieh gefärbt, so können wir diese Folgerung auch auf beide Geschlechter in dem Falle ausdehnen, dass ihre Färbung derjenigen des in gewissen andern Species derselben Gruppe allein so gefärbten Geschlechts offenbar analog ist.

Wie haben wir denn nun die schönen oder selbst prachtvollen Farben vieler Thiere der niedersten Classen zu erklären ? Es erscheint sehr zweifelhaft, ob derartige Färbungen gewöhnlich zum Schutze dienen; doch sind wir in Hinsicht auf Merkmale aller Arten, sobald wir sie zu einem Schutze in Beziehung bringen wollen, äusserst leicht einem Irrthum unterworfen, wie jeder zugeben wird, welcher Mr. Wallace's ausgezeichnete Abhandlung über diesen Gegenstand gelesen hat. Es würde z. B. auf den ersten Blick wohl Niemanden der Gedanke kommen, dass die vollkommene Durchsichtigkeit der Quallen oder Medusen von dem höchsten Nutzen für sie als ein Schutzmittel sei; wenn wir aber von Häckel daran erinnert werden, dass nicht bloss die Medusen, sondern auch viele oceanisehe Mollusken, Crustaceen und selbst kleine oceanische Fische dieselbe glasähnliche Beschaffenheit darbieten, so können wir kaum daran zweifeln, dass sie durch dieselbe der Aufmerksamkeit pelagiseher Vögel und anderer Feinde entgehen.

Trotz unserer Unwissenheit darüber, wie weit in diesen Fällen die

DAltwis, Abstammung. I. Zweite Auflage.                                                   19

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Färbung zum Schutze dient, scheint doch die wahrscheinlichste Ansicht mit Rücksicht auf die prachtvollen Tinten vieler der niedrigsten Thicre die zu sein, dass deren Farben das directe Resultat entweder der chemischen Beschaffenheit oder der feineren Structur ihrer Körpergewebe sind und zwar unabhängig von irgend einem daraus fliessenden Vor-theile. Kaum irgend eine Farbe ist schöner als das arterielle Blut; es ist aber kein Grund vorhanden zu vermuthen, dass die Farbe des Blutes au sich irgend ein Vortheil sei; und wenn sie auch dazu beiträgt, die Schönheit der Wangen eines Mädchens zu erhöhen, so wird doch Niemand behaupten wollen, dass sie zu diesem Zwecke erlangt worden sei. So ist ferner bei vielen Tbieren, und besonders bei den niederen, die Galle intensiv gefärbt; in dieser Weise ist z. B. die ausserordentliche Schönheit der Eoliden (nackter Seeschnecken), wie mir Dr. Hancock rnit-gethcilt hat, hauptsächlich eine Folge der durch die durchscheinenden Hautbedeckungen hindurch gesehenen Gallendrüsen; und wahrscheinlich ist diese Schönheit von keinem Nutzen für diese Thiere. Die Färbungen der absterbenden Blätter in einem amerikanischen Walde werden von Allen, die sie gesehen haben, als prachtvoll beschrieben; und doch nimmt Niemand an, dass diese Färbungen für die Bäume von dem allergeringsten Nutzen sind. Erinnert man sich daran, wie viele Substanzen neuerlich von Chemikern gebildet worden sind, welche natürlichen organischen Verbindungen äusserst analog sind und welche die prachtvollsten Farben darbieten, so müssten wir es doch für eine befremdende Thatsache erklären, wenn nicht ähnlich gefärbte Substanzen oft auch unabhängig von einem dadurch erreichten nützlichen Zwecke in dem complicirteii Laboratorium der lebenden Organismen entstanden wären.

Unterreich der Mollusken. — Durch diese ganze grosse Abtheilung des Thierreichs (in ihrer weitesten Bedeutung genommen) kommen seeundäre Sexualcharactere, solche wie wir sie hier betrachten, so weit ich es ausfindig machen kann, nirgends vor. Tu den drei niedrigsten Classen, nämlich den Ascidicn, Bryozoen und Brachio-poden (die Molluscoiden Huxley's bildend) wären solche auch nicht zu erwarten gewesen, denn die meisten der hierher gehörigen Thiere sind beständig an irgend eine Unterlage befestigt oder haben die Geschlechter in einem und demselben Individuum vereinigt. Bei den Lamelli-branchiern, oder den zweischaligen Muscheln, ist Hermaphroditismus

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Cap. 9.                   Secundäre Sexualcharactere der Mollusken.                     291

nicht selten. In der nächst höheren Classe, der der Gasteropoden oder einschaligen Schnecken, sind die Geschlechter entweder vereint oder getrennt. In diesem letzteren Falle aber besitzen die Männchen niemals specielle Organe zum Finden, Festhalten oder Reizen der Weibchen oder zum Kämpfen mit andern Männchen. Die einzige äusserliche Verschiedenheit zwischen den Geschlechtern bestellt, wie mir Mr. Gwyn Jeffkeys mittheilt, darin, dass die Schalen zuweilen ein wenig in der Form abweichen; so ist z. B. die Schale der gemeinen Strandschnecke (Littorina littorea) beim Männchen etwas schmäler und hat eine etwas verlängertem Spindel als die des Weibchens. Aber Verschiedenheiten dieser Art stellen, wie wohl vermuthet werden kann, direct im Zusammenhang mit dem Acte der Reproduction oder mit der Entwickelung der Eier. Wenn auch die Gasteropoden einer Ortsbewegung fähig und mit unvollkommenen Augen versehen sind, so sclieinen sie doch nicht mit hinreichenden geistigen Kräften ausgerüstet zu sein, um den Individuen eines und desselben Geschlechts einen Kampf der Nebenbuhlerschaft zu gestatten und dadurch secundäre Sexualcharactere erlangen zu lassen. Nichtsdestoweniger geht bei den lungenathmenden Gasteropoden oder Landschnecken der Paarung eine Werbung voraus; denn wenn diese Thiere auch Hermaphroditen sind, so sind sie doch durch ihre Struktur gezwungen, sich zu paaren. Agassiz bemerkt': nQweouque „a eu l'occasion d'obserrcr les amours des limagons, ne saurail mellre „en doute la sedueüon deployie dans les mouvements et les allures nqui preparent et accomplissenl le double embrassentent de ces herma-„phrodiles." Es sclieinen diese Thiere eines geringen Grades dauernder Anhänglichkeit fähig zu sein. Ein sorgfältiger Beobachter, Mr. Lons-dale, theilt mir mit, dass er einmal ein Paar Landschnecken (Helix pomatia), von denen die eine schwächlich war, in einen kleinen und schlecht versorgten Garten gethan habe. Nach einer kurzen Zeit war das kräftige und gesunde Individuum verschwunden und konnte nach der schleimigen Spur, die es hinterlassen hatte, über die Mauer in einen benachbarten gut versorgten Garten verfolgt werden. Mr. Lonsdale folgerte daraus, dass es seinen kränklichen Genossen verlassen habe; aber nach einer Abwesenheit von vierundzwanzig Stunden kehrte es zurück und theilte offenbar das Resultat seiner erfolgreichen Entdeckungsreise seinem Gefährten mit, denn beide machten sich nun auf denselben Weg und verschwanden über die Mauer.

J De l'Espece et de la Classific. etc. 18G9, p. 10G.

19*

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Selbst in der höchsten Classe der Mollusken, der der Cephalopodcn oder der Tintenfische, bei welchen die Geschlechter getrennt sind, kommen seeundäre Sexualckaractere von der Art, welche wir liier betrachten, so viel ich sehen kann, nicht vor. Dieser Umstand überrascht wohl allerdings, da diese Thiere hoch entwickelte Sinnesorgane besitzen und auch beträchtlich ausgebildete geistige Kräfte haben, wie alle die zugeben werden, welche die kunstvollen Bestrebungen dieser Thiere, ihren Feinden zu entgehen, beobachtet haben -. Gewisse Ceplialopoden sind indessen durch ein ausserordentliches Geschlechtsmerkmal cliarac-terisirt: das männliche Sexualelement wird nämlich bei diesen in einem der Arme oder Tentakeln angesammelt, welcher dann abgeworfen wird und, sich mit seinen Saugnäpfen an den "Weibchen festhaltend, eine Zeit lang ein selbständiges Leben führt. Dieser abgeworfene Arm ist einem besondern Thiere so vollständig ähnlich, dass er von Cüvier als parasitischer Wurm, Hcctocotylus, beschrieben wurde. Diese wunderbare Bildung dürfte aber eher als ein primärer denn als ein seeun-därer Geschlechtscharacter bezeichnet werden.

Obgleich nun bei den Mollusken geschlechtliche Zuchtwahl nicht in's Spiel gekommen zu sein scheint, so sind doch viele einschalige Schnecken und zweischalige Muscheln, wie Voluten, Conus, Pilgrim-muscheln u. s. w. schön gefärbt und geformt. Die Farben sind dem Anscheine nach in den meisten Fällen von keinem Kiitzen als Schutzmittel; sie sind wahrscheinlich wie in den niedrigsten Classen das di-recte Kesultat der Beschaffenheit der Gewebe; und die Formen und die Sculptur der Schale hängt von der Art und Weise ihres Wachsthums ab. Die Menge von Licht scheint bis zu einem gewissen Maasse von Einfluss zu sein; denn obgleich, wie mir Mr. Gwyn Jeffreys wiederholt bestätigt hat, die Schalen mancher in grösster Tiefe lebender Arten glänzend gefärbt sind, so sehen wir doch im Allgemeinen, dass die untern Schalenflächen und die vom Mantel bedeckten Theile weniger hell gefärbt sind, als die obern und dem Lichte ausgesetzten Flächen 3. In manchen Fällen, wie bei Schalthieren, welche mitten unter Corallen

2  s. z. B. den Bericht, welchen ich in meinem Journal of Reseavches, 1845, p. 7 gegeben habe.

3  Ich habe ein merkwürdiges Beispiel vom Einfluss des Lichts auf die Färbung einer sich verzweigenden Incrustation gegeben (Geolog. Observations on Volcanic Islands. 1844, p. 53.) Dieselbe war vom Wellenschlag an den Uferklippen der Insel Ascension abgelagert worden und war gebildet aus der Lösung zerriebener Muschelschalen.

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Cap. 0.                 Secundäre Sexualcharactere der Mollusken.                       293

oder hell gefärbten Meerpflanzen leben, dürften die hellen Farben als Schutzmittel dienen. Aber viele der Nudibranchier oder nackten See-schnecken sind ebenso schön gefärbt wie irgendwelche Schneckenschalen, wie in dem prachtvollen Werke der Herren Aldee und Hancock nachgesehen werden kann; und nach einer mir freundlichst von Mr. Hancock gemachten Mittheilung ist es äusserst zweifelhaft, ob diese Farben gewöhnlich den Thieren zum Schutze dienen. Bei einigen Arten mag dies wohl der Fall sein, wie bei einer, welche auf den grünen Blättern von Algen lebt und selbst schön grün gefärbt ist. Aber viele hellgefärbte, weisse oder in anderer Weise auffallende Specics suchen kein Versteck; während andererseits gleichmässig auffallende Species, ebenso wie andero düster gefärbte Arten unter Steinen und in dunklen Höhlungen leben. Offenbar steht daher bei diesen nudibranchen Mollusken die Färbung in keiner innigen Beziehung zu der Beschaffenheit der Oert-lichkeiten, welche sie bewohnen.

Diese nackten Seeschnecken sind Hermaphroditen; trotzdem paaren sie sich aber, wie es auch die Landsclmecken thun, von denen viele ausserordentlich nette Schalen besitzen. Es wäre wohl denkbar, dass zwei Hermaphroditen, gegenseitig durch die bedeutendere Schönheit angezogen, sich verbinden und Nachkommen hinterlassen könnten, welche die grössere Schönlieit ihrer Eltern erben würden. Aber bei so niedrig orgauisirten Wesen ist dies ausserordentlich unwahrscheinlich. Es springt auch durchaus nicht sofort in die Augen, warum die Nachkommen der schöneren Paare von Hermaphroditen über die Nachkommen der weniger schönen irgendwelchen Vortheil von der Art haben sollten, dass sie nun an Zahl zunähmen, wenn nicht Lebenskraft und Schönheit allerdings allgemein zusammenfielen. Wrir haben liier nicht einen solchen Fall vor uns, wo die Männchen früher als die Wreibchen reif werden und die schöneren Männchen dann von den lebenskräftigeren Weibchen ausgewählt werden. Allerdings wenn brillante Farben für ein hermaphroditisches Thier in Bezug auf seine allgemeinen Lebensgewohnheiten wohlthätig wären, würden auch die lebendiger gefärbten Individuen am besten fortkommen und an Zahl zunehmen; dies wäre aber dann ein Fall von natürlicher und nicht von geschlechtlicher Zuchtwahl.

Unterreich der. Würmer: Classe der Anneliden (oder Ringel würmer). — Obgleich in dieser Classe die beiden Geschlechter, wenn sie getrennt sind, zuweilen in Merkmalen von solcher Bedeutung

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

von einander verschieden sind, dass sie in verschiedene Gattungen oder selbst Familien gebracht worden sind, so scheinen die Verschiedenheiten doch nicht von der Art zu sein, dass man sie mit Sicherheit der geschlechtlichen Zuchtwahl zuschreiben könnte. Es stehen diese Thiere, wie diejenigen der vorhin erwähnten Classen, dem Anscheine nach zu tief auf der Stufenleiter, als dass man annehmen könnte, die beiden Geschlechter Hessen irgend eine Wahl eintreten, um einen Genossen zu erlangen, oder die Individuen eines und desselben Geschlechts wären im Stande, mit ihren Nebenbuhlern zu kämpfen.

Unterreich der Arthropoden; Classe: Crustaceen. — In dieser grossen Classe begegnen wir zuerst unzweifelhaften seeundären Sexualcharacteren, welche oft in einer merkwürdigen Weise entwickelt sind. Unglücklicherweise ist die Lebensweise der Crustaceen sehr unvollkommen bekannt und wir können daher den Gebrauch vieler, nur dem einen Geschlechte eigenthümlichen Structurverhältnisse nicht erklären. Bei den niedrigen parasitischen Species sind die Männchen von geringer Grösse und nur sie allein sind mit vollkommenen Schwimm-füssen, Antennen und Sinnesorganen versehen. Die Weibchen entbehren dieser Organe und ihr Körper besteht oft nur aus einer unförmlichen, sackartigen Masse. Diese ausserordentlichen Verschiedenheiten zwischen den beiden Geschlechtern stehen aber ohne Zweifel in Beziehung zu ihrer so sehr von einander abweichenden Lebensweise und berühren uns in Folge dessen hier nicht. Bei verschiedenen, zu verschiedenen Familien gehörigen Crustaceen sind die vordem Antennen mit eigenthümlichen fadenförmigen Körpern versehen, von denen man glaubt, dass sie als Geruchsorgane fnngiren; und diese sind bei den Mäimchen bedeutend zahlreicher als bei den Weibchen. Da die Männchen schon ohne eine ungewöhnliche EntWickelung ihrer Geruchsorgane beinahe mit Sicherheit früher oder später im Stande sein würden die Weibchen zu finden, so ist die bedeutendere Anzahl der Kiechfäden wahrscheinlich durch geschlechtliche Zuchtwahl erlangt worden, und zwar dadurch, dass die besser damit ausgerüsteten Männchen bei dem Finden von Genossinnen und dem Hinterlassen von Nachkommenschaft am erfolgreichsten gewesen sind. Fritz Müller hat eine merkwürdige dimorphe Species von Tanais beschrieben, bei welcher das Männchen durch zwei distinete Formen.repräsentirt wird, welche niemals in einander übergehen. Bei der einen Form ist das Männchen mit zahlreicheren Riechfädeu, bei der

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Ca]), y.                   Secnndäre Sexnalcliaractere der Crnstaceen.                      295

andern mit kräftigeren und verlängerteren Chelae oder Scheeren versehen, welche dazu dienen, das Weibchen festzuhalten. Fritz Müller vermuthet, dass diese Verschiedenheiten zwischen den beiden männlichen Formen einer und derselben Species dadurch entstanden sein müssen, dass gewisse Individuen in der Anzahl ihrer Eiechfäden variirt haben, während bei andern Individuen die Form und die Grösse ihrer Scheeren variirt habe; so dass von den ersteren diejenigen, welche am besten im Stande waren, die Weibchen zu finden, und von den letzteren diejenigen, welche am besten im Stande waren das Weibchen sobald sie es gefunden hatten festzuhalten, die grössere Anzahl von Nachkommen hinterlassen haben, um ihre beziehent-lichen Vortheile zu erben 4.

Bei einigen der niederen Crnstaceen weicht die rechte vordere Antenne des Männchens in ihrer Strnctur bedeutend von der der linken Seite ab, wobei die letztere in ihren einfachen spitz auslaufenden Gliedern den Antennen des Weibchen ähnlich ist. Beim Männchen ist die modificirte Antenne ent-Avcder in der Mitte geschwollen oder winklig gebogen oder (Fig. 3) in ein elegantes und zuweilen wunderbar complicirtes Greiforgan verwandelt5. Wie ich von Sir J. Lubbock höre, dient es dazu, das Weibchen festzuhalten; und zu demselben Zwecke ist einer der beiden hinteren Füsse (b) auf derselben Seite des Körpers in eine Scheere verwandelt. Bei einer andern Familie sind die unteren oder hinteren Antennen nur bei den Männchen „in merkwürdiger Weise zickzackförmig gebildet."

Bei den höheren Crnstaceen bilden die vordem Füsse ein Paar Zangen oder Scheeren und diese sind allgemein beim Männchen grösser als beim

Fig-, 3. Labidocera Vanci-mi (nach Lubbock).

a)   Theü der vordem rechten Antenne des Männchens , ein Greiforgan bildend;

b)  hinteres Paar der Tho-raxfüsse des Männchens;

c)  dasselbe vom "Weibchen.

4  „Für Darwin." Leipzig, 1864, S. 15. s. die vorausgehende Erörterung über die Riechfaden. Sars hat einen einigermaassen analogen Fall bei einem Norwegischen Kruster, der Pontoporela affhü-% beschrieben, s. das Citat in „Na-tnre", 1870, p. 455.

5  s. Sir J. Lubbock in: Ann. and Magaz. of Nat. Hist. Vol. XL 1S53. PL I. und X. und Vol. XII (1853) PI. VII. s. auch Lubbock in: Transact. Ento-mol. Soc. New Ser. Vol. IV. 1850—58, p. 8. In Bezug auf die oben erwähnten zickzackförmigen Antennen s. Fritz Müller, Für Darwin. S. 27, Amn. 1.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. The iL

"Weibchen. Bei vielen Species sind die Scheeren auf den entgegengesetzten Seiten des Körpers von ungleicher Grösse, wobei, wie mir Mr. C. Spence Bäte mittheilt, die der rechten Seite meistens, wenn auch nicht unabänderlich, die grössten sind. Diese Ungleichheit ist oft beim Männchen viel bedeutender als beim Weibchen. Auch weichen die beiden Scheeren oft

Fig. i. Yordertheil des Körpers von CalUanassa (nach Milm-Edwards), die ungleich und vorschieden gebildeten Scheeren der rechten und linken Seite vom Männchen zeigend. NB. Durch Versehen des Zeichners ist die linke Scheere die grösste geworden; [die Zeichnung ist ohne Spiegel auf Holz übertragen worden].

Fig. 5.                                                                 Fig. 6.

Fig. 5. Fuss des zweiten Paares von der männlichen Orchestia Tucuratinga (nach F ritz Müller). Fig. 6. Dasselbe vom AVeibehen.

in ihrer Structur von einander ah (Fig. 4, 5 und 6), wobei die kleineren denen des Weibchens ähnlich sind. Was für ein Vortlieil durch die Ungleichheit dieser Organe auf den gegenüberliegenden Seiten des Körpers und dadurch erlangt wird, dass die Ungleichheit beim Männchen viel bedeutender ist als beim Weibchen; und warum sie, auch wenn sie von gleicher Grösse sind, oft beide beim Männchen viel grösser sind als beim Weibchen, ist unbekannt. Die Scheeren sind zuweilen von solcher Länge und Grösse, dass sie, wie ich von Mr. Spexce Bäte höre, unmöglich dazu benutzt werden können, Nahrung zum Munde zu führen. Bei den Männchen gewisser Süsswasser-Garneeleu (Pulaemon)

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Cap. 9.              Secund&re Geschlechtscharactere der Crustaceen.                  297

ist der rechte Fuss factisch länger als der ganze Körper6. Es ist wahrscheinlich, dass die bedeutende Grösse des einen Fusses und seiner Scheere dem Männchen bei seinem Kampfe mit seinen Nebenbuhlern hilft; dieser Gebrauch kann aber die Ungleichheit dieser Theile auf den entgegengesetzten Seiten des Körpers des Weibchens nicht erklären. Nach einer von Milne-Edwards mitgetheilten Angabe7 leben bei der Gattung Gelasimus Männchen und Weibchen in einer und derselben Höhle, was der Beachtung werth ist, da es zeigt, dass sie sich paaren; das Männchen verschliesst die Oeffining der Höhle mit einer seiner beiden Scheeren, welche enorm entwickelt ist, so dass sie hier indirect als Vertheidigimgsmittel dient. Ihr hauptsächlichster Nutzen besteht indessen wahrscheinlich darin, das AVeibchen zu ergreifen und festzuhalten und dies ist in einigen Beispielen, wie bei G-ammarus, bekanntlich der Fall. Indessen vereinigen sich, wie mir Mr. Spence Bäte mittheilt, bei der gemeinen Uferkrabbo (Carduus maenas) die Geschlechter di-rect, nachdem das Weibchen seine harte Schale abgestossen hat, wo es so weich ist, dass es verletzt werden würde, wrenn es das Männchen mit seinen kräftigen Scheeren ergriffe; es wird aber vom Männchen schon vor dem Acte der Häutung gefangen und herumgeschleppt, wo es eben ohne Gefahr ergriffen werden kann.

Fritz Müller führt an, dass gewisse Arten von Melila von allen andern Amphipoden durch eine Eigenthümlichkeit der Weibchen unterschieden sind; nämlich „die Hüftblätter des vorletzten Fusspaares sind „in hakenförmige Fortsätze ausgezogen, an die sich das Männchen mit „den Händen des ersten Fusspaares festklammert." Die Entwickelung dieser hakenförmigen Fortsätze ist wahrscheinlich das Resultat des Um-standes, dass diejenigen Weibchen, welche während des Reproductions-actes am sichersten gehalten wurden, die grösste Anzahl von Nachkommen hinterlassen haben. Fritz Müller beschreibt noch einen andern Brasilianischen Amphipoden (Orchestia Darwinii, Fig. 7), welcher ähnlich wie Tanais einen Fall von Dimorphismus darbietet; es finden sich hier nämlich zwei männliche Formen, welche in der Structur ihrer Scheeren von einander abweichen 8. Da Scheeren einer der beiden Formen ganz

6 s. einen Aufsatz von C. Spence Bat e mit Abbildungen in: Proceed. Zool. Soc. 18G8, p. 363 und über die Nomenclatur der Gattung ebenda p. 585. Ich bin Herrn Spence Bäte für fast alle die oben erwähnten Angaben in Bezug auf die Scheeren der höheren Crustaceen ausserordentlich verbunden.

; Histoire natnr. des Crustac. Tom. II. 1837, p. 50.

s Fritz Müller, Für Darwin. S. IG—18.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Thcil.

entschieden zum Festhalten der Weibchen hingereicht haben würden, — denn beide Formen werden ja jetzt zu diesem Zwecke benutzt, —

l'i£. 7. Orchrstia Darnunii (narh F r i t 7. Müller), die verschieden gebildeten Soheeren der beiden männlichen Formen zeigend.

so entstanden die beiden männlichen Formen wahrscheinlich dadurch, dass einige in der einen, andere in einer andern Art und Weise variir-ten, wobei beide Formen aus der verschiedenen Gestalt ihrer Organe gewisse specielle, aber beinahe gleiche Vortheile erlangten.

Es ist nicht bekannt, dass männliche Crustaceen um den Besitz der Weibchen mit einander kämpfen, doch ist dies wahrscheinlich; denn es gilt für die meisten Thiero, dass, wenn das Männchen grösser ist als das Weibchen, ersteres seine bedeutende Grösse dadurch erlangt hat, dass es viele Generationen hindurch andere Männchen besiegt hat. Nun thoilt mir Mr. Spence Bäte mit, dass in den meisten Ordnungen der Crustaceen und besonders in der höchsten, der der Brachyuren, das

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Männchen grösser als das Weibchen ist; dabei müssen indessen die parasitischen Gattungen, wo die beiden Geschlechter verschiedene Lebensweisen haben, und die meisten Entomostraken ausgenommen werden. Die Scheeren vieler Crustaceen sind Waffen, welche für einen Kampf wohl geeignet sind. So sah ein Sohn des Mr. Spence Bäte, wie eine Krabbe, Portunus puber, mit einer andern, Carduus maenas kämpfte, wobei es nicht lange dauerte, bis die letztere auf den Rücken geworfen und ein Bein nach dem andern vom Körper losgerissen wurde. Wenn mehrere Männchen eines Brasilianischen Gelasimus, einer mit ungeheuren Scheeren versehenen Art, von Fiutz Müller zusammen in ein Glasgefäss gethan wurden, so verstümmelten und tödteten sie sich gegenseitig. Mr. Bäte brachte ein grosses Männchen von Carduus maenas "in einen Trog mit Wasser, welchen bereits ein Weibchen bewohnte, das sich mit einem kleineren Männchen verbunden hatte; das letztere wurde sehr bald aus dem Besitze vertrieben. Mr. Bäte fügt aber hinzu: „wenn sie um den Besitz kämpften, so war der Sieg ein unblutiger; denn ich sah keine Wunden." Derselbe Naturforscher trennte einen männlichen Sandlnipfer, Gammarus maiimis, der so gemein an den Englischen Küsten ist, von seinem Weibchen; beide wurden in einem und demselben Gefässe mit vielen andern Individuen derselben Species in Gefangenschaft gehalten. Das hierdurch geschiedene Weibchen begab sich wieder in die Gesellschaft seiner Kameraden. Nach einiger Zeit wurde das Männchen wiederum in dasselbe Gefäss gebracht, und nachdem es eine Zeit lang herumgeschwommen war, stürzte es sich mitten in die Menge und holte sich sofort ohne irgend einen Kampf sein Weibchen wieder. Diese Thatsache beweist, dass bei den Amphi-poden, einer in der Stnfenreihe so tief stehenden Ordnung, die Männchen und Weibchen einander erkennen und eine gegenseitige Anhänglichkeit besitzen.

f??<? Di0 geistigen Fähigkeiten der Crustaceen sind wahrscheinlich höher, als man erwarten zu können meint. Jeder, der versucht hat, eine der Uferkrabben, welche an vielen tropischen Küsten so zahlreich sind, zu fangen, wird wahrgenommen haben, wie schlau und alert sie sind. Es gibt eine grosse Krabbe, Birgits latro. welche sich auf Corallen-Inscln findet und sich auf dein Grunde einer tiefen Grube ein dickes Bett aus den abgezupften Fasern der Cocosnuss baut. Sie nährt sich von den abgefallenen Früchten des Cocosbaumes, indem sie die Schale, Faser für Faser, abreisst; und stets beginnt sie an dem Ende der Frucht, wo

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

sich die drei augenähnlichen Vertiefungen finden. Dann beisst sie durch eine von diesen Vertiefungen durch, wobei sie ihre schweren \Torder-scheeren wie einen Hammer benutzt, dreht sich dann herum und holt den eiweissartigen Kern mit ihren schmäleren hinteren Scheeren heraus. Diese Handlungen sind aber wahrscheinlich instinctiv, so dass sie wohl von einem jungen Thiere ebensogut wie von einem alten ausgeführt werden. Den folgenden Fall kann man indessen kaum in dieser Art beurtheilen: ein zuverlässiger Beobachter, Mr. Gabuner9, sah einer Strandkrabbe (Gclasimus) zu, wie sie ihre Grube baute und warf einige Muschelschalen nach der Höhlung hin. Eine davon rollte hinein und drei andere Schalen blieben wenige Zolle von der Oeffnung entfernt liegen. In ungefähr fünf Minuten brachte die Krabbe die Muschel, welche in die Höhle gefallen war, heraus und schleppte sie bis zu einer Entfernung von einem Fuss von der Oeffnung; dann sah sie die drei andern in der Xähe liegen und da sie augenscheinlich dachte, dass diese gleichfalls hinein rollen könnten, schleppte sie auch diese auf die Stelle, wo sie die erste hingebracht hatte. Ich meine es dürfte schwer sein, diese Handlung von einer zu unterscheiden, die der Mensch mit Hülfe der Vernunft ausführt.

Was die Färbung betrifft, welche so oft in den beiden Geschlechtern bei Thieren der höheren Gassen verschieden ist, so kennt Mr. Spence Bäte kein irgend scharf ausgesprochenes Beispiel einer solchen Verschiedenheit bei den Englischen Crustacoen. Indess weichen in einigen Fällen Männchen und Weibchen unbedeutend in der Schattirung ab; doch hält Mr. Bäte diese Verschiedenheit nicht für grösser, als durch die verschiedenen Lebeusgewohnheiten der beiden Geschlechter erklärt werden kann, wie denn das Männchen mehr umherwandert und daher mehr dem Lichte ausgesetzt ist. Bei einer merkwürdigen Krabbe von Bornoo, welche in Schwämmen wohnt, konnte Mr. Bäte stets die Geschlechter dadurch von einander unterscheiden, dass bei dem Männchen die Epidermis nicht so stark abgerieben war. Dr. Power versuchte die Geschlechter der Arten, welche Mauritius bewohnen, nach der Farbe zu unterscheiden, es gelang ihm indessen niemals, mit Ausnahme einer Species von Squilla, wahrscheinlich die S. stytifera; das Männchen derselben wird als „schön bläulich-grün", einige der Anhänge als Idrscliroth beschrieben, während das Weibchen grosse wolkige Flecke

9 Travels in the Interim" of Brazil. 1864, p. 111, Ich habe in meinem Journal of Rescarches eine Schilderung der Lebensweise des Birgus gegeben.

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von Braun und Grau hat und „das Eoth an ihm viel weniger lebhaft „ist als bei dem Männchen" 10. Wir dürfen wohl vernmthen, dass in diesem Falle geschlechtliche Zuchtwahl in Thätigkeit war. Bei Saphi-rina (einer oceanischen Gattung von Entomostraken und daher tief auf der Stufenleiter stehend) sind die Männchen mit sehr kleinen Schildern oder zellenähnlichen Körpern versehen, welche wunderschöne schillernde Farben darbieten; diese Gebilde fehlen bei den Weibchen, und in einem Falle fehlen sie bei beiden Geschlechtern11. Es wäre indessen ausserordentlich voreilig, zu schliessen, dass diese merkwürdigen Organe dazu dienen, bloss die Weibchen anzuziehen. Wie mir Fritz Müller mit-getheilt hat, ist bei den Weibchen einer brasilianischen Art von Ge-tasimus der ganze Körper nahezu gleichförmig gräulich-braun. Beim Männchen ist der hintere Theil des Cephalothorax rein weiss, der vordere Theil dagegen gesättigt grün und in dunkelbraun abschattirend ; dabei ist es merkwürdig, dass diese Farben sich leicht im Laufe nur weniger Minuten verändern, — das Weiss wird schmutziggrau oder selbst schwarz und das Grün „verliert viel von seinem Glänze". Wie es scheint, sind die Männchen viel zahlreicher als die Weibchen. Es verdient noch besondere Beachtung, dass sie ihre glänzenden Farben nicht vor der ßeifezeit erhalten. Auch weichen sie von den Weibchen in der bedeutenderen Grösse ihrer Scheeren ab. Bei einigen Species der Gattung, wahrscheinlich bei allen, paaren sich die Geschlechter und die Paare bewohnen je eine und dieselbe Höhle. Sie sind auch ferner, wie wir gesehen haben, hoch intelligente Thiere. Nach diesen verschiedenen Betrachtungen scheint es in hohem Grade wahrscheinlich zu sein, dass bei dieser Art das Männchen mit muntern Farben verziert worden ist, um das Weibchen anzuziehen oder anzuregen.

Es ist eben angegeben worden, dass der männliche Gelmimm seine auffallenden Farben nicht eher erreicht, als bis er reif und nahezu bereit ist, sich zu paaren. Dies scheint mit den vielen merkwürdigen Verschiedenheiten der Structur zwischen beiden Geschlechtern die allgemeine "Regel in der ganzen Classe zu sein. Wir werden hernach sehen, dass dasselbe Gesetz durch das ganze grosse Unterreich der Wirbel-thiere hindurch herrscht, und in allen Fällen ist es ganz ausserordentlich bezeichnend für Merkmale, welche in Folge geschlechtlicher Zucht-

"' Ch. ;Fraser. in: Proceed. Zoolog. Soc. 18G9, p. 3. Ich verdanke der Freundlichkeit des Herrn Bäte die 3Iittheilimg von Dr. Tower. 11 Clans, die freilebenden Copepoden. 1SG3, S. 35.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

IL Theil.

wähl erlangt worden sind. Fritz Müller 12 gibt einige auffallende Beispiele für dieses Gesetz; so erhält der männliche Sandhüpfer (Or-chestia) seine grossen Zangen, welche von denen des Weibchens sehr verschieden gebildet sind, nicht eher, als bis er fast völlig erwachsen ist; in der Jugend sind seine Zangen denen des Weibchens ähnlich. So besitzt ferner der männliche Brachyseelus, wie alle anderen Am-phipoden, ein Paar hintere Antennen; dem Weibchen aber, und dies ist ein im höchsten Grade merkwürdiger Umstand, fehlt dies und ebenso fehlt es dem Männchen so lange es nicht geschlechtsreif ist.

Classe: Araclinida (Spinnen u. s. w.). — Die Männchen sind oft dunkler, zuweilen indessen heller als die Weibchen, wie man in dem prachtvollen Werke Blackwall's sehen kann 13. In einigen Arten weichen die Geschlechter auffallend von einander in der Färbung ab; so ist das Weihchen von Sparassus smaragdulus mattgrün, während das Männchen ein schön gelbes Abdomen hat mit drei Längsstreifen von gesättigtem Roth. Bei einigen Arten von Tkomisus sind die beiden Geschlechter einander sehr ähnlich; so sind bei Th. cilreus die Füsse und der Körper des Weibchens blass gelb oder grün, während die vorderen Füsse des Männchens röthlich braun sind; bei Th. flori-colens sind die Füsse des Weibchens blassgrün, die des Männchens sind dagegen in einer auffallenden Weise mit verschiedenen Farben geringelt. Zahlreiche analoge Fälle könnten noch angeführt werden aus den Gattungen Epeira, Nephila, Philodromns, Theridion, Linyphia u. s. w. Es ist oft schwer zu sagen, welches der beiden Geschlechter am meisten von der gewöhnlichen Färbung der ganzen Gattung, zu welcher die Species gehört, abweicht; doch glaubt Mr. Blackwall, dass es, einer allgemeinen Regel zu Folge, das Männchen ist. Wie mir derselbe Schriftsteller mittheilt, sind in der Jugend die beiden Geschlechter einander ähnlich; und beide erleiden häufig bedeutende Veränderungen in der Farbe während der aufeinanderfolgenden Häutungen ehe sie zum Reifezustande gelangen. In anderen Fällen scheint nur das Männchen die Farbe zu verändern. So ist das Männchen des vorhin erwähnten glänzend gefärbten Sparassus zuerst dem Weibchen ähnlich und erhält seine ihm eigentümlichen Farben erst wenn es nahezu erwachsen ist. Spinnen

12  „Für Darwin". S. 53.

13  A History of the Spiders of Great Britain. 1861—64. In Bezug auf die oben erwähnten Thatsachen vergl. p. 102, 77, 88.

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besitzen sehr scharfe Sinne und zeigen auch viel Intelligenz. Wie allgemein bekannt ist, zeigen die Weibchen oft die stärkste Affection für ihre Eier, welche sie in ein seidenes Gewebe eingehüllt mit sich herumtragen. Im Ganzen erscheint es wahrscheinlich, dass gut ausgesprochene Verschiedenheiten in der Farbe zwischen den Geschlechtern allgemein das Resultat einer geschlechtlichen Zuchtwahl entweder auf Seite des Männchens oder des Weibchens sind. Man könnte aber wohl in Be-

' zug auf diesen Punkt Zweifel hegen wegen der ausserordentlichen Variabilität der Farbe bei einigen Species, so z. B. bei Therklioii linmhim, bei welcher die Geschlechter, wenn sie erwachsen sind, von einander abweichen; es weist diese grosse Variabilität darauf hin, dass die Farben keiner Form einer Zuchtwahl unterworfen worden sind.

Mr. Blackwall erinuert sich nicht die Männchen irgend einer Art untereinander um den Besitz des Weibchens kämpfen gesehen zu haben. Auch ist dies, nach Analogie zu schliessen, nicht wahrscheinlich. Denn die Männchen sind allgemein viel kleiner als die Weibchen, zuweilen in einem ausserordentlichen Grade 14. Hätten die Männchen die Gewohnheit gehabt, mit einander zu kämpfen, so würden sie wahrscheinlicher Weise allmählich eine bedeutendere Grösse und Kraft erlangt haben. Mr. Blackwall hat zuweilen gesehen, wie auf einem und demselben Gewebe zwei oder noch mehr Männchen mit einem einzigen Weibchen lebten; ihre Liebeswerbung ist aber eine zu langweilige und zu lange dauernde Angelegenheit, um leicht beobachtet zu werden. Das Männchen ist äusserst vorsichtig ehe es weitergeht, da das Weibchen seine Sprödigkeit zu einer gefährlichen Höhe treibt. De Geek sah ein Männchen, welches „mitten in seinen vorbereitenden Liebkosungen von „dem Gegenstande seiner Aufmerksamkeit ergriffen, in eiu Gewebe ein-

„ „gewickelt und dann verzehrt wurde, ein Anblick, welcher ihu, wie er „hinzusetzt, mit Schrecken und Indignation erfüllte" 15.

Westring hat die interessante Entdeckung gemacht, dass die Mämi-

14  Aug. Vinson theilt ein gutes Beispiel von der geringen Grösse des .Männchens bei Epeira nigra mit (Araneides des lies de la Reunion pl. VI, fig. 1 und 2). Wie ich hinzufügen will, ist bei dieser Species das Männchen braun, das Weibchen schwarz mit roth gebänderten Füssen. Andere selbst noch auffallendere Fälle von Ungleichheit der Grösse zwischen beiden Geschlechtern sind mitgetheilt worden in: Quarterly Journal of Science. 18G8. July, p. 429. Ich habe aber die Originalberichte nicht gesellen.

15  Kirby und Spence, Introduction to Entomology. Vol. I. ISIS, p. 280.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

chen mehrerer Arten von Theridion l6 die Fähigkeit haben, einen schwirrenden Laut hervorzubringen (ähnlich dem von vielen Käfern und andern Insecten hervorgebrachten, nur schwächer), während die Weibchen völlig stumm sind. Der Stimmapparat besteht aus einer gesägten Leiste an der Basis des Hinterleibes, gegen welche der harte hintere Theil des Thorax gerieben wird; und von dieser Bildung konnte bei den Weibchen nicht die Spur entdeckt werden. Nach Analogie mit den im nächsten Capitel zu beschreibenden Orthoptern und Homoptorn können wir wohl mit Sicherheit annehmen, dass die Stridulation, wie Westring bemerkt, dazu dient, das. Weibchen entweder zu rufen oder anzuregen; und dies ist, soviel mir bekannt ist, in der aufsteigenden Beihe der thierischen Formen der erste Fall, wo Laute zu diesem Behufe ausgegossen werden.

Classe: Myriapoda. — In keiner der beiden Ordnungen dieser, Skolopeuderu und Tausendfnsse umfassenden Classe kann ich irgendwie scharf ausgesprochene Beispiele von geschlechtlichen Verschiedenheiten finden, wie sie uns hier ganz besonders angehen. Bei Glomeris limbata indessen und vielleicht noch bei einigen wenigen andern Species weichen die Männchen unbedeutend in der Färbung von den Weibchen ab; doch ist diese Glomeris eine äusserst variable Art. Bei den Männchen der Diplopoden sind die, einein der vordem Segmente des Körpers oder auch dem hintern Segmente angehöi'enden Fiisse in Greifhaken verwandelt, welche das Weibchen festzuhalten dienen. Bei einigen Arten von Julus sind die Tarsen des Männchens mit häutigen Saugnäpfen zu demselben Zwecke versehen. Es ist, wie wir bei Besprechung der Insecten sehen werden, ein bei Weitem ungewöhnlicherer Umstand, dass es bei LHhobius das Weibchen ist, welches am Ende des Körpers mit Greifanhängen zum Festhalten des Männchens versehen ist 17.

18 Theridion (Asagena Sund.J serratipes, (ßHtdripunctatttm et guttatnm. s. Westring in: Kröyer, Naturhist. Tidskrift. Bd. IV. 1842—1843, S. 349 und And. Raekk. Bd. II. 184G—1849, S. 342. s. auch in Betreff anderer Species Ara-neae Suecicae, p. 184.

11 Walckenaer et P. Gervais, Hist. natur. des Insectes Apteros. Tom. IV. 1847, p. 17, 19, G8.

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Zehntes Capitel.

Secuudiire Sexualeharactere der Insecten.

Verschiedenartige Bildungen, welche die Männchen zum Ergreifen der Weibchen besitzen. — Verschiedenheiten zwischen den Geschlechtern, deren Bedeutung nicht einzusehen ist. — Verschiedenheit zwischen den Geschlechtern in Bezug auf die Grösse. — Thysanura. — Biptera. — Hemiptera. — Ilomo-ptera; Vermögen, Töne hervorzubringen, nur im Besitze der Männchen. — Or-ilwplera; Stimmorgane der Männchen, verschiedenartig in ihrer Structur; Kampfsucht; Färbung. — Neuroptem; sexuelle Verschiedenheiten in der Färbung. — Ilymenoptera; Kampfsncht und Färbung. — Coleoptera; Färbung; mit grossen Hörnern vorsehen, wie es scheint, zur Zierde; Kämpfe; Stridulationsorgane allgemein beiden Geschlechtern eigen.

In der ungeheuren Classe der Insecten sind die Geschlechter zuweilen in ihren Locomotionsorganen von einander verschieden und oft auch in ihren Sinnesorganen, wie in den kamniförmigen und sehr scliön gefiederten Antennen der Männchen vieler Species. Bei einer der Ephemeren, nämlich Chloeon, hat das Männchen grosse, säulenförmig vorspringende Augen, welche dem Weibchen vollständig fehlen '. Die Punktaugen fehlen bei den AVeibchen gewisser anderer Insecten, wie bei den Mutilliden, welche auch der Flügel entbehren. Wir haben es aber hier hauptsächlich mit Bildungen zu tlnm, durch welche das eine Männchen in den Stand gesetzt wird, ein anderes zu besiegen, und zwar entweder im Kampfe oder in der Bewerbung, durch seine Kraft, Kampfsncht, Zicrathen oder Musik. Die unzähligen Veranstaltungen, durch welche das Männchen fähig wird, das AVeibchen zu ergreifen, können daher kurz übergangen werden. Ausser den complicirten Gebilden an der Spitze des Hinterleibs, welche vielleicht als primäre Organe2 aufgeführt werden kön-

1  Sir J. Lubbock, Transact. Liimcan Soc. Vol. XXV. lSßG, p. 4S4. In Bezug auf die Mutilliden s. AVestwood, Modern Classification of Insects. Vol. II. p. 213.

2  Diese Organe der Männchen sind häufig bei nahe verwandten Species verschieden und bieten ausgezeichnete speeifische Merkmale dar. Doch ist von einem functionellen Gesichtspunkte aus, wie mir Mr. R. MacLachlan bemerkt hat, ihre

DARWIN, Abstammung. I. Zwroto Auflag?.                                                           20

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306

Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

ten, „ist es", wie Mr. B. D. Walsh 3 bemerkt hat, „erstaunlich, wie „viele verschiedene Organe von der Natur zu dem scheinbar unbedeutenden Zwecke umgestaltet worden sind, dass das Männchen das Weib-„chen festzuhalten im Stande sei." Die Kinnladen oder Mandibeln werden zuweilen zu diesem Zwecke benutzt. So hat das Männchen von Corydalis cormita, einem mit den Libellen u. s. w. ziemlich nahe verwandten Insect aus der Ordnung der Neuroptern, ungeheure gekrümmte Kiefer, welche viele Male länger als die des Weibchens sind; auch sind sie glatt, statt gezähnt zu sein, wodurch das Männchen in den Stand gesetzt wird, das Weibchen ohne Verletzung festzuhalten4. Einer der Hirschkäfer von Nordamerika (Lucanus elaphus) gebraucht seine Kiefer, welche viel grösser als die des Weibchens sind, zu demselben Zwecke, aber wahrscheinlich auch zum Kampfe. Bei einer der Sandwespen (Ammophila) sind die Kiefer in beiden Geschlechtern nahezu gleich, werden aber für sehr verschiedene Zwecke gebraucht. Die Männchen sind, wie Professor Westwood bemerkt, „ausserordentlich „hitzig und ergreifen ihre Genossen mit ihren sichelförmigen Kiefern „um den Hals" 5, während die Weibchen diese Organe zum Gräben in Sandbänken und zum Bauen ihrer Nester benutzen.

Die Tarsen der Vorderfüsse sind bei vielen Käfern verbreitert oder mit breiteii Haarpolstern versehen und bei vielen Gattungen von Wasserkäfern sind sie mit einem runden platten Saugapparate ausgerüstet, so dass das Männchen sich an dem scliliipfrigeii Körper des Weibchens festheften kann. Es ist ein viel ungewöhnlicheres Vorkommen, dass

Bedeutsamkeit wahrscheinlich überschätzt worden. Es ist die Yerrnuthung aufgestellt worden, dass unhedeutende Verschiedenheiten in diesen Organen genügen würden, die Kreuzung gut ausgesprochener Varietäten oder beginnender Species zu verhindern, und dalier die Entwickelung solcher befördern würden. Dass (lies aber schwerlich der Fall sein kann, können wir aus den vielen mitgetheilten Fällen schliessen, wo verschiedene Species in der Begattung gesehen worden sind (s. z. B. B roniij G6schichte der 2s*titiir. I>d. 2. 184.17, S. 164 und "Wßstwoodj in: Transact. Entomol. Soc. Vol. III. 1842, p. 195). Mr. MacLachlan theilt mir mit (s. Stettiner Entomolog. Zeitung. 18G7, S. 155), dass, als von Dr. Aug. Meyer mehrere Species von Phryganiden, welche scharf ausgesprochene Verschiedenheiten dieser Art darbieten, zusammen gefangen gehalten wurden, sie sich begatteten und das eine Paar befruchtete Eier producirte.

'' The Practical Entomologist. Philadelphia. Vol. II. May, 1867. p. 88.

4 Mr. Walsh, a. a. 0. p. 107.

s Modern Classification of Insects. Vol. II. 1840, p. 206. 205. Mr. Walsh, welcher meine Aufmerksamkeit auf diesen doppelten Gebrauch der Kinnladen lenkte, sagt, dass er wiederholt diese Thatsache beobachtet habe.

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Cap. 10.                  Secundäre Sexualcliaractere der Insecten.                        307

die Weibchen manche» Wasserkäfer (Dytisuis) ihre Flügeldecken tief gefurcht mid bei Acilius sulcalus dicht mit Haaren besetzt haben, als Halt für das Männchen. Die Weibchen einiger anderer Wasserkäfer (Hydropurus) haben ihre Flügeldecken zu demselben Zweck punktirt 6. Bei den Männchen von Crabro cribrurius (Fig. 8) ist es die Tibia, welche in eine breite hornige Platte mit äusserst kleinen häutigen Flecken erweitert ist, wodurch sie ein eigentümliches siebartiges Ansehen erhält7. Bei den Männchen von Penthe (einer Gattung der Käfer) sind einige wenige der mittleren Antennenglieder erweitert und au der unteren Fläche mit Haarkissen verseben, genau denen an den Tarsen der Carabiden gleich „und „offenbar zu demselben Zwecke". Bei männlichen Libellen sind die Anhänge an der Spitze des Schwanzes in „einer fast unendlichen Verschiedenartigkeit zu merkwürdigen Formen modificirt, um sie fähig zu „machen, den Hals des Weibchens zu umfassen". Endlich sind bei den Männchen vieler Insecten die Beine mit eigenthüm-lichen Dornen, Höckern oder Spornen besetzt oder das ganze Bein ist gebogen oder verdickt — (dies ist aber durchaus nicht unabänderlich ein sexueller Character); — oder ein Paar oder alle drei Paare sind, und zwar zuweilen zu einer ganz ausserordentlichen Länge, ausgezogen 8.

In allen Ordnungen bieten die Geschlechter vieler Species Ver-

6 Wir haben hier einen merkwürdigen und unerklärlichen Fall von Dimorphismus ; denn einige Weibchen von vier europäischen Species von Dytiscus und gewisser Species von Hydroporus haben glatte Flügeldecken; und intermediäre Abstufungen zwischen gefurchten oder puncturirten und völlig glatten Flügeldecken sind nicht beobachtet worden, s. Dr. H. Schaum, citirt im „Zoologist" Vol. V—VI, 1847—48, p. 1896; auch Kirby and Spence, Introduction to En-tomology. Vol. III. 1826, p. 305.

' Westwood, Modern Classification oflnsects. Vol. II. p. 193. Die folgende Angabe in Bezug auf Penthe und andere in Anführungszeichen mitgetheilte sind aus Walsh, Practica! Entomologist. Philadelphia. Vol. II, p. 88 entnommen.

8 Kirby and Spence, Introduction to Entomology. Vol. III, p. 332—336.

20 *

Fig. 8. Crabro crihrarius. Obere Figur das Männchen, untere Figur das Weibchen.

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308

Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

schiedenheiten dar, deren Bedeutung nicht zu erklären ist. Ein merkwürdiger Fall ist der von einem Käfer (Fig. 9), dessen Männchen die linke Mandibel bedeutend vergrössort hat, so dass der Mund in hohem Maasse verzerrt ist. Bei einem andern carabiden Käfer, dem Eurygnallins9, haben wir den, soweit es Mr. Wollaston bekannt ist, einzigen Fall, dass der Kopf des Weibchens, allerdings in 'einem variabeln Grade, viel breiter und grösser ist als der des Männchens. Derartige Fälle Hessen sich in beliebiger Zahl anführen. Sie sind auch unter den Schmetterlingen unendlich zahlreich; einer der ausserordentlichsten ist der, dass gewisse männliche Schmetterlinge mehr oder weniger atrophirte Vorderbeine haben, wobei die Tibien und Tarsen zu blossen rudimentären Höckern redneirt sind. Auch weichen die Flügel in den beiden Geschlechtern oft in der Ver-theilung der Adern 10 und zuweilen auch beträchtlich in dem Umrisse von einander ab, so bei Aricoris epilus, wie mir im British Museum Mr. A. Butler gezeigt hat. Die Männchen gewisser südamerikanischer Schmetterlinge haben Haarbüschel an den Rändern der Flügel und hornige Auswüchse auf den Flächen des hinteren Paars n. Bei mehreren britischen Schmetterlingen sind, wie mir Mr. Wonfor gezeigt hat, nur die Männchen theilweise mit eigenthümlichen Schuppen bekleidet.

Der Zweck der Leuchtkraft beim weiblichen Leuchtkäfer ist gleichfalls noch nicht erklärt. Denn es ist sehr zweifelhaft, ob der primäre .Nutzen des Lichtes der ist, das Männchen zum Weibchen zu leiten. Dass auch die Männchen ein schwaches Licht von sich geben, ist kein ernstlicher Einwurf gegen die eben erwähnte Ansicht; denn secundäre Sexualcharactere, welche einem Geschlechtc eigen sind, werden oft in einem unbedeutenden Grade

Fig. 9

Taphro-deres distortus. Obere Figur d. Männchen, untere Figur das Weibchen.

9 Insecta Madereusia. 1854, p. 20.

J0 E. Doubleday, in: Annais and Jlagaz. of Natur. Hist. Vol. I. 1848, p. 379. Ich will hier noch hinzufügen, dass bei gewissen Hymenoptern (s. Shuckard, Fossorial Hymenoptera. 1837, p. 39—43) die Flügel nach dem Geschlechte in der Aderang verschieden sind.

11 H. W. Bates, in: Journal of Proceed. Linnean Soc. Vol. VI. 1862, p. 74. Mr. Wonfor's Beobachtungen werden citirt in: Populär Science llevicw. 18C8, p. 343.

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Cup. 10.                   Secundäre Sexnalcharactcrc der Inscctcu.                        309

auch im andern Geschlecht« entwickelt. Ein Einwurf von grösserer Kraft ist der, dass auch die Larven leuchten und bei manchen Arten sogar sehr brillant. Fritz Müller theilt mir mit, dass das am meisten leuchtende Insect, \welches er jemals in Brasilien sah, die Larve eines Käfers war. Beide Geschlechter gewisser leuchtender Species von Elater geben Licht von sich. Kirby und Spexce vermuthen, dass die Phosphorescenz dazu dient, Feinde zu erschrecken und fortzutreiben.

Verschiedenheit in der Grösse beider Geschlechter. — Bei Insecteii aller Arten sind gewöhnlich die Männchen kleiner als die Weibchen '; und diese Verschiedenheit kann oft schon im Larvenzn-stande nachgewiesen werden. Die Verschiedenheit zwischen den männlichen und weiblichen Cocons des Seidenschmetterlings (Bonibyx moH) ist so beträchtlich, dass sie in Frankreich durch eine eigciithümliche Methode des Wagens von einander geschieden werden 13. In den niederen Classen des Thierreichs scheint die bedeutendere Grösse der Weibchen allgemein davon abzuhängen, dass sie eine enorme Anzahl von Eiern entwickeln und dies dürfte auch in einer gewissen Ausdehnung für die Insccten gelten. Dr. Wallace hat aber eine viel wahrscheinlichere Erklärung aufgestellt. Nach einer sorgfältigen Beobachtung der Entwickelung der Raupen von Bombyx Cynthia und Yamamai und besonders einiger zwerghafter, ans einer zweiten Zucht mit unnatürlicher Nahrung gezogener Raupen fand er, „dass in dem Verhältnisse „als die individuelle Motte schöner ist, auch die zu ihrer Metamorphose „erforderliche Zeit länger ist; und aus diesem Grunde geht dem Weibchen, welches das grössere und schwerere Insect ist, weil es seine „zahlreichen Eier mit sich herumzutragen hat, das Männchen voraus, „welches kleiner ist und weniger zu zeitigen hat" u. Da nun die meisten Insecteii kurzlebig und vielen Gefahren ausgesetzt sind, so wird es offenbar für das Weibchen von Vortheil sein, sobald als möglich befruchtet zu werden. Dieser Zweck wird dadurch erreicht werden, dass die Männchen zuerst in grosser Anzahl reif werden, bereit der Ankunft der Weibchen zu warten, und dies wird, wie Mr. A. R. Wallace bemerkt hat IS, natürlich eine Folge der natürlichen Zuchtwahl

12  Kirby and Spcncc, lutroduction to Entomology. Vol. III. p. 299.

13  Roliinct, Vers k Soie. 1848, p. 207.

14  Transact. Entomol. Soe. 3. Series. Vol. V, p. -18G.

15  Journal of Proceed. Entomol. Soe. -1. Febr. 1867, p. LXXI.

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310

Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Tlieil.

sein; denn die kleineren Männchen werden zuerst die Reife erlangen und werden daher eine grosse Zahl von Nachkommen hervorbringen, welche die verkümmerte Grösse ihrer männlichen Erzeuger erben werden, während die grösseren Männchen, weil sie später reif werden, weniger Nachkommen hinterlassen werden.

Von der Eegel, dass die männlichen Insecten kleiner sind als die weiblichen, gibt es indess Ausnahmen und einige dieser Ausnahmen sind auch verständlich. Grösse und Körperkraft werden für Männchen von Vortheil sein, welche um den Besitz der "Weibchen kämpfen, und in diesem Falle, wie z. B. bei dem Hirschkäfer (Lucanns), sind die Männchen grösser als die Weibchen Es gibt indess andere Käfer, von denen man nicht weiss, ob sie mit einander kämpfen, und von denen doch die Männchen die "Weibchen an Grösse übertreffen; die Bedeutung dieser Thatsache ist unbekannt. Aber bei einigen dieser Fälle, so bei den ungeheuren Formen der Dynastes und Megasoma, können wir wenigstens sehen, dass keine Notwendigkeit vorliegt, dass die Männchen kleiner als die "Weibchen sein müssten, damit sie vor ihnen den Reifezustand erreichen; denn diese Käfer sind nicht kurzlebig und es würde demnach auch hinreichende Zeit zum Paaren der beiden Ge-schlechter vorhanden sein. So sind ferner männliche Libelluliden zuweilen nachweisbar grösser und niemals kleiner als die weiblichen 16, und wie Mr. MacLachlan glaubt, paaren sie sich allgemein mit den Weibchen nicht eher, als bis eine Woche oder vierzehn Tage verflossen sind und bis sie ihre eigenthümlichen männlichen Färbungen erhalten haben. Aber den merkwürdigsten Fall, welcher zeigt, von welch' com-plicirten und leicht zu übersehenden Beziehungen ein so unbedeutender Character, wie eine Verschiedenheit in der Grösse zwischen den beiden Geschlechtern, abhängen kann, bieten die mit Stacheln versehenen Hy-menoptern dar. Mr. Fkeu. Smith theilt mir mit, dass fast in dieser ganzen grossen Gruppe die Männchen in Uebereinstimmung mit der allgemeinen Regel kleiner als die Weibchen sind und ungefähr eine "Woche früher als diese ausschlüpfen; aber unter den Bienen sind die Männchen von Apis mellißca, Anthidium manicutvm und Anthophora arervorum, und unter den grabenden Hymenoptern die Männchen der Methoca ich-nevmonhles grösser als die Weibchen. Die Erklärung dieser Anomalie

" In Bezug auf diese und andere Angaben über die Grösse der Geschlechter s. Kirby and Spence, Introduction etc. Vol. III. p. 300; über die Lebensdauer bei Insecten s. ebenda p. BH.

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C'ap. 10.                                  Iuseeten: Thysanura.                                      311

liegt darin, dass bei diesen Species ein Hochzeitsflug absolut nothwen-dig ist und dass die Männchen grösserer Kraft und bedeutenderer Grösse bedürfen, um die Weibchen durch die Luft zu führen. Die bedeutendere Grösse ist hier im Widerspruche mit der gewöhnlichen Beziehung zwischen der Grösse und der Entwickelnngsperiode erlangt worden; denn trotzdem die Männchen grösser sind, schlüpfen sie doch vor den kleineren Weibchen aus.

Wir wollen nun die verschiedenen Ordnungen durchgehen und dabei solche Thatsachen auswählen, wie sie uns besonders hier angehen. Die Lepidoptern (Schmetterlinge und Motten) sollen für ein besonderes Capitel aufgespart bleiben.

Ordnung: Thysanura. — Die Glieder dieser Ordnung sind für ihre Glasse niedrig organisirt. Sie sind flügellose, trüb gefärbte, sehr kleine Iuseeten mit hässlichen, beinahe misförmigen Köpfen und Körpern. Die Geschlechter sind niclit von einander verschieden; sie bieten aber eine interessante Thatsaclie dar dadurch, dass sie zeigen, wie die Männchen selbst auf einer tiefen Stufe des Thierreichs den Weibchen eifrig den Hof machen können. Sir J. Lubbock17 beschreibt den Sminthu-rus luteus und sagt: „Es ist sehr unterhaltend, diese kleinen Wesen „mit einander coquettiren zu sehen. Das Männchen, welches viel kleiner als das Weibchen ist, läuft um dasselbe her; sie stossen sich einander, stellen sich gerade gegen einander über und bewegen sieh vor-„wärts und rückwärts wie zwei spielende Lämmer. Dann thut das „Weibchen, als wenn es davonliefe, und das Männchen läuft hinter ihm „her mit einem komischen Ansehen des Aergers, überholt es und stellt „sich ihm wieder gegenüber. Dann dreht sich das Weibchen spröde „herum, aber das Männchen, schneller und lebendiger, schwenkt gleichfalls rundum und scheint es mit seinen Antennen zu peitschen. Dann „stehen sie für ein Weilchen wieder Auge in Auge, spielen mit ihren „Antennen und scheinen durchaus nur einander anzugehören."

Ordnung: Diptera (Fliegen). — Die Geschlechter weichen in der Farbe wenig von einander ab. Die grösste Verschiedenheit, die Mr. Fr. Walker bekannt geworden ist, bietet die Gattung Bibio dar, bei welcher die Männchen schwärzlich oder vollkommen schwarz und die

" Transact. Linnean Soc. Vol. XXVI. 1868, p. 290.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

IL Tlieil.

Weibchen dunkel bräunlich-orange sind. Die Gattung Elaphomyia, welche Mr. Wallace '* in Neu-Guinea entdeckt hat, ist äusserst merkwürdig, da die Männchen mit Hörnern versehen sind, welche dem Weibchen vollständig fehlen. Die Hörner entspringen von unterhalb der Augen und sind in einer merkwürdigen Weise denen der Hirsche ähnlich, indem sie entweder,, verzweigt oder bandförmig verbreitert sind. Bei einer Species sind sie an Länge der des ganzen Körpers gleich. Man könnte meinen, dass sie zum Kampfe dienen; da sie aber in einer Species von einer schönen rosenrothen Farbe sind mit Schwarz gerändert imd mit einem blassen Streifen in der Mitte, und da diese Insecten überhaupt eine sehr elegante Erscheinung haben, so ist es vielleicht wahrscheinlicher, dass die Homer zur Zierde dienen. Dass die Männchen einiger Diptem mit einander kämpfen, ist gewiss, denn Professor Westwood 19 hat dies mehrere Male bei einigen Arten von Tiputa gesehen. Viele Beobachter glauben, dass wenn Mücken {Cvlicidae} in der Luft in Masse tanzen, wobei sie abwechselnd steigen und sicli senken, hier die Männchen den Weibchen den Hof machen. Die geistigen Fähigkeiten der Zweiflügler sind wahrscheinlich ziemlich gut entwickelt, denn ihr Nervensystem ist höher entwickelt als in den meisten andern Insectenordnungen 2ü.

Ordnung: llemiptera (Wanzen). — Mr. J. AV. Douglas, welcher besonders den britischen Arten seine xlufmerksamkeit gewidmet hat, ist so freundlich gewesen, mir eine Schilderung ihrer geschlechtlichen Verschiedenheiten zu geben. Die Männchen einiger Species sind mit Flügeln versehen, während die AVeibchen flügellos sind. Die Geschlechter weichen auch von einander in der Form des Körpers und der Flügelscheideu ab, ferner in dem zweiten Gliede ihrer Antennen und in ihren Tarsen. Da aber die Bedeutung dieser Verschiedenheiten vollständig unbekannt ist, so mögen sie hier übergangen werden. Die Weibchen sind allgemein grösser und kräftiger als die Männchen. Bei britischen und, soweit Mr. Douglas es weiss, auch bei exotischen Species weichen die Geschlechter gewöhnlich nicht sehr in der Farbe ab; aber in ungefähr sechs britischen Arten ist das Männchen beträchtlich dunkler als das Weibchen, und in ungefähr vier andern Arten ist das

18 The Malay Archipelago. Vol. II. 1860, p. 313. ''' Modern Classification of Insects. Vol. IL 1840, p. 526. 20 s. Mr. B. T. Lownc's sehr interessantes Werk: On the Anatomy of the ßlow-Fly, Musca vomitoria. 1870, p. 14.

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Cap. 10.                                  Insecten: Hoinoptera.                                       313

Weibchen dunkler als das Männchen. Beide Geschlechter einiger Arten sind sehr schön mit Scharlach und Schwarz gezeichnet. Es ist zweifelhaft, ob diese Farben zum Schutze dienen. Wenn in irgend welchen Arten die Männchen in einer analogen Weise von den Weibchen verschieden gewesen wären, hätte man berechtigt sein können, derartige auffallende Färbungen der geschlechtlichen Zuchtwahl mit einer Vererbung auf beide Geschlechter zuzuschreiben.

Einige Arten der Redtividen bringen ein schrillendes Geräusch hervor und bei Pirates stridulus wird angegeben21, dass dies durch die Bewegung des Halses innerhalb der Höhle des Prothorax hervorgebracht werde. Westring zufolge bringt auch Redurius personatus ein Geräusch hervor. Ich bin aber nicht im Stande gewesen, irgendwelche Einzelnheiten über diese Insecten in Erfahrung zu bringen, auch habe ich keinen Grund zu vermuthen, dass sie in dieser Beziehung nach dem Geschlechte von einander verschieden sind.

Ordnung: Momopiera (Zirpen). — Jeder, der in einem tropischen Wald umhergewandert ist, wird über den Klang erstaunt gewesen sein, den die männlichen Cicaden hervorbringen. Die Weibchen sind stumm, wie schon der griechische Dichter Xenarchus sagt: „Glücklich leben die „Cicaden, da sie alle stimmlose Weiber haben". Der von ihnen hervorgebrachte Laut konnte deutlich an Bord des Beagle gehört werden, als dieses Schiff eine viertel englische Meile von der Küste von Brasilien entfernt vor Anker lag, und Capitain Hancock sagt, dass der Laut in der Entfernung von einer englischen Meile gehört werden könne. Früher hielten sich die Griechen, wie es die Chinesen heutigen Tages thun, diese Insecten in Käfigen wegen ihres Gesanges, so dass derselbe für die Ohren mancher Menschen angenehm sein muss22. Die Cica-diden singen gewöhnlich während des Tages, während die Fulgoriden Nachtsänger zu sein scheinen. Nach Landois 23, welcher neuerdings den Gegenstand untersucht hat, wird der Laut durch die Schwingungen der Ränder der Luftöffnungen hervorgebracht, welche durch einen aus den Tracheen ausgestossenen Luftstrom in Bewegung gesetzt werden.

11 Westwood, Modern Classification of Insects. Vol. II, p. 473.

22 Diese Einzelnheiten sind entnommen aus Westwood's Modern Classification of Insects. Vol. II. 1840, p. 422. s. mich über dir Fulgoriden Kirby and Speuce, Introduction etc. Vol. II, p. 401.

M Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. IM. 17. 1807. S. 152—158.

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314                                 Geschlechtliche Zuchtwahl.                             II. Tlieil.

Er wird durch einen wunderbar complicirten Eesonanzapparat verstärkt der aus zwei mit Schuppen bedeckten Höhlungen besteht. Man kann daher diesen- Laut mit Recht als eine Stimme bezeichnen. Bei den Weibchen ist dieser Stimmapparat zwar vorhanden, aber viel weniger entwickelt als beim Männchen, und wird niemals zum Hervorbringen von Lauten benutzt.

In Bezug auf den Zweck dieser Musik sagt Dr. Hartman 24, wo er von der Cicada septemdecim der Vereinigten Staaten spricht: „Das ,Trommeln ist jetzt (6. und 7. Juni 1851) in allen Richtungen zu hören. „Ich glaube, dass dies die hochzeitliche Aufforderung seitens der „Männchen ist. In dichtem Kastaniengebüsch ungefähr von Kopf-„höhe stehend, wo hunderte von Männchen um mich herum waren, „beobachtete ich, dass die Weibchen sich um die trommelnden Männchen versammelten." Er fügt dann hinzu: „In diesem Jahre (August „ 1868) brachte ein Zwergbirnbaum in meinem Garten ungefähr fünfzig „Larven von Cicada pruinosa hervor, und ich beobachtete mehrere „Male, dass die Weibchen sich in der Nähe eines Männchens nieder-„Messen, während es seine schallenden Töne ausstiess". Fritz Müller schreibt mir aus Südbrasilien, dass er oft einem musikalischen Streite zwischen zwei oder drei Männchen einer Cicade zugehört habe, welche eine besonders' laute Stimme hatten und in einer beträchtlichen Entfernung von einander sassen. Sobald das erste seinen Gesang beendigt hatte, begann unmittelbar darauf ein zweites, und sobald auch dieses geschlossen hatte, fieng wieder ein anderes an und so immer weiter. Da hiernach so viele Rivalität zwischen den Männchen cxistirt, so ist es wahrscheinlich, dass die Weibchen sie nicht bloss an den von ihnen ausgestossenen Lauten erkennen, sondern dass sie, wie weibliche Vögel, von dem Männchen mit der anziehendsten Stimme angelockt oder angeregt werden.

Von ornamentalen Verschiedenheiten zwischen den beiden Geschlechtern bei den Homoptern habe ich keinen gut markirten Fall gefunden. Mr. Douglas theilt mir mit, dass es drei britische Arten gibt, bei denen das Männchen schwarz oder mit schwarzen Binden gezeichnet ist, während die Weibchen blass gefärbt oder düsterfarbig sind.

Ordnung: Orthoptera. — Die Männchen der drei durch ihre

11 Für diesen Auszug aus einem „Journal of the Doings of Cicada septemdecim" von Dr. Hartman bin ich Mr. "Walsh verbunden.

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Cap. 10.                                 Insecten: Orthoptera.                                       315

Springfnsse ausgezeichneten Familien dieser Ordnung sind merkwürdig wegen ihrer musikalischen Fähigkeit, nämlich die Achetiden oder Grillen, die Locustiden und die Acridiiden. Die von einigen- Locustiden hervorgebrachten Geräusche sind so laut, dass sie während der Nacht in einer Entfernung von einer englischen Meile gehört werden 25, und die von gewissen Species hervorgebrachten Laute sind selbst für das menschliche Ohr nicht unmusikalisch, so dass sie die Indianer am Amazonenstrom in Käfigen von geflochtenen Weiden halten. Alle Beobachter stimmen darin überein, dass die Geräusche dazu dienen, die stummen Weibchen zu rufen oder anzuregen. Es ist aber bemerkt worden-6, dass die männliche Wanderheuschrecke Busslands (eine der Acridiiden), während sie sich mit dem Weibchen paart, aus Aerger oder Eifersucht das Geräusch hervorbringt, sobald sich ein anderes Männchen nähert. Wird das Heimchen oder die Hausgrille während der Nacht überrascht, so gebraucht es seine Stimme, um seine Genossen zu warnen -7. Das Katy-dicl (Platyphyllum concavum, eine Form der Locustiden) in Nordamerika steigt nach der Beschreibung28 auf die oberen Zweige eines Baumes und beginnt am Abend „ein lärmendes Geschwätz, während „rivalisirende Laute von den benachbarten Bäumen ausgehen, so dass „die Gebüsche von dem Bufe des Katy-did-she-did die ganze liebe „lange Nacht hindurch erschallen". Mr. Bates sagt, indem er von der europäischen Feldgrille (einer der Achetiden) spricht: „Man hat beobachtet, wie sich das Männchen am Abend vor den Eingang in seine „Höhle stellt und seine Stimme erhebt, bis sich ein Weibchen nähert; „hierauf folgt den lauteren Tönen ein leises Geräusch, während der erfolgreiche Musiker mit seinen Antennen den neugewonnenen Genossen „liebkost"29. Dr. Scuddee war im Stande, eines dieser Insecten dazu zu bringen, ihm zu antworten, dadurch dass er mit einer Feder auf einer Feile rieb 30. In beiden Geschlechtern ist von von Siebold ein

25  L. Guildiug in: Transact. Linnean Soc. Vol. XV, p. 154.

26  Koppen, citirt in dem Zoological Record, 1867, p. 460.

2' Gilbert White, Natur. History of Seiborne. Vol. II. 1825, p. 262. 18 Harris, Insects of New England. 1842, p. 128.

29  The Naturalist on the Amazons. Vol. I. 1863, p. 252. Mr. Bates gibt eine sehr interessante Erörterung über die Abstufungen in der Entwickelung der Stimmorgane der drei Familien; s. auch Westwood, Modern Classification of Insects. Vol. II, p. 445 und 453.

30  Proceed. Boston Soc. of Natur. History. Vol. XI. April 1868.

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316                                   Geschichtliche Zuchtwahl.                            II. Theil.

merkwürdiger Gehörapparat entdeckt worden, welcher in den Vorderschienen seinen Sitz hat '".

In den drei Familien werden die Geräusche auf verschiedene Weise hervorgebracht. Bei den Männchen der Achetiden besitzen beide Flügeldecken dieselbe Bildung, und diese besteht bei der Feldgrille (Gryllus campestris Fig. 10), wie es Landois beschrieben hat32, ans 131—138

scharfen Querleisten oder Zähnen auf der unteren Seite einer der Adern der Flügeldecken. Diese gezahnte Ader (Schrillader Laxpois) wird mit grosser Schnelligkeit quer über eine vorspringende glatte harte Ader (r) auf der oberen Fläche des entgegengesetzten Flügels gerieben. Zuerst wird ein Flügel über den andern gerieben und dann wird die Bewegung umgekehrt. Beide Flügel werden zu derselben ng. io. G,yiiuS campe,«-,., (narh i, a „- Zeit etwas in die Höhe gehoben, um die

dois). Die Figur rechts stellt die untere Seite eines Stücks der Schrillader Resonanz zu verstärken. In einigen Spe-

dar, bedeutend vergrössert und die .          . n n. -,-,,         , , ,                  .,          t»

zshne (st) zeigend.                         <»es sind die Flügeldecken an ihrer Basis

Die Figur links ist die obere Fläche m\i einer glimmerartigen Platte ver-

der Flügeldecko mit den vorspringenden glatten Adern (r), gegen welche sehen 33. Ich habe hier nebenstehend

die Zähne (,0 gerieben werden.             ^ Zeichnung ^ JJJ i&, Zä]me VOn

der unteren Seite der Aderung einer andern Species von Gryllus, nämlich von G. domeslicus, gegeben.

. ^               Bei den Locustiden weichen die Flügeldecken der bei-

den einander gegenüberstehenden Seiten in ihrer Bildung ab (Fig. 12) und können nicht, wie es in der letzten Familie der Fall war, indifferent auch in umgekehrter Weise benutzt werden. Der linke Flügel, welcher wie ein Violinbogen wirkt, liegt über dem rechten Flügel, welcher als Violine selbst dient. Einer der Nerven (a) an der unte-f%. ii. Zähne ren Fläche des ersteren ist fein gesägt und wird quer

der Aderung                .                  .                                                                   ~

von Gryiius do- über die vorspringenden Nerven an der oberen Fläche des mestiem (nach entgegengesetzten oder rechten Flügels hingezogen. Bei

Landois).          n o □                                              n             oo

unserer englischen Phasgonuva viridissima schien es mir,

11 Lehrbuch der vergleichenden Anatomie. Bd. I. 1848. S. 583. '- Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Bd. 17. 1867. S. 117. 3:8 Westwood, Modern Classification of Insects. Vol. I, p. 440.

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Cap. 10.                                 Insecten: Orthoptera.                                       317

als ob der gesägte Nerv gegen die abgerundete hintere Ecke des entgegengesetzten Flügels gerieben würde, deren Hand verdickt, braun ge-

Fig. Vi. Chlorocodua Tanana (nach Bat es) a b Abschnitte der beiderseitigen Flügeldecken.

färbt und sehr scharf ist. Am rechten Flügel, aber nicht am linken, findet sich eine kleine Platte, so durchscheinend wie ein Glimmerblättchen, und von Nerven umgeben, welche der Spiegel genannt wird. In Ephip-piger vitium, einem Mitgliede derselben Familie, finden wir eine merkwürdige untergeordnete Modifikation; die Flügeldecken sind hier bedeutend au Grösse rcducirt, aber „der hintere Theil des Prothorax ist „in eine Art Gewölbe über die Flügeldecken erhoben, welches wahrscheinlich die Wirkung den Laut zu verstärken hat" 34.

Wir sehen auf diese Weise, dass der musikalische Apparat bei den Locustiden, welche, wie ich glaube, die kräftigsten Sänger in der Ordnung enthalten, mehr differenzirt und specialisirt ist als hei den Achetiden, bei denen die beiden Flügeldecken dieselbe Structur und dieselbe Function haben 3S. Indessen hat Laniiois bei einer Form der Locustiden, nämlich bei Declicvs, eine kurze und schmale Keihe kleiner Zähne, fast blosser Kudimente, auf der unteren Fläche der rechten

34 Westwood, Modern Classification of Insects. Vol. I, p. 453. Sä Landois, a. a. 0. S. 121, 122.

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318                                   Geschlechtliche Zuchtwahl. '                       II. Thcil.

Flügeldecke entdeckt, welche unter der andern .liegt und niemals als Bogen benutzt wird. Ich habe dieselbe rudimentäre Bildung an der unteren Fläche der rechten Flügeldecke bei Phasgonura riridissima beobachtet. Wir können daher mit Sicherheit schliessen, dass die Locustiden von einer Form abstammen, bei welcher, wie bei den jetzt lebenden Achetiden, beide Flügeldecken gezahnte Adern an der unteren Fläche besassen und beide ganz indifferent als Bogen benutzt werden konnten, dass aber bei den Locustiden die beiden Flügeldecken allmählich diiferenzirt und vervollkommnet wurden, und zwar nach dem Principe der Arbeitstheilung so, dass der eine ausschliesslich als Bogen, der andere nur als Violine wirkte. Durch welche Stufen der einfachere Apparat bei den Achetiden entstand, wissen wir nicht; es ist aber wahrscheinlich, dass die basalen Theile der Flügeldecken einander früher, so wie jetzt noch überdeckten und dass die Beibuug der Nerven einen kratzenden Tou hervorbrachte, wie es jetzt noch, wie ich sehe, der Fall mit den Flügeldecken der Weibchen ist 36. Ein in dieser Weise gelegentlich und zufällig von den Männchen hervorgebrachter kratzender

Laut kann, wenn er auch noch so wenig dazu diente, den Weibchen als liebender Zuruf zu erscheinen, doch leicht durch geschlechtliche Zuchtwahl intensiver gemacht worden sein dadurch, dass passende Abänderungen in der Kauhigkeit der Flügeladern beständig erhalten blieben.

In der letzten und dritten Familie, f^^^^^^^^fe"«^!») nämlich der der Acridiiden, wird das

schrillende Geräusch in einer sehr verschiedenen Weise hervorgebracht und ist nach Dr. Scuddek nicht so grell als in den vorhergehenden Familieu. Die innere Oberfläche des Oberschenkels (Fig. 13 r) ist mit einer Längsreihe sehr kleiner eleganter, lancettförmiger, elastischer Zähne versehen, 85—93 an Zahl 37, und diese werden quer über

Fig. 13. Hinterbein von Stenobothrus pratoritm: r die Schrill-Leiste ; die untore Figur zeigt die die Leiste bildenden Zähne, bedeutend vergrössert (nach L a n d ö i s).

36  Mr. Walsh theilt mir auch mit, wie er bemerkt habe, dass das Weibchen von Platyplußlum coneavum, „wenn es gefangen wird, ein schwaches kratzendes Geräusch durch das Reiben der beiden Flügeldecken aufeinander hervorbringe".

37  Laudois, a. a. 0. S. 113.

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Cap. 10.                                 Insectcn: Orthoptera.                                       319

die scharfen vorspringenden Adern der Flügeldecken herabgezogen, welche hierdurch zum Schwingen und zur Resonanz gebracht werden. Harris 3s sagt, dass, wenn eins der Männchen zu spielen beginnt, es zuerst „die „Tibien der Hinterbeine unter die Schenkel heraufzieht, wo sie in „eine zu ihrer Aufnahme bestimmte Furche eingefügt werden, und „dann zieht es das Bein scharf auf und nieder. Es spielt seine beiden „Geigen nicht gleichzeitig auf einmal, sondern zuerst die eine, dann „die der anderen Seite." Bei vielen Arten ist die Basis des Hinterleibs zu einer grossen Blase ausgehöhlt, von welcher man annimmt, dass sie als Resonanzboden dient. Bei Pneumora (Fig. 14), einem südafrikanischen Genus, welches zu derselben Familie gehört, begegnen wir einer neuen und merkwürdigen Modifikation; Bei dem Männchen springt eine kleine, mit Einschnitten versehene Leiste schräg von jeder Seite des Abdomen vor, gegen welche die Hinterschenkel gerieben werden 39. Da das Männchen mit Flügeln versehen, das Weibchen. flügellos ist, so ist es merkwürdig, dass die Oberschenkel nicht in der gewöhnlichen Art und Weise gegen die Flügeldecken gerieben werden; dies dürfte aber vielleicht durch die ungewöhnlich geringe Grösse der Hinterbeine erklärt werden. Ich bin nicht im Stande gewesen, die innere Fläche der Oberschenkel zu untersuchen, welche der Analogie nach zu schlies-sen fein gesägt sein dürfte. Die Species von Pneumora sind eingehender zum Zwecke der Stridulation modificirt worden als irgend ein anderes orthopteres Insect. Denn bei

38  Insects of New England. 1842, p. 133.

39  Westwood, Modern Classification of Insects. Vol. I, p. 402.

Museum). Ober Weibchen.

Fneumora (nach Exemplaren im British Figur Männchen, untere Figdr

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320

Geschlechtliche Zuchtwahl.

IL Theil.

den Männchen ist der ganze Körper in ein musikalisches Instrument umgewandelt worden, er ist durch Luft zu einer grossen durchsichtigen Blase ausgedehnt, um die Resonanz zu verstärken. Mr. Truiex theilt mir mit, dass am Cap der guten Hoffnung diese Insecten während der Nacht ein wunderbares Geräusch hervorbringen.

Es besteht eine Ausnahme von der Regel, dass die Weibchen in diesen drei Familien eines wirksamen musikalischen Apparats entbehren ; denn beide Geschlechter von Ephippiger (Locustiden) sind der Angabe nach 40 damit versehen. Es kann dieser Fall mit dem vom Renthiere verglichen werden, bei welcher Species allein beide Geschlechter Hörner besitzen. Obgleich die weiblichen Orthoptern hiernach beinahe unabänderlich stumm sind, so fand doch Landois 41 Rudimente der Stridu-lationsorgane an den Oberschenkeln der weiblichen Acridiiden und ähnliche Rudimente an der unteren Fläche der Flügeldecken der weiblichen Achetiden. Er war aber nicht im Stande, irgend welche Rudimente beim Weibchen von Decticus, einer Species von der Familie der Locustiden zu finden. Unter den Homoptern besitzen die stummen Weibchen von Cicada den eigentümlichen Stimmapparat in einem unentwickelten Zustande, und Avir werden noch später in anderen Abtheilungen des Thierreichs zahllosen Beispielen begegnen, wo Gebilde, welche dem Männchen eigenthümlich sind, in einem rudimentären Zustande beim Weibchen vorkommen. Derartige Fälle scheinen auf den ersten Blick anzudeuten, dass ursprünglich beide Geschlechter in derselben Art und Weise ausgerüstet waren, dass aber gewisse Organe später von den AVeibchen verloren wurden. Wie indessen früher erklärt wurde, ist die Ansicht die wahrscheinlichere, dass die in Frage stehenden Organe von den Männchen erlangt und zum Theil auch auf die Weibchen vererbt wurden.

Landois hat noch eine andere interessante Thatsache beobachtet, nämlich dass bei den Weibchen der Acridiiden die für das Lautgeben bestimmten Zähne an den Oberschenkeln durch das ganze Leben in demselben Zustande bleiben, in welchem sie zuerst während des Larven-zustands in beiden Geschlechtern erscheinen. Bei den Männchen werdeu sie aber vollständig entwickelt und erreichen ihre vollkommene Bildung mit der letzten Häutung, wenn das Insect geschlechtsreif und zur Fortpflanzung bereit ist.

40  Westwood, a. a. 0. Vol. I, p. 453.

41  Landois, a. a. 0. S. 115, 116, 120, 122.

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Cap. 10.                                  Insecten: Ortlioptera.                                       321

Aus den jetzt gegebeneu Thatsachen sehen wir, dass die Mittel, durch welche die Männchen ihre Laute produciren, bei den Orthoptern äusserst verschiedenartig und durchaus von denen, welche bei den Homoptern angewendet werden, abweichend sind. Aber durch das ganze Thierreich hindurch sehen wir beständig, dass derselbe Zweck durch die verschiedenartigsten Mittel erreicht wird. Dies ist eine Folge davon, dass die ganze Organisation im Laufe der Zeiten mamiichfache Veränderungen erleidet und dass, da ein Theil nach dem andern variirt, aus verschiedenen Abänderungen zu einem und dem nämlichen allgemeinen Zwecke Vortheil gezogen wird. Die Verschiedenheit der Mittel zur Hervorbringung einer Stimme in den drei Familien der Orthoptern und bei den Homoptern lässt die grosse Bedeutung dieser Gebilde für die Männchen zu dem Zwecke des Herbeirul'ens oder Anlockens der Weibchen recht hervortreten. Wir dürfen von der Grösse der Modifikationen nicht überrascht sein, welche die Orthoptern in dieser Beziehung erlitten haben, da wir jetzt in Folge von Dr. Scudder's merkwürdiger Entdeckung *- wissen, dass die Zeit hierzu mehr als hinreichend gegeben war. Dieser Naturforscher hat neuerdings in der Devonischen Formation von Neu-Braunschweig ein fossiles Insect gefunden, welches mit „dem bekannten Paukenfell oder dem Stridulationsapparat der männlichen Locustiden" versehen war. Obgleich dieses Insect in den meisten Beziehungen mit den Neuroptern verwandt war, so scheint es doch, wie es sehr oft mit sehr alten Formen der Fall ist, die beiden Ordnungen der iSTeuroptern und Orthoptern noch näher, als sie sich jetzt schon stehen, mit einander zu verbinden.

Ich habe jetzt nur noch wenig über die Orthoptern zu sagen. Einige von ihren Species sind sehr kampfsüchtig. Wenn zwei männliche Feldgrillen (Gryllus campestris) mit einander gefangen genommen werden, so kämpfen sie so lange mit einander, bis eine getödtet ist, und die Species von Manüs manövriren der Beschreibung nach mit ihren schwertförmigen Vorderbeinen wie Husaren mit ihren Säbeln. Die Chinesen halten diese Insecten in kleinen aus Bambus geflochtenen Käfigen und bringen sie wie Kampfhähne mit einander zusammen 43. Was die Färbung betrifft, so sind einige ausländische Heuschrecken wunderschön verziert. Die Hinterftügel sind mit Koth, Blau und Schwarz gezeichnet.

42  Transact. Entomol. Soc. 3. Series. Vol. II. Journal of Proceedings, p. 117.

43  Westwood, Modern Classification of Insects. Vol. I, p. 427, wegen der Grillen p. 445.

Darwin", Abstammung. I. Zweite Auflage.                                                   21

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322                                   Geschlechtliche Zuchtwahl.                            II. Theil.

Da aber in der ganzen Ordnung die beiden Geschlechter selten bedeutend in der Färbung von einander verschieden sind, so ist es zweifelhaft, ob sie diese glänzenden Tinten der geschlechtlichen Zuchtwahl verdanken. Auffallende Färbungen können für diese Insecten auch als Schutzmittel von Nutzen sein nach dem im nächsten Capitel zu beschreibenden Grundsatze dadurch, dass sie ihren Feinden anzeigen, dass sie ungeniess-bar sind. So ist beobachtet worden 44, dass eine indische hell gefärbte Heuschrecke ohne Ausnahme verschmäht wurde, wennvman sie Vögeln und Eidechsen darbot. Es sind indessen auch einige Fälle von geschlechtlicher Verschiedenheit in der Färbung aus dieser Ordnung bekannt. Das Männchen einer amerikanishen Grille *5 wird beschrieben als weiss wie Elfenbein, während das Weibchen von einer beinahe weissen Farbe bis zu einer grünlich gelben oder schwärzlichen variirt. Mr. Walsh theilt mir mit, dass das erwachsene Männchen von Spectrum femoratum (eine Form der Phasmiden) .von einer glänzenden ,bräunlich-gelben Farbe ist, das erwachsene Männchen dagegen von „einem trüben opaken bräunlichen Aschgrau, während die Jungen bei-„der Geschlechter grün sind1-. Endlich will ich noch erwähnen, dass das Männchen einer merkwürdigen Art von Grillen 4fi mit „einem langen „häutigen Anhange versehen ist, welcher wie ein Schleier über das „Gesicht herabfällt"; ob dies aber als Zierde dient, ist nicht bekannt.

Ordnung: Neuropl era. — Hier braucht nur wenig bemerkt zu werden ausgenommen hinsichtlich der Färbung. Bei den Epheme-riden weichen die Geschlechter oft unbedeutend in ihrer düsteren Farbe ab47; es ist aber nicht wahrscheinlich, dass die Männchen hierdurch für die Weibchen anziehend gemacht werden. Die Libelluliden oder Wasserjungfern sind mit glänzenden grünen, blauen, gelben und schar-lachencn metallischen Färbungen geziert und die Geschlechter weichen oft von einander ab. So sind die Männchen einiger der Agrioniden, wie Professor AVestwood bemerkt48, „von einem reichen Blau mit „schwarzen Flügeln, während die Weibchen schön grün mit farblosen

44  Gh. Hörne in Proceed. Eutomolog. Soc, 3. May, 1869, p. XII.

45  Der Oeeanthus nivalis. Harris, Insects of New-Euglaud. 1842, p. 124.

46  Flatyblemmus: West wo od, Modem Classificat. Vol. I, p. 447.

47  B. D. "Walsh, The Pseudo-Neuroptera of Illinois, in: Froceed. Eutomol. Soc. of Philadelphia, 18G2, p. 3G1.

4i> Modern Classification etc. Vol. II, p. 37.

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Cap. 10.                                 Insecten: Ncuroptera.                                       323

„Flügeln sind". Aber bei Agritm Bamburii sind diese Farben in den beiden Geschlechtern gerade umgekehrt49. In der ausgedehnten Nord-amerikanischen Gattung Iletaerina haben allein die Männchen einen schönen karminrothen Fleck an der Basis jedes Flügels. Bei Anax junins ist der basale Theil des Abdomen beim Männchen von einem lebhaften Ultramarinblau und beim Männchen grasgrün. Andererseits weichen bei der verwandten Gattung Gomphus und in einigen anderen Gattungen die Geschlechter nur wenig in der Färbung von einander ab. Durch das ganze Thierreich hindurch sind ähnliche Fälle, wo die Geschlechter nahe verwandter Formen entweder bedeutend oder sehr wenig oder durchaus nicht von einander abweichen, von häufigem Vorkommen. Obgleich bei vielen Libelluliden eine so beträchtliche Verschiedenheit in der Färbung zwischen den Geschlechtern besteht, so ist es doch oft schwer zu sagen, welches das am meisten glänzende ist, und die gewöhnliche Färbung der beiden Geschlechter ist, wie wir eben gesehen haben, bei einer Art von Agrioniden geradezu umgekehrt. Es ist nicht wahrscheinlich, dass in irgend einem dieser Fälle die Farben als Schutzmittel erlangt worden sind. Wie Mr. MacLachlan, welcher dieser Familie eingehende Aufmerksamkeit gewidmet hat, mir schreibt, werden die Libellen, die Tyrannen der Tnsectenwelt, am wenigsten unter allen Insecten von den Vögeln oder anderen Feinden angegriffen. Er glaubt, dass ihre glänzenden Farben als ein geschlechtliches An-ziehungsmittel dienen. Da es auf unseren Gegenstand Bezug hat, verdient es Beachtung, dass gewisse Libellen durch besondere Farben angezogen zu werden scheinen. So beobachtet Mr. Patterson 50, dass diejenigen Species von Agrioniden, deren Männchen blau sind, sich in grosser Zahl auf das blaue Schwimmstück eine)- Angelleine niedcr-liessen, während zwei andere Species von hellweisen Farben angezogen wurden.

Es ist eine zuerst von Schelver beobachtete interessante Thatsache, dass die Männchen mehrerer zu zwei Unterfamilien gehörigen Gattungen, wenn sie zuerst aus der Puppenhülle ausschlüpfen, genau so wie die Weibchen gefärbt sind, dass aber ihre Körper in einer kurzen Zeit eine auffallend milcliigblaue Farbe erlangen in Folge der Ausschwitzung einer Art von Oel, welches in Aether und Alcohol löslich ist. Mr. Mac-

49  Walsh, a. a. 0. p. 881. Ich bin diesem Forscher für Mittheilung der folgenden Thatsachen in Bezug auf ITetaerina, Anax und Gomphus verbunden.

50  Transact. Entomol. Soc. Vol. I, 1836, p. LXXXI.

21 *

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324

Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Lachlan glaubt, dass bei den Männchen von Libcllula depressa diese Veränderung der Farbe nicht vor vierzehn Tagen nach der Metamorphose eintritt, wenn die Geschlechter bereit sind, sich zu paaren.

Gewisse Species voii Ncurolhemis bieten einer Angabe von Brauer51 zufolge einen merkwürdigen Fall von Dimorphismus dar, indem einige der Weibchen ihre Flügel in der gewöhnlichen Weise netzförmig gezeichnet haben, während andere Weibchen sie „wie bei den Männchen „der nämlichen Species sehr reich netzförmig entwickelt haben." Brauer erklärt die Erscheinung nach „Darwinschen Grundsätzen durch die „Vermuthung, dass das dichte Netzwerk der Adern ein secundärer „Semalcharacter bei den Männchen ist." Dieser letztere Character wird allgemein nur bei den Männchen entwickelt; da er aber, wie jeder andere männliche Character, beim Weibchen latent vorhanden ist, so gelangt er gelegentlich auch bei diesen zur Entwickelung. Wir haben hier eine Erläuterung der Art und Weise, in welcher die beiden Geschlechter bei' vielen Thieren wahrscheinlich dazu gekommen sind, einander ähnlich zu werden, nämlich durch Abänderungen, welche zuerst bei den Männchen auftraten, bei ihnen erhalten wurden und dann auf die Weibchen sich vererbten und dort entwickelten. Aber bei diesem besonderen Genus wurde eine vollständige Uebertragung gelegentlich und ganz plötzlich bewirkt. Mr. MacLachlan theilt mir noch einen anderen Fall von Dimorphismus bei mehreren Species von Agrimi mit, bei denen eine gewisse Zahl von Individuen von einer orangenen Färbung gefunden wird; und diese sind unabänderlich Weibchen. Dies ist wahrscheinlich ein Fall von Rückschlag; denn bei den echten Libelluliden sind, sobald die Geschlechter in der Färbung verschieden sind, die Weibchen immer orange oder gelb, so dass es, — angenommen Agrion stamme von irgend einer primordialen Form ab, welche die characteristischen geschlechtlichen Färbungen der typischen Libelluliden besessen habe, — nicht überraschend wäre, wenn eine Neigung, in dieser Art und Weise zu variiren, allein bei den Weibchen einträte.

Obgleich viele Libelluliden so grosse, kraftvolle und wilde Insecten sind, so hat doch Mr. MacLachlan nicht beobachtet, dass die Männchen mit einander kämpften, mit Ausnahme, wie er meint, einiger der kleineren Species von Agrion. Bei einer anderen sehr verschiedenen Gruppe dieser Ordnung, nämlich bei den Termiten oder weissen Ameisen,

51 s. den Auszug in dem Zoological Recovd for 18G7, p. 450.

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Cap. 10.                                Insecten; Ilymenoptcra.                                      325

kann man sehen, wie beide Geschlechter um die Zeit dos Schwärmens herumlaufen, „das Männchen hinter dorn Weibchen her, zuweilen zwei „ein Weibchen jagend und mit grossem Eifer kämpfend, wer den Preis „gewinne" 52.

Ordnung: Hymenoptera. — Bei der Beschreibung der Lebensweise von Cereeris, einem wespenähnlichen Insect, bemerkt jener unnachahmliche Beobachter Fabre53, dass „häufig Kämpfe zwischen den Männchen um den Besitz eines besonderen Weibchens stattfinden, welches „als ein dem Anscheine nach unbetheiligter Zuschauer des Kampfes um „die Obergewalt daneben sitzt und wenn der Sieg entschieden ist, ruhig in „Begleitung des Siegers davonfliegt". Westwood sagt54, dass die Männchen der Blattwespen (Tenthredines) „beobachtet worden sind mit einander „kämpfend und mit ihren Mandibcln in einander verbissen". Da Fabre davon spricht, dass die Männchen von Ccrccris um den Besitz eines besonderen Weibchens kämpfen, so verlohnt es sich der Mühe, sich daran zu erinnern, dass zu dieser Ordnung gehörige Insecten das Vermögen, einander nach langen Zeiträumen wiederzuerkennen, und grosse Anhänglichkeit an einander besitzen. So trennte z. B. Pierre Huber, dessen Genauigkeit Niemand bezweifelt, mehrere Ameisen von einander, und als sie nach einem Zwischenräume von vier Monaten andere antrafen, welche zu demselben Haufen gehört hatten, erkannten sie sich gegenseitig und liebkosten einander mit ihren Antennen. Wären es fremde gewesen, so würden sie mit einander gekämpft haben. Wenn ferner zwei Ameisenhaufen mit einander in Kampf gerathen, so greifen die Ameisen einer und derselben Seite in der allgemeinen Verwirrung zuweilen einander an, bemerken aber bald den Irrthum, und die eine Ameise begütigt die andere 3ä.

Unbedeutende Verschiedenheiten in der Färbung je nach dem Geschlecht sind in dieser Ordnung häufig, aber auffallende Verschiedenheiten sind selten, mit Ausnahme der Familie der Bienen; und doch sind beide Geschlechter gewisser Gruppen so brillant gefärbt, — z. B. bei Chrysis, bei welcher Gattung Scharlach und metallisches Grün vorherrschen, —

52  Kirby and Spence, Introduction to Entomology. Vol II. 1818, p. 35.

53  s. einen interessanten Artikel: The Writings of Fabre in: Natur. History Review. April, 1862, p. 122.

54  Journal of Proceecl. Entomolog. Soc. Sept. 7., 1863, p. 169.

55  P. Huber. Recherches sur les moeurs des Fourmis. 1810, p. 150, 105.

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326

Geschlechtliche Zuchtwahl.

11. Theil.

dass wir dies als ein Resultat der geschlechtlichen Zuchtwahl anzusehen versucht werden. Der Angabe von Mr. Walsh zufolge56 sind bei den Tch-neumoniden die Männchen fast allgemein heller gefärbt als die Weibchen. Andererseits sind bei den Tenthrediniden die Männchen meistens dunkler als die Weibchen. Bei den Siricidcn sind die Geschlechter häufig verschieden. So ist das Männchen von Sirex juveneus mit Orange gebändert, während das Weibchen dunkel purpurn ist; es ist aber schwierig zu sagen, welches Geschlecht das am meisten geschmückte sei. Bei Tremex columbae ist das Weibchen viel glänzender gefärbt als das Männchen. Wie mir Mr. F. Smith mittheilt, sind unter den Ameisen die Männchen mehrerer Species schwarz, während die Weibchen bräunlich sind. In der Familie der Bienen, besonders bei den einzeln lebenden Arten, sind, wie ich von demselben ausgezeichneten Entomologen gehört habe, die Geschlechter öfters in der Färbung verschieden. Die Männchen sind allgemein die glänzendsten und bei Bombus ebensowohl wie bei Apatims viel variabler in der Färbimg aLs die Weibchen. Bei Anthophora retusa ist das Männchen von einem gesättigten Röthlich-braun, während das Weibchen vollständig schwarz ist; ebenso sind die Weibchen mehrerer Species von Xylocopa schwarz, während die Männchen hellgelb sind. Bei einer australischen Biene (Lestis bombylans) ist das Weibchen von einem äusserst brillanten Stahlblau, zuweilen mit lebhaftem Grün gefärbt, wogegen das Männchen von einem hellen Messinggelb ist mit einem reichen röthlichen Haaranflug. Da in dieser Gruppe die Weibchen mit einer ausgezeichneten Vertheidigungswaffe in ihrem Stachel versehen sind, so ist es nicht wahrscheinlich, dass sie zu dieser Verschiedenheit in der Färbung, gegenüber den Männchen, zum Zwecke eines Schutzes gelangt sind.

Mulilla europaea gibt einen stridulirendcn Laut von sich, und der Angabe von Goureau 57 zufolge haben beide Geschlechter diese Fähigkeit. Er schreibt den Laut einer Reibung des dritten und der vorhergehenden Hinterleibssegmente zu, und wie ich sehe, sind die oberen Flächen dieser mit sehr feinen concentrischen Leisten versehen; aber ebenso ist es auch der vorspringende Brustkragen, auf welchen der Kopf eingelenkt ist; und wird dieser Kragen mit einer Nadelspitze gekratzt, so gibt er den cigenthümlichen Laut von sich. Es ist ziem-

56  Proceed. Entomolog. Soc. of Philadelphia. 1866, p. 238—239.

57  citirt von Westwood in: Modern Classification of Insects. Vol. II, p. 214.

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Cap. 10.                                  Insccten: Coleoptera.                                       327

lieh überraschend, dass beide Geschlechter diese Fähigkeit, einen Laut hervorzubringen, besitzen, da das Männchen geflügelt und das Weibchen flügellos ist. Es ist notorisch, dass Bienen gewisse Gemüthsbewegungen, z. B. Aerger, durch den Ton ihres Snmmcns ausdrücken, wie es auch manche zweiflügelige Insccten thun. Ich bin aber auf diese Laute nicht weiter eingegangen, da es nicht bekannt ist, dass sie in irgend einer Weise mit dem Acte des Hofmacbens in Verbindung stehen.

Ordnung: Coleoptera (Käfer). — Viele Käfer sind so gefärbt, dass sie der Oberfläche der Orte ähnlich sind, welche sie gewöhnlich bewohnen. Andere Species sind mit prächtigen metallischen Färbungen geziert — z. B. Carabiden, welche auf dem Boden leben und die Fälligkeit haben, sich durch eine intensive scharfe Secretion zu ver-theidigen — die glänzenden Diamantkäfer, welche durch äusserst harte Bedeckungen geschützt sind — viele Species von Chrysomela, wie C. cerealis, eine grosse sehr schöne, mit verschiedenen Färbungen gestreifte Art, welche in England auf den kahlen Gipfel des Snowdon beschränkt ist, — und einer Menge anderer Species. Diese glänzenden Farben, welche oft in Streifen, Flecken, Kreuzen und anderen eleganten Zeichnungen angeordnet sind, können kaum als Schutzmittel von wohlthätigem Einflüsse sein, ausgenommen in dem Fall einiger von Blüthcn lebender Arten; und doch können wir nicht glauben, dass sie zwecklos sind. Es entsteht daher die Vermnthung, dass sie als geschlechtliche Anziehungs-mittel dienen. Wir haben aber hierüber keine Belege, denn die Geschlechter sind nur selten in der Färbung verschieden. Blinde Käfer, welche selbstverständlich nicht die Schönheit des anderen Geschlechts bewundern können, bieten, wie ich von Mr. Watekhouse jun. höre, niemals glänzende Farben dar, obgleich sie oft polirte Oberflächen haben. Doch kann die Erklärung ihrer düsteren Färbung auch wohl darin liegen, dass blinde Insecten Höhlen und andere dunkle Oertlich-keiten bewohnen.

Einige Longicornier, besonders gewisse Prioniden, bieten indess eine Ausnahme von der gewöhnlichen Kegel dar, dass die Geschlechter der Käfer in der Färbung nicht von einander verschieden sind. Die meisten dieser Insecten sind gross und glänzend gefärbt. Die Männchen der Gattung Pyrodes58 sind, wie ich in Mr. Bates' Sammlung

58 I'ijrodes pulcherrimus, bei welcher Art die Geschlechter auffallend von einander verschieden sind, ist von Mr. Bates in den Transact. Entomolog. Soc.

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328                                   Geschlechtliche Zuchtwahl.                            II. Theil.

sali, gewöhnlich röther, aber etwas dunkler als die Weibchen, welche letztere von einer mehr oder weniger glänzenden goldgrünen Färbung sind. Andererseits ist bei einer Species das Männchen goldgrün, während das Weibchen reich mit Koth und Purpur gefärbt ist. In der Gattung Esmeralda weichen die Geschlechter in der Färbung so bedeutend von einander ab, dass sie als verschiedene Arten angeführt wurden; bei einer Species sind Beide von einem schönen glänzenden Grün, aber das Männchen hat einen rothen Thorax. Im Ganzen sind, soweit ich es beurtheilen kann, die Weibchen derjenigen Prioniden, bei denen die Geschlechter verschieden sind, reicher gefärbt als die Männchen, und dies stimmt nicht mit der gewöhnlichen Kegel in Bezug

auf die Färbung überein, sobald diese durch geschlechtliche Zuchtwahl erlangt worden ist. Eine äusserst merkwürdige Verschiedenheit zwischen den Geschlechtern vieler Käfer bieten die grossen Hörner dar, welche vom Kopfe, dem Thorax oder dem Schildchen der Männchen entspringen. In einigen wenigen Fällen gehen dieselben von der unteren Fläche des Körpers aus. In der grossen Familie der Lamellicornia sind diese Hörner denen verschiedener Säugethiere ähnlich, wie

1869, p. 50 beschrieben worden. Ich will hier noch die wenigen anderen Fälle anführen, bei denen ich eine Verschiedenheit der Farbe zwischen den beiden Geschlechtern bei Käfern habe erwähnen hören. Kirby und Spence führen (Introduction to Entomology. Vol. III. p. 301) eine Cantharis, Meloc, ein Eha-gium und die Leptura testacea an; das Männchen der letzteren ist bräunlich mit einem schwarzen Thorax, das Weibchen durchaus schmutzig roth. Diese beiden letzten Käfer gehören zur Ordnung der Longieornia. Die Herren R. Trimen und Waterhonse jun. nennen mir zwei Lamellicornier, nämlich eine Peri-trichia und einen Trichius; das Männchen des letzteren ist dunkler gefärbt als das Weibchen. Bei Talus elongatus ist das Männchen schwarz, das Weibchen dagegen, wie angenommen wird, immer dunkelblau gefärbt mit einem rothen Thorax. Wie ich von Mr. Walsh höre, ist das Männchen von Orsodacna atra schwarz, während das Weibchen (die sogenannte 0. ruficollis) einen röthlich braunen Thorax hat.

Fig. 15. Chalcosoma alias. Obere Figur das Männchen (verkleinert); untere Figur das Weibchen (nat. Gr.).

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Cap. 10.                                  Insecten: Colcoptera. -                                    329

der Hirsche, Khiuocerose u. s. w., und sind sowohl ihrer Grösse, als ihrer verschiedenartigen Formen wegen wunderbar. Statt sie zu beschreiben, habe ich Abbildungen der Männchen und Weibchen von

Fig. IG. Copris isidis.

Tig. 17. Phanaeus faumis

Fig. IS. Dipelicux cantori

Fig. 19. Ontttophaijus rangifer (vergrössert). (Die Figuren links sind die Männchen.)

einigen der merkwürdigeren Formen gegeben (Fig. lö—19). Die Weibchen bieten allgemein Rudimente der Hörner in der Form kleiner Höcker oder Leisten dar, aber einigen fehlt selbst jedes Rudiment da-

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

von. Andererseits sind bei den Weibchen von Phanaeus lancifer die Hörner nahezu so gut entwickelt wie beim Männchen und bei den Weibchen einiger anderer Species der nämlichen Gattung und der Gattung Copris nur unbedeutend weniger entwickelt. In den verschiedenen Unterabtheiluugen der Familie laufen die Verschiedenheiten in der Structur der Hörner, wie mir Mr. Bates mitgetheilt hat, nicht mit ihren bedeutenderen und characteristischen Verschiedenheiten parallel. So gibt es innerhalb einer und derselben Section der Gattung Onlho-phagus Species, welche entweder ein einziges am Kopfe stehendes Hörn haben, oder zwei verschiedene Hörner.

In beinahe allen Fällen sind die Hörner wegen excessiver Variabilität merkwürdig, so dass eine gradweise angeordnete Reihe sich bilden lässt von den am höchsten entwickelten Männchen zu anderen so entarteten Männchen, dass sie kaum von den Weibchen unterschieden werden können. Mr. Walsh59 fand, dass bei Phanaeus curnifex die Hörner bei einigen Männchen dreimal so lang waren als bei anderen. Nachdem Mr. Bates über hundert Männchen von Onthophagas ran-gifcr (Fig. 19) untersucht hatte, glaubte er, dass er endlich eine Species entdeckt habe, bei welcher die Hörner nicht variirten; und doch erwies eine noch weitere Untersuchung das Gegentheil.

Die ausserordentliche Grösse der Hörner und ihre sehr verschiedene Bildung bei nahe verwandten Formen deutet darauf hin, dass sie zu irgend einem wichtigen Zwecke gebildet worden sind; aber ihre ausserordentliche Veränderlichkeit bei den Männchen einer und derselben Species führt wieder zu dem Schlüsse, dass dieser Zweck nicht von einer ganz bestimmten Natur sein kann. Die Hörner bieten kein Zeichen von Abreibung dar, als wenn sie zu irgend einer gewöhnlichen Arbeit benutzt würden. Einige Schriftsteller vermuthen60, dass die Männchen, weil sie viel mehr herumwandern als die Weibchen, der Hörner als Vertheidigungsmittel gegen ihre Feinde bedürfen; aber in vielen Fällen scheinen die Hörner nicht gut zur Verteidigung angepasst zu sein, da sie nicht scharf sind. Die am meisten in die Augen springende Verniuthung ist die, dass sie von den Männchen in ihren gegenseitigen Kämpfen benutzt werden. Aber man hat niemals beobachtet, dass sie mit einander kämpfen. Auch konnte Mr. Bates nach einer sorgfältigen Untersuchung zahlreicher Arten keine hinreichenden Belege in dem

59  Proceed. Entoraolog. Soc. of Philadelphia. 1804, p. 228.

60  Kirby aud Spence, Introduction to Eatomology. Vol. III, p. 300.

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verstümmelten oder zerbrochenen Zustande der Hörner dafür finden, dass sie zu diesem Zwecke benutzt worden wären. Wenn die Männchen die Gewohnheit gehabt hatten, mit einander zu kämpfen, so würde wahrscheinlich die Grösse der Thiere selbst durch natürliche Zuchtwahl vermehrt worden sein, so dass sie die der Weibchen überträfen. Mr. Bates hat aber die beiden Geschlechter in über hundert Species von Copriden mit einander verglichen und findet bei gut entwickelten Individuen keine ausgesprochene Verschiedenheit in dieser Beziehung. Ue-berdies gibt es einen zu der nämlichen grossen Abtheilung der Lamel-licornier gehörigen Käfer, nämlich Lethrus, dessen Männchen wie man weiss mit einander kämpfen; doch sind diese nicht mit Hörnern versehen, wenn auch ihre Mandibeln viel grösser sind als die der Weibchen.

Die Schlussfolgerung, welche am besten mit der Thatsache übereinstimmt, dass die Hörner so immens und doch nicht in einer feststehenden "Weise entwickelt worden sind — wie sich durch ihre ausserordentliche Variabilität in einer und derselben Species und durcli ihre ausserordentliche Verschiedenartigkeit in nahe verwandten Species zeigt — ist die, dass sie zur Zierde erlangt worden sind. Diese Ansicht wird auf den ersten Blick äusserst unwahrscheinlich erscheinen; wir werden aber später bei vielen Thieren, welche in der Stufenleiter viel höher stehen, nämlich bei Fischen, Amphibien, Reptilien und Vögeln finden, dass verschiedene Arten von Leisten, Höckern, Hörnern und Kämmen allein Anscheine nach nur für diesen einen Zweck entwickelt worden sind.

Die Männchen von Onitis fureifer (Fig. 20) sind mit eigenthüm-lichen Voisprüngen an den Oberschenkeln der Vorderbeine und mit einer grossen Gabel oder einem Paar Hörnern an der unteren Fläche des Thorax versehen. Die Lage dieser ^jy^ibu^ Theile scheint äusserst übel angebracht zu sein, um           viöll?

diese Vorsprünge zu zeigen, und sie dürfen eher von ^si^vsljv einem materiellen Dienst sein ; aber bis jetzt kann kein S MßM \ bestimmter Zweck ihnen zugeschrieben werden. Es ist          I |

eine sehr merkwürdige Thatsache, dass, obgleich die          jf i

Männchen auch nicht eine Spur von Hörnern an der j?tg.?o. ohuu jurd-oberen Fläche ihres Körpers darbieten, doch bei den /«. mmu«&«h, tob

1                                                                      unten gesehen.

Weibchen ein Rudiment eines einfachen Horns auf dem

Kopf (Fig. 21a) und einer Leiste (b) am Thorax deutlich sichtbar ist.

Dass die unbedeutende Thoraxleiste beim Weibchen ein Rudiment eines

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

dem Männchen eigenthümlichen Vorsprungs ist, welcher freilich bei dem Männchen dieser besonderen Species vollständig fehlt, ist klar. Denn

Fig. 21. Linke Figur das Männchen von Onitis fureifer, von der Seite gesehen; die rechte Figur das Weibchen. — a. Rudiment des Horns am Kopfe; b. Spur des Horns oder der Leiste am Thorax.

das "Weibchen von Bubas bison, einer Onitis sehr nahe verwandten Form, hat eine ähnliche geringe Leiste am Thorax und das Männchen hat an derselben Stelle einen grossen Vorsprung. So kann ferner darüber kein Zweifel sein, dass der kleine Höcker (a) am Kopfe des weiblichen Onitis fureifer, ebenso wie bei den Weibchen zweier oder dreier verwandter Species ein rudimentärer Repräsentant des am Kopfe stehenden Horns ist, welches den Männchen so vieler lamellicorner Käfer, wie z. B. Phanaeus (Fig. I?), häufig zukommt. In der That sind die Männchen einiger nicht benannter Käfer im British Museum, welche, wie man annimmt, factisch zur Gattung Onitis gehören, mit einem ähnlichen Hörne versehen. Die merwürdige Natur dieses Falls wird am besten aus einer beispielsweisen Illustration deutlich werden. Die wiederkäuenden Sängethiere sind den lamellicornen Käfern darin parallel, dass einige Weibchen Hörner besitzen, in derselben Grösse wie die Männchen, während andere sie viel kleiner haben oder sie nur als Rudimente (obgleich dies bei Wiederkäuern ebenso selten, als es bei La-mellicorniern häufig ist) oder durchaus keine Hörner besitzen. Wenn nun eine neue Species von Hirschen oder Schafen entdeckt würde, bei welcher das Weibchen deutliche Rudimente von Hörnern trüge, während der Kopf des Männchens absolut glatt wäre: so würden wir einen Fall haben, der dem des Onitis fureifer gliche.

In diesem Falle bewährte sich der alte Glaube, dass Rudimente nur erschaffen worden sind, um das Schema der Natur zu vervollständigen, in einem Grade nicht, dass alle gewöhnlichen Regeln vollständig durchbrochen werden. Die Ansicht, welche die wahrscheinlichste zu sein scheint, ist die, dass irgend ein früher Urerzeuger von Onitis, wie andere Lamellicornier, Hörner am Kopfe und am Thorax erhielt und sie dann in einem rudimentären Zustande, wie bei so vielen existirenden

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Cap. 10.                                 Insecten: Coleoptera.                                        333

Species, auf die Weibchen vererbte, von denen sie seit jener Zeit beständig beibehalten wurden. Der spätere Verlust der Hörner seitens der Männchen kann nach dem Princip der Compensation des Wachs-thums das Resultat der Entwicklung jener Vorsprünge an der unteren Fläche gewesen sein, während das Weibchen hierdurch nicht berührt wurde, da es jene Vorspränge nicht besitzt und folglich die Rudimente der Höruer an der oberen Fläche beibehalten hat. Obgleich diese Ansicht durch den Fall von Bledius, der sogleich mitgetheilt werden soll, unterstützt wird, so weielien docli die Vorsprünge an der anderen Fläche bedeutend in der Structur und in der Entwickelung bei den Männchen mehrerer Species von Onitis unter einander ab und sind bei einigen selbst nur rudimentär vorhanden. Nichtsdestoweniger ist die obere Fläche bei allen diesen Specis vollständig ohne Hörncr. Da secundäre Sexualcharactere so ausserordentlich variabel sind, so ist. es möglich, dass die Vorspränge an der unteren Fläche zuerst von einem Ur-erzeuger von Onitis erlangt wurden, dann ihre Wirkung durch die Compensation des Wachsthums äusserten und dann in gewissen Fällen beinahe vollständig verloren wurden.

Alle die bisher mitgetheilten Fälle bezieheu sich auf die Lamelli-cornier; aber die Männchen einiger weniger anderen Käfer, welche zu zwei sehr weit von einander verschiedenen Gruppen gehören, nämlich den Curculioniden und Staphyliniden, sind mit Hörnern versehen, — bei den ersteren an der unteren Fläche des Körpers6', bei den letzteren an der oberen Fläche des Kopfes und Thorax.' Bei den Staphyliniden sind die Hörner der Männchen einer und der nämlichen Species ausserordentlich variabel, genau so wie wir es bei den Lamellicorniern gesehen haben. Bei Siagoninm haben wir einen Fall von Dimorphismus; denn die Männchen können in zwei Gruppen getheilt werden^ welche bedeutend in der Grösse ihrer Körper und in der Entwickelung ihrer Hörner von einander abweichen ohne irgendwelche zwischenliegende Stufe. Bei einer Species von Bledius (Fig. 22), welche gleich-

Fig. 22. Bledius lavrus, vergrößert, Figur links das Männchen, Figur rechts das Weibchen.

falls zu den Staphyliniden gehört, können au der nämlichen Oertlich-Bl Kirby and Spence, Indroduction to Entomology. Vol. III, p. 320.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

keit männliche Exemplare gefunden werden, wie Professor Westwood angibt, „bei welchen das centrale Hörn des Thorax sehr gross ist, „ während die Hörner des Kopfes ziemlich rudimentär sind, und andere, „bei denen die Hörner des Thorax viel kürzer sind, während die Vorspränge am Kopfe lang sind" 62. Hier haben wir daher dem Anscheine nach ein Beispiel von Gompensation des Wachsthums, welches auf den eben mitgetheilten Fall von einem Verluste der oberen Hörner bei den Männchen von Onitis fureifer Licht wirft.

Gesetz des Kampfes. — Einige männliche Käfer, welche zum Kampfe nur schlecht ausgerüstet zu sein scheinen, treten doch mit andern in einen Streit um den Besitz der Weibchen ein. Mr. Wallace 63 sah zwei Männchen von Leptorhynchus angustatus, einem schmalen, langen Käfer mit einem sehr verlängerten Rostrum, „die um ein Weibchen kämpften, welches dicht dabei emsig mit Bohren beschäftigt war. „Sie stiessen einander mit ihren Rüsseln, kratzten und schlugen sich „offenbar in der grössten Wuth". Das kleinere indessen „rannte bald „davon und gab sich dadurch als besiegt zu erkennen." In einigen wenigen Fällen sind die Männchen gut zum Kämpfen ausgerüstet, und zwar durch den Besitz grosser, gezähnter Mandibeln, welche viel grösser als die der Weibchen sind. Dies ist bei dem gemeinen Hirschkäfer (Lncanus cervns) der Fall, dessen Männchen ungefähr eine Woche früher als die Weibchen aus der Puppe ausschlüpfen, so dass häufig mehrere Männchen zu sehen sind, welche ein und dasselbe Weibchen verfolgen. Um diese Zeit ereignen sich heftige Kämpfe zwischen ihnen. Als Mr. A. H. Davis 64 zwei Männchen mit einem Weibchen in einer Schachtel einschloss, knipp das grössere Männchen das kleinere so lange und so heftig, bis dieses seine Ansprüche aufgab. Ein Freund erzählte mir, dass er als Knabe oft die Männchen zusammengebracht, nm sie kämpfen zu sehen, und dabei bemerkt habe, dass sie viel kühner und wüthen-der gewesen seien als die Weibchen, wie es ja auch bei den höheren

62  Modern Classification of Insects. Vol. I, p. 172. Auf derselben Seite wird auch Siagonium geschildert. Im British Museum bemerkte ich ein männliches Exemplar von Siagonium, welches einen intermediären Zustand darbot, so dass der Dimorphismus nicht streng durchgeführt ist.

63  The Malay Archipelago. Vol. II. 18C9, p. 276.

84 Entomological Magazine. Vol. I. 1833, p. 82. s. auch in Bezug auf die Kämpfe dieser Species: Kirby and Spence, Introduction etc. Vol. III, p. 314 und Westwood, Modern Classification. Vol. I, p. 187.

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Thieren bekanntlich der Fall ist. Die Männchen ergriffen seinen Finger, wenn er vor sie gehalten wurde, aber nicht so die Weibchen. Bei vielen der Lucaniden, ebenso wie bei dem vorhin erwähnten Leplo-rhynchus sind die Männchen grössere und kräftigere Insecten als dio Weibchen. Die beiden Geschlechter von Lethrus cephalotes (einer der Lamellicornier) bewohnen eine und dieselbe Höhle, und das Männchen hat grössere Mandibeln als das Weibchen. Wenn ein fremdes Männchen während der Brunstzeit in die Höhle einzudringen versucht, so wird es angegriffen. Das Weibchen bleibt dabei nicht passiv, sondern schliefst die Oeffnung der Höhle und feuert sein Männchen dadurch an, dass es dasselbe beständig von hinten hervortreibt. Die ganze Handlung hört nicht eher auf, als bis der Angreifer getödtet ist oder davonläuft65. Die beiden Geschlechter eines andern lamellicornen Käfers, des Ateu-chus cicatricosus, leben paarweise und scheinen sehr an einander zu hängen. Das Männchen treibt das Weibchen dazu an, die Kothballen zu rollen, in denen die Eier abgelegt werden, und wenn das Weibchen entfernt wird, wird das Männchen sehr beunruhigt; wird dagegen das Männchen entfernt, so hört das Weibchen völlig auf zu arbeiten und wurde, wie Mr. BßULEftiE66 glaubt, auf derselben Stelle bleiben, bis es stürbe.

Die grossen Mandibeln der männlichen Lucaniden sind in ausserordentlichem Grade sowohl der Grösse als der Structur nach variabel und sind in dieser Beziehung den Hörnern am Kopfe und Thorax vieler männlichen Lamellicornier und Staphyliniden ähulich. Man kann von den bestausgerüsteten bis zu den schlechtest bedachten oder degenerir-ten Männchen eine vollkommene Keihe darstellen. Obgleich die Mandibeln des gemeinen Hirschkäfers und wahrscheinlich auch vieler anderen Species als wirksame Waffen im Kampfe benutzt werden, so ist es doch zweifelhaft, ob ihre bedeutende Grösse hierdurch erklärt werden kann. Wir haben gesehen, dass bei dem Lucanus elaphus von Nordamerika dieselben zum Ergreifen des Weibchens benutzt werden. Da sie so auffallend und elegant verzweigt sind, so ist mir zuweilen die Vermuthung durch den Kopf gegangen, dass sie den Männchen als Zierathen dienstbar seien, in derselben Weise wie die Hörner am Kopfe und Thorax der verschiedenen oben beschriebenen Species. Der männ-

65  Citirt aus Fischer in: Dictionaire class. d'Hist. Nat. Tom. X, p. 324.

66  Annales Soc. Entomol. de Franc. 186fi, citirt in Journal of Travel by A. Murray. 1868, p. 135.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

liehe Cliiasognalhus Granlii von Süd-Chile, ein prachtvoller, zu derselben Familie geliöriger Käfer, hat enorm entwickelte Mandibeln (Fig. 23) und ist kühn und kampfsüchtig. Wird er von irgend einer Seite her bedroht, so dreht er sich herum, öffnet seine grossen Kiefern und beginnt zu derselben Zeit ein lautes stridulirendes Geräusch zu machen. Seine Mandibeln waren aber nicht kräftig genug, meinen Finger so zu kneipen, dass ich einen wirklichen Schmerz empfunden hätte. Geschlechtliche Zuchtwahl, welche den Besitz eines beträchtlichen AVahrnehmungsvermögens und starker leidenschaftlicher Empfindungen voraussetzt, scheint bei den Lamellicorniern eine grössere Wirksamkeit entfaltet zu haben als bei irgend einer andern Familie der Coleoptern oder Käfer. Bei einigen Species sind die Männchen mit Waffen zum Kampfe ausgerüstet; einige leben in Paaren und zeigen gegenseitige Anhänglichkeit; viele haben das Vermögen, Laute von sich zu geben, wenn sie erregt werden; viele sind mit den ausserordentlichsten Hörnern versehen, oifenbar zum Zwecke eines Schmucks. Einige ihrer Lebensweise nach als Tagformen zu bezeichnende sind prächtig gefärbt; und endlich gehören mehrere der grössten Käfer in der Welt zu dieser Familie, r" ¥                       welche von Linke und Fabricius an die Spitze

Fig. 23. Chiatognathut Gran-

m, verkleinert, obere Fi- der ganzen Ordnung der Coleoptera gestellt

gur da3 Männchen, untere wyn'flp 67 Figur das Weibchen.

Stridulationsorgane. — Käfer, welche zu vielen und sehr von einander verschiedenen Familien gehören, besitzen derartige Organe. Der Laut kann zuweilen in der Entfernung mehrerer Fuss oder selbst Yards68 gehört werden, ist aber nicht mit dem von den Orthoptern hervorgebrachten zu vergleichen. Der Theil, welchen man die Baspel nennen könnte, besteht allgemein aus einer schmalen leicht erhobenen Fläche,

67  West wo od, Modern Classification of Insects. Vol. I, p. 184.

68  Wollaston, On certaiu musical Curculionidae in: Annais and Magaz. of Natur. Hist. Vol. VI. 1860, p. 14.

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welche von sehr feinen parallelen Rippen gekreuzt wird, die zuweilen so fein sind, dass sie iridescirende Farben hervorbringen und unter dem Mikroskope eine sehr elegante Erscheinung darbieten. In manchen Füllen, z.B. bei Typhoeus, kann deutlich gesehen werden, dass äusserst kleine borstige, schuppenartige Vorsprünge, welche die ganze umgebende Fläche in annähernd parallelen Linien bedecken, dadurch die Rippen der Raspel bilden, dass sie zusammenfliessen, gerade werden und zu derselben Zeit stark vorspringen und glatt werden. Eine harte Leiste an irgend einem benachbarten Theile des Körpers, welcher in einigen Fällen speciell für diesen Zweck modificirt ist, dient als Kratzer für die Raspel. Dieser Kratzer wird schnell quer über die Raspel bewegt oder auch umgekehrt die Raspel quer über den Kratzer.

Diese Organe sind an sein- verschiedenen Stellen des Körpers angebracht. Beim Todtengräber (Necrophorus) finden sich zwei parallele Raspeln (r Fig. 24) an der dorsalen Oberfläche des fünften Abdominalsegments, wobei jede Raspel oder jedes Reibzeug, wie es Landois69 beschrieben hat, von 126 bis 140 feinen Rippen gekreuzt wird. Diese Rippen werden von den hinteren Rändern der Flügeldecken gerieben, von denen ein kleiner Theil über die allgemeinen Contouren vorspringt. Bei vielen Oioceriden und bei Chjthra quadripnnctaiu (einer der Cbryso-meliden) und bei einigen Tcnebrioniden etc. 7U liegt das Reibzeug auf der dorsalen Spitzen-Fläche des Abdomen, auf dorn Pygidium oder Pro-pygidium, und wird in dem obigen Falle von den Flügeldecken gerieben. Bei Helerocerus, welcher zu einer andern Familie gehört, liegen die Reibzeuge an den Seiten des ersten Abdominalsegments und werden

69 Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie. Bd. 17. 1867, S. 127.

10 Ich hin Mr. G. R. Crotch sehr dafür verbunden, dass er mir zahlreiche Präparate von verschiedenen Käfern dieser drei sowohl, als anderer Familien, ebenso wie werthvolle Information aller Art mitgetheilt hat. Er glaubt, dass das Stridulatiousvermögen bei Clylhra früher noch nicht beobachtet worden ist. Auch Mr. Janson bin ich für Mittheilungen und für Präparate Dank schuldig. Ich will hinzufügen, dass mein Sohn, Mr. F. Darwin gefunden hat, dass l)er-niestes murinus stridnlirt; er hat aber vergebens nach dem betreffenden Apparate gesucht. Keuerdings ist auch Seolyfots von Dr. Chapman als ein schrillender Käfer beschrieben worden in : Entomologist's Monthly Magazine, Vol. VI. p. 130.

IMKW1K, Abstammung. I. Zweite Annage.                                                               22

Fig. 24. Necrophorus (nach Jjantlo i s). r die beiden Reibzeugo oder Haspeln. Linke i'ignr ein Tlieil der Haspel stark vergrössert.

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338                                   Geschlechtliche Zuchtwahl.                            II. Tlicil.

von Leisten an den Oberschenkeln gerieben71. Bei gewissen Curcu-lioniden und Carabiden72 sind die bctrofteuden Theile in Bezug auf ihre Stellung gerade umgekehrt; denn das Keibzeug liegt hier an der unteren Fläche der Flügeldecken in der Nähe ihrer Spitzen oder ihren äusseren Rändern entlang und die Kanten der Abdominalsegmentc dienen als Reiber. Bei Pelobius llermanni (einem der Dytisciden oder Wasserkäfer) läuft eine starke Leiste parallel und nahe dem Nahtrande der Flügeldecken und wird von Rippen gekreuzt, die in dem mittleren Theile grob, aber nach den beiden Enden hin und besonders nach dem oberen Ende zu allmählich immer feiner werden. Wird dieses Insect unter Wasser oder in der Luft festgehalten, so wird ein stridulirendes Geräusch durch Reiben des äussersten hornigen Randes des Abdomen gegen das Reibzeug' hervorgebracht. Bei einer grossen Anzahl von longi-cornen Käfern liegen die Organe wieder durchaus verschieden. Das Reibzeug findet sich hier am Mesothorax, welcher gegen den Prothorax gerieben wird. Landois zählte 238 sehr feine Rippen an dem Reibzeuge von Cerambyx keros.

Viele Lamellicornier haben das Vermögen, Laute hervorzubringen. Die betreffenden Organe weichen in Bezug auf ihre Lage sehr von einander ab. Einige Species striduliren sehr laut, so dass, als Mr. F. Smith einen Trox snbulosus gefangen hatte, ein dabei stehender Wildwart glaubte, er habe eine Maus gefangen. Ich bin aber nicht im Stande gewesen, die betreffenden Organe bei diesem Käfer nachzuweisen. Bei Ceolrupes und Typhocus läuft eine schmale Leiste schräg (r Fig. 25) über die Coxa jedes Hinterbeins und hat bei G. slercorarius vierundachtzig Rippen, welche von einem speciell hierzu vorspringenden Theile eines der Abdominalsegmentc gerieben werden. Bei dem nahe verwandten Copris hmavis läuft eine ausserordentlich schmale feine Raspel dem Nahtrande der Flügeldecken entlang mit einer andern kurzen Raspel nahe dem basalen Aussenrande. Aber bei einigen andern

" Schiödte, übersetzt in: Annais and Magaz. of Natur. Hist. Vol. XX. 1867, p. 37.

" Westring hat in Kröyer's Naturbistor. Tidskrift. Bd. 2. 1848—49. p. 334 die Stridulationsorgane sowohl von diesen beiden als auch von andern Familien beschrieben. Unter den Carabiden habe ich Elaphrus uliginosusi und Ble-thisa multipiinctatit, die mir Mr. Crotch übersandt hatte, untersucht. Bei Jile-thisa kommen die queren Leisten an dem gefurchten Rande des Abdominalseg-meuts, soviel ich es benrtheilen kann, nicht mit beim Kratzen der Reibzeuge auf den Flügeldecken ins Spiel.

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Cap. 10.                                  Jnsccten: Coleoptera.                                        339

Fi£. "25. Hinterbein von Geotru-pes stercorarins (nach Ij a n d o i s). i*. Keibzeug; c. Coxa ; f. Temnr; t.Tibla; tr.Tai-äi.

Coprincn liegt der Angabe von Leconte 7a zufolge das Reibzeug auf der dorsalen Oberfläche des Abdomen. Bei Onjctes ist es auf dem Propygidimn gelegen und der Angabe desselben Ento-mologen zufolge bei einigen andern Dynastinen an der unteren Fläche der Flügeldecken. Endlich gibt Westring an, dass bei Omalopllu bruniiea das Reibzeug an dem Prosternum, der Reiber an dem Metastermim gelegen sei. Hier nehmen also diese Thcile die untere Fläche des Körpers ein, statt wie bei den Longicorniern auf der oberen Fläche gelegen zu sein.

Wir sehen hieraus, dass die Stridulationsorgaue in den verschiedenen Familien der Coleoptern der Lage nach wunderbar verschiedenartig sind, aber nicht so bedeutend der Structnr nach. Innerhalb einer und derselben Familie sind einige Species mit diesen Organen versehen und einigen fehlen dieselben vollständig. Diese Verschiedenartigkeit wird verständlich, wenn wir annehmen, dass ursprünglich verschiedene Species ein reibendes oder zischendes Geräusch durch das Aufeinander-reiben der harten und rauhen Theile ihrer Körper, die. in Berührung waren, hervorbrachten, und dass in Folge des Umstandes, dass der hierdurch bervorgebraclito Laut in irgendwelcher AVeise nützlich war, die rauhen Stellen allmählich in regelmässige Stridulationsorgane entwickelt wurden. Einige Käfer bringen, wenn sie sich bewegen, entweder absichtlich oder unabsichtlich jetzt ein reibendes Geräusch hervor, ohne irgend besondere Organe zu diesem Zwecke zu besitzen. Mr. AVallace tbeilt mir mit, dass der Euchirus longimanus (ein Lamellicornier, dessen Vorderbeine beim Mäunchen wunderbar verlängert sind) ,während ,er'sich bewegt ein leises, zischendes Geräusch durch das Vorstrecken „und das Nachziehen des Abdomen hervorbringt, und wenn er ergriffen „wird, bringt er ein kratzendes Geräusch hervor dadurch, dass er seine „Hinterbeine gegen die Kanten der Flügeldecken reibt". Das zischende Geräusch wird ganz offenbar hervorgebracht durch eiii schmales, feilenartiges Reibzeug, welches dem Nahtrande jeder Flügeldecke entlang läuft; und ich konnte in gleicher AVeise das kratzende Geräusch her-

13 Mr. AValsh, von Illinois, ist so gut gewesen, mir Auszüge von Lcconte's Introduction to Entomology. p. 101, 143 zu schicken, wofür ich ihm sehr verbunden hiu.

22*

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

vorbringen, als ich die cbagrinirte Oberfläche des Oberschenkels gegen den granulirten Rand der entsprechenden Flügeldecke rieb. Ich konnte aber hier kein eigentlich feilenartiges Reibzeug entdecken, auch ist es nicht wahrscheinlich, dass ich dasselbe bei einem Insect von dieser Grösse übersehen haben sollte. Nach den Untersuchungen von Cycknts und nach dem, was Westring in seinen zwei Abbandlungen über diesen Käfer geschrieben hat, scheint es sehr zweifelhaft, ob derselbe irgend ein echtes Reibzeug besitzt, trotzdem er das Vermögen hat, einen Laut hervorzubringen.

Nach der Analogie mit den Orthoptern und Homoptera erwartete ich auch bei. den Ooleoptern zu finden, dass die Stridulationsorgane je nach dem Geschlecht verschieden seien. Doch bat Landois, welcher mehrere Species sorgfältig untersucht hat, keine solche Verschiedenheit gefunden, ebensowenig Westrixg und Mr. G. R. Crotch, welcher die Freundlichkeit gehabt hat, zahlreiche Präparate zu machen, die er mir zur Untersuchung mitgetheilt hat. Es würde indessen schwer sein, irgendwelche unbedeutende geschlechtliche Verschiedenheit hier nachzuweisen wegen der grossen Variabilität dieser Organe. So war bei dem ersten Paare von Necrophorvs humalor und des Pelobius, welches ich untersuchte, das Reibzeug beim Männchen beträchtlich grösser als beim Weibchen; bei später untersuchten Exemplaren war dies aber nicht der Fall. Bei Geolrupes slercorarius schien mir das Reibzeug bei drei Männchen dicker, opaker und vorspringender zu sein als bei derselben Zahl von Weibchen. In Folge dessen sammelte mein Sohn, Mr. F. Darwin, um nachzuweisen ob die Geschlechter in ihrem Stri-dulationsvermögen von einander abweichen, siebenundfünfzig lebende Exemplare, welche er in zwei Gruppen theilte, je nachdem sie in derselben Art und Weise gehalten ein grösseres oder unbedeutenderes Geräusch machten. Er untersuchte dann ihr Geschlecht, fand aber, dass die Männchen in beiden Theilen sich sehr nahe in demselben Verhältnisse zu den Weibchen befanden. Mr. F. Smith hat zahlreiche Exemplare von Moiiouychus pseudacori (ein Curculionide) lebendig gehalten und ist überzeugt, dass beide Geschlechter Laute hervorbringen, und zwar dem Anscheine nach in gleichem Grade.

Nichtsdestoweniger ist das Stridulationsvermögen sicher bei einigen wenigen Coleoptern ein sexueller Character. Mr. Crotch hat die Entdeckung gemacht, dass nur die Männchen zweier Species von Helio-jiatlics (Tenebrionidae) Stridulationsorgane besitzen. Ich untersuchte

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Cap. 10.                                 Insectcn: Coleoptcra.                                        34 \

fünf Männchen von Heliopalhes gibbus und bei allen diesen fand sich ein wohlontwickeltes Reibzeug, zum Theil in zwei gotheilt, an der dorsalen Fläche des terminalen Abdominalsegments, während in derselben Anzahl von Weibchen auch nicht ein Rudiment des Reibzeugs zu finden, die häutige Bedeckung des Segments im Gegeiltheil durchscheinend und viel dünner als beim Männchen war. Bei H. cribratostruitus besitzt das Männchen ein ähnliches Reibzeug, ausgenommen, dass es nicht theilweise in zwei Abteilungen getrennt ist; und dem Weibchen fehlt dieses Organ vollständig. Aber ausserdem hat das Männchen noch an den Spitzenrändern der Flügeldecken auf jeder Seite der Naht drei oder vier kurze Längsleisten, welche von äusserst feinen Rippen gekreuzt werden, die parallel mit den auf dem abdominalen Serbzeug und diesem ähnlich sind. Ob diese Leisten als ein selbständiges Reibzeug oder als ein Reiber für das Abdominalreibzeug dienen, konnte ich nicht nachweisen. Das Weibchen bietet nicht die Spur von dieser letzteren Bildung dar.

Wir haben ferner bei drei Species des lamellicornen Genus Oryc-tes einen nahezu parallelen Fall. Bei dem Weibchen des 0. gryphus und nasicornis sind die Rippen auf den Reibzeugen des Propygidiums weniger continuirlicli und weniger deutlich als beim Männchen. Die hauptsächlichste Verschiedenheit liegt aber darin, dass die ganze Oberfläche dieses Segments, wenn sie in dem gehörigen Lichte gehalten wird, .dicht mit Haaren bekleidet erscheint, welche bei den Männchen fehlen oder durch ausserordentlich feinen Flaum dargestellt werden. Fs muss bemerkt werden, dass bei allen Coleoptern der wirksame Theil dos Reibzeugs von Haaren entblösst ist. Bei 0. senegalensis ist die Verschiedenheit zwischen den Geschlechtern schärfer markirt, und dies ist am besten zu sehen, wenn das betreuende Segment gereinigt und als durchscheinendes Object betrachtet wird. Beim Weibchen ist die ganze Oberfläche mit kleinen separaten Leisten bedeckt, welche Dornen tragen, während beim Männchen diese Leisten, je weiter sie nach der Spitze zu sich finden, immer mehr und mehr zusammenfliessen, regelmässig und nackt werden, so dass drei Viertel des Segments mit äusserst feinen parallelen Rippen bedeckt werden, welche beim Weibchen vollständig fehlen. Man kann indessen bei den Weibchen aller drei Species von Orycfcs. wenn das Abdomen eines aufgeweichten Exemplars vorwärts und rückwärts gezogen wird, einen leichten kratzenden oder stridulirenden Laut hervorbringen.

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Geschlechtliche Zucht wähl.

II. Theil.

Was Ileliopalhes und Oryctes betrifft, so lässt sich kaum daran zweifeln, dass die Männchen den stridulirenden Laut hervorbringen um die Weibchen zu rufen oder zu reizen; aber bei den meisten Käfern dient dem Anscheine nach die Stridulation beiden Geschlechtern als gegenseitiger Lockruf. Diese Ansicht wird dadurch nicht unwahrscheinlich gemacht, dass Käfer bei verschiedenen Erregungen striduliren; wir wissen ja auch, dass Vögel ihre Stimme zu verschiedenen Zwecken benutzen ausser dem an ihre Genossen gerichteten Gesänge. Der grosse Chiasognathus stridulirt aus Aerger oder zur Herausforderung, viele Species thun dasselbe in der Angst oder Furcht, wenn sie so gehalten werden, dass sie nicht entschlüpfen können. Die Herren Wollaston und Ckotch waren im Stande, durch Klopfen an die hohlen Baumstämme auf den Canarischen Inseln die Gegenwart von Käfern, die zur Gattung Acalles gehören, durch ihre Stridulation zu entdecken. Endlich bringt der männliche Ateuchus seinen Laut hervor, um das Weibchen in seiner Arbeit zu ermuthigen, und aus Unruhe, wenn dasselbe entfernt wird74. Einige Naturforscher glauben, dass die Käfer diesen Laut hervorbringen, um ihre Feinde damit fortzuschrecken; ich kann aber nicht glauben, dass die Vierfüsscr und Vögel, welche im Stande sind, die grösseren Käfer mit ausserodentlich harten Bedeckungen zu fressen, durch ein so unbedeutendes kratzendes Geräusch weggeschreckt werden können. Die Annahme, dass die Stridulation als ein geschlechtlicher Lockruf dient, wird durch die Thatsache unterstützt, dass die Individuen von Aiwbium tesselalum bekanntlich das Klopfen unter einander beantworten oder, wie ich selbst beobachtet habe, selbst auf ein künstlich gemachtes klopfendes Geräusch antworten; so tlieilt mir Mr. Doukleday mit, dass er zwei oder drei Mal gesehen habe, wie ein Weibchen klopfte75, und im Verlaufe von einer

74  M. P. de la Brulerie, citirt in: Journal of Travel by A. Murray. Vol. I, 1868, p. 135.

75  Mr. Doubleday theilt mir mit, dass „das Geräusch von dem Insect dadurch hervorgebracht wird, dass es sich so hoch auf seinen Beinen erhebt, als „es nur kann und dann seinen Thorax fünf- oder sechsmal in rapider Aufeinanderfolge gegen die Unterlage aufstösst, auf welcher es sitzt". Wegen Nach-weisnngen über diesen Gegenstand s. Landois in: Zeitschrift für wissenschaftliche Zoologie Bd. 17, S. 131. Olivier sagt (nach dem Citat bei Kirby and Spence, Introduction etc. Vol. II, p. 395), dass das Weibchen von Pimelia striata einen ziemlich lauten Ton hervorbringt durch das Aufschlagen ihres Abdomen gegen irgend eine harte Substanz „und dass das Männchen, dieses Rufes gewär-„tig, ihr bald aufwartet und sie sich paaren".

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Cap. 10.

Insecten: Coleoptera.

343

oder zwei Stunden fand er es mit einem Männchen vereint und bei einer Gelegenheit sogar von mehreren Männchen umgeben. Endlich erscheint es wahrscheinlich, dass die beiden Geschlechter vieler Arten von Käfern zunächst in den Stand gesetzt wurden, einander durch das unbedeutende reibende Geräusch zu finden, welches durch das Reiben der benachbarten Thcile ihres harten Körpers auf einander hervorgerufen wurde, und dass in dem Maasse als die Männchen oder die Weibchen, welche das stärkste Geräuch machten, den besten Erfolg beim Finden von Genossen hatten, die Kauhigkciten an verschiedenen Theilen ihrer Körper allmählich durch geschlechtliche Zuchtwahl zu echten Stridulationsorganeu entwickelt wurden.

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Elftes Capitel,

Insecten. (Fortsetzung.) Ordnung: Lepicloptera,

Geschlechtliche Werbung der Schmetteiiinge. — Kämpfe. — Klopfende Geräusche. — Farben beiden Geschlechtern gemeinsam oder brillanter bei den Männchen. — Beispiele. — Sind nicht Folge der directen Wirkung der Lebensbedingungen. — Farben als Schutzmittel augepasst. — Färbungen der Motten. — Entfaltung. — Wahrnehmungsvermögen der Lepidoptern. — Variabilität. — Ursache:! der Verschiedenheiten in der Färbimg zwischen den Männchen und Weibchen. — Helle Farben der Raupen. — Zusammenfassung und Schlussbemcrkungen über die secumlären Sexualcharactere der Insecten. — Vögel und Insecten mit einander verglichen

Der interessanteste Punkt für uns ist bei dieser Ordnung die Verschiedenheit in der Färbung zwischen den Geschlechtern einer und derselben Species und zwischen den verschiedenen Species einer und derselben Gattung. Beinahe dieses ganze Capitel wird diesem Gegenstande gewidmet sein; ich will aber zuerst einige wenige Bemerkungen über einen oder zwei andere Punkte machen. Oft kann man mehrere Männchen sehen, welche ein Weibchen verfolgen oder sich um dasselbe versammeln. Ihre Bewerbung scheint eine sich sehr in die Länge ziehende Angelegenheit zu sein, denn ich habe häufig ein oder mehrere Männchen beobachtet, wie sie um ein Weibchen herumtanzten, bis ich ermüdet wurde, ohne das Ende der Bewerbung auch nur vorauszusehen. Obgleich Schmetterlinge so schwache und zerbrechliche AVesen sind, sind sie doch kampfsüchtig; man hat eine Tris l gefangen, deren Flügelspitzen in Folge eines Kampfes mit einem andern Männchen gebrochen waren. Mr. Colungwood erzählt von den häufigen Kämpfen zwischen den Schmetterlingen von Borneo und sagt: „sie drehen sich mit „der grössten Schnelligkeit um einander herum und scheinen von der „grössten Wuth erregt zu sein." Man kennt eiuen Fall, wo ein Schmetterling, nämlich die Ageronia feronia. ein Geräusch hervorbrachte wie

' Apatiira Tris: the Entomologist's Weekly Intelligencer. 1859, p. 139. In Bezug auf die Schmetterlinge von Borneo s. C. Colli ngivood, Kambles of a Naturalist. 1868, p. 183.

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Cap. 11.

lusecten: Lepiüoptera.

345

das eines Zahnrades, welches unter einem federnden Sperrhaken läuft, und welches in der Entfernung von mehreren Yards gehört werden konnte. Bei Kio de Janeiro hörte ich dieses Geräusch nur, als zwei Schmetterlinge einander in unrcgclmässigem Laufe jagten, so dass es wahrscheinlich während der Bewerbung der Geschlechter hervorgebracht wird. Ich habe aber dem Punkte damals keine Aufmerksamkeit geschenkt2.

Jedermann bewundert die ausserordentliche Schönheit vieler Schmetterlinge und einiger Motten ; und wir werden zu der Frage veranlasst, wie ist diese Schönheit erlangt worden ? Sind diese Färbungen und verschiedenen Zeichnungen einfach das Kesultat der directen Wirkung der physikalischen Bedingungen, denen diese lusecten ausgesetzt gewesen sind, ohne irgendwelchen daraus fliessenden Vortheil? oder sind nach einander auftretende Abänderungen angehäuft und entweder als Schutzmittel oder für irgend einen unbekannten Zweck festgehalten worden, vielleicht damit das eine Geschlecht dem anderen anziehend gemacht werde? Und ferner, was ist die Bedeutung davon, dass bei den Männchen und Weibchen gewisser Species die Färbungen sehr vorschieden und bei den beiden Geschlechtern anderer Species gleich sind ? Ehe wir versuchen, diese Fragen zu beantworten, muss eine Anzahl von That-saclien hier mitgetheilt werden.

Bei den meisten unserer englischen Schmetterlinge, sowohl denen, welche schön sind, wie dem Admiral, dem Pfauenauge, den Füchsen QVmiessaß), und denen, welche einfach gefärbt sind, den Grasfaltern (Hipparchiae), sind die Geschlechter einander gleich. Dies ist auch der Fall bei den prachtvollen Heliconiden und Danaiden der Tropenländer. Aber bei gewissen andern tropischen Gruppen und bei einigen unserer englischen Schmetterlinge, so bei der Iris, dem Aurorafalter u. s. w. iApalura Iris und Anthocharis cwüamines), weichen die Geschlechter entweder bedeutend oder nur unbedeutend in der Farbe von einander ab. Es ist unmöglich den Glanz der Männchen einiger tropischer Species mit Worten zu schildern. Selbst innerhalb einer und ' der nämlichen Gattung finden wir oft Species, welche eine ausserordentliche Verschiedenheit zwischen den Geschlechtern darbieten, während bei andern die Geschlechter nahezu gleich sind. So theilt mir

- s. mein Journal of Researches. 1845, p. 33. Mr. Doubleday hat einen eigenthiinilichen häutigen Sack an der Basis der Vorderflügel entdeckt, welcher wahrscheinlich zur Hervorbringung des Lautes in Beziehung steht (Proeeed. En-tomolog. Soc, 3. March, 1845, p. 123).

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Mr. Bates, welchem ich für die meisten der folgenden Thatsachen ebenso wie dafür, dass er diese ganze Erörterung nochmals durchgesehen hat, sehr verbunden bin, mit, dass er von der südamerikanischen Gattung Epicallia zwölf Species kennt, von denen die beiden Geschlechter an denselben Orten schwärmen (und dies ist nicht immer bei Schmetterlingen der Fall), welche daher nicht durch die äusseren Bedingungen verschieden beeintiusst worden sein können 3. Von neun unter diesen zwölf Species gehören die Männchen zu den brillantesten von allen Schmetterlingen und weichen so bedeutend von den vergleichsweise einfachen Weibchen ab, dass sie früher in besondere Gattungen gestellt wurden. Die Weibchen dieser neun Species sind einander in dem allgemeinen Typus ihrer Färbung ähnlich und sind gleichfalls beiden Geschlechtern von mehreren verwandten Gattungen ähnlich, welche sich in verschiedenen Theilen der Erde finden. In Uebereinstimmung mit der Descen-denztheorie können wir daher schliessen, dass diese neun Species und wahrscheinlich alle übrigen Arten dieser Gattung von einer vorelter-lichen Form abstammen, welche in nahezu derselben Weise gefärbt war. Bei der zehnten Species behält das Weibchen noch immer dieselbe allgemeine Färbung, aber das Männchen ist ihm ähnlich, so dass dies in einer viel weniger auffallenden und abstechenden Art gefärbt ist als die Männchen der vorhergehenden Species. Bei der elften und zwölften Species weichen die Weibchen von dem bei ihrem Geschlechte in dieser Gattung gewöhnlichen Typus der Färbung ab, denn sie sind in nahezu derselben Weise lebhaft decorirt, wie die Männchen, aber in einem etwas geringeren Grade. Es scheinen also bei diesen beiden Arten die hellen Farben der Männchen auf die Weibchen übertragen worden zu sein, während das Männchen der zehnten Species die einfache Färbung sowohl des Weibchens als der elterlichen Form der Gattung entweder beibehalten oder wiedererlangt hat, so dass die beiden Geschlechter in beiden Fällen, wenn auch in einer entgegengesetzten Art und Weise, nahezu gleich gemacht wurden. In der verwandten Gattung Eubagls sind beide Geschlechter einiger Species einfach gefärbt und einander nahezu gleich, während bei der grösseren Zahl die Männchen mit schönen metallischen Färbungen in einer verschiedenartigen Weise verziert sind und bedeutend von ihren Weibchen ab-

3 s. auch den Aufsatz von Mr. Bates in den Proceed. Entomolog. Soc. of Philadelphia. 1865, p. 206; auch Mr. Wallace über denselben Gegenstand in Bezug auf Diadem», in Transact. Entomolog. Soc. of London. 18G9, p. 278.

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weichen. Durch die ganze Gattung hindurch behalten die Weibchen denselben allgemeinen Character, so dass sie gewöhnlich einander bedeutend ähnlicher sind als ihren eigenen Männchen.

Bei der Gattung Papilio sind alle Species der Gruppe Aeneas merkwürdig wegen ihrer auffallenden und stark contrastirenden Farben und sie erläutern die häufig vorhandene Neigung, in der Grösse der Verschiedenheit zwischen den Geschlechtern gradweise Abstufungen eintreten zu lassen. In einigen wenigen Species, z. B. bei P. ascanius, sind die Männchen und Weibchen einander gleich, bei andern sind die Männchen wenig oder sehr viel glänzender gefärbt als die Weibchen. Die unsern Vanessae verwandte Gattung Junonia bietet einen nahezu parallelen Fall dar ; denn obgleich die Geschlechter der meisten ihrer Species einander ähnlich sind und satter Färbung entbehren, so ist doch in gewissen Species, wie z. B. bei J. oenone, das Männchen etwas glänzender gefärbt als das Weibchen, und bei einigen wenigen (z. B. J. andremiaja) ist das Männchen von dem "Weibchen so verschieden, dass es leicht fälschlich für eine vollständig verschiedene Species genommen werden kann.

Auf einen andern merkwürdigen Fall machte mich im British Museum Mr. A. Butler aufmerksam, nämlich auf die Thedae aus dem tropischen Amerika, bei denen beide Geschlechter nahezu gleich und wundervoll glänzend sind. Bei einer andern Art ist das Männchen in einer ähnlichen prächtigen Weise gefärbt, während die ganze obere Fläche des Weibchens von einem dunklen gleichförmigen Braun ist. Unsere gemeinen kleinen blauen englischen Schmetterlinge der Gattung Lycaena erläutern die verschiedenen Differenzen in der Färbung zwischen den Geschlechtern fast ebensogut, wenn auch nicht in einer so auffallenden Weise, wie die eben genannten exotischen Gattungen. Bei Lycaena ageslis haben beide Geschlechter braune Flügel mit kleinen orangenen Augenflecken und sind folglich gleich. Bei L. aegon sind die Flügel des Männchens schön blau mit Schwarz gerändert, während die Flügel des "Weibchens braun sind mit einem ähnlichen Rande und denen von L. agestis sehr ähnlich. Endlich sind bei L. arion beide Geschlechter von blauer Farbe und nahezu gleich, obschon beim Weibchen die Bänder der Flügel etwas trüber und die schwarzen Flecke einfacher sind. Und in einer hellblauen indischen Species sind beide Geschlechter einander noch mehr gleich.

Ich habe die vorstehenden Fälle in ziemlichem Detail mitgetheilt, um an erster Stelle zu zeigen, dass, wenn die Geschlechter bei Schmet-

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terlingen von einander abweichen, der allgemeinen Regel nach das Männchen das schönste ist und am meisten von dem gewöhnlichen Typus der Färbung der Gruppe, zu welcher die Art gehört, abweicht, fn den meisten Gruppen sind daher die Weibchen der verschiedenen Specics einander viel mehr ähnlich als es die Männchen sind. Indessen sind in einigen ausnahmsweisen Fällen, auf welche ich später noch hinzuweisen haben werde, die Weibchen glänzender gefärbt als die Männchen. An zweiter Stelle sind die obigen Fälle mitgetheilt worden, um es dem Leser klar zu machen, dass innerhalb einer und der nämlichen Gattung die beiden Geschlechter häufig jede Abstufung von gar keiner Verschiedenheit in der Färbung bis zu einer so bedeutenden darbieten, dass es lange gedauert hat, ehe die beiden Geschlechter von den Entomologen in eine und dieselbe Gattung gestellt wurden. Wir haben aber drittens auch gesehen, dass, wenn die Geschlechter einander ziemlich ähnlich sind, dies allem Anscheine nach entweder die Folge davon ist, dass das Männchen seine Farben dem Weibchen überliefert hat, oder dass das Männchen die ursprünglichen Farben der Gattung zu welcher die Art gehört, beibehalten oder vielleicht auch wiedererlangt hat. Auch verdient es Beachtung, dass in denjenigen Gruppen, bei denen die Geschlechter irgendwelche Verschiedenheit der Farbe besitzen, die Weibchen gewöhnlich in einer gewissen Ausdehnung den Männchen ähnlich sind, so dass, wenn die Männchen in einem ausserordentlichen Grade schön sind, auch die Weibchen fast ausnahmslos einen gewissen Grad von Schönheit ihrerseits darbieten. Aus den zahlreichen Fällen von Abstufung in dem Betrage an Verschiedenheit zwischen der Geschlechtern und aus dem Vorherrschen desselben allgemeinen Typus der Färbung durch die ganze Gruppe hindurch können wir schlies-sen, dass, was auch die Ursachen gewesen sein mögen, welche die brillante Färbung allein der Männchen bei manchen Species und beider Geschlechter in mehr oder weniger gleichem Grade bei andern Species bestimmt haben, diese Ursachen im Allgemeinen dieselben gewesen sind.

Da so viele prachtvolle Schmetterlinge die Tropenländer bewohnen, so ist oft vermuthet worden, dass sie ihre Farben der grossen Wärme und Feuchtigkeit dieser Zonen verdanken. Aber aus der Vergleichung verschiedener nahe verwandter Gruppen von Insecten aus den gemässigten und den tropischen Ländern hat Mr. Bates gezeigt 4, dass diese Ansicht nicht aufrecht erhalten werden kann; und die Belege hierfür 4 The Naturalist on the Amazons. Vol. I. 1863, p. 19.

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werden zwingend, sobald brillant gefärbte Männchen und einfach gefärbte Weibchen einer und derselben Species den nämlichen Bezirk bewohnen, sich von demselben Futter ernähren und genau dieselben Lebensbedingungen haben. Selbst wenn die Geschlechter einander ähnlich sind, können wir kaum glauben, dass ihre brillanten und schön angeordneten Farben das zwecklose Resultat einer besonderen Beschaffenheit der Gewebe und eine Folge der Einwirkung der umgebenden Bedingungen sind. Sobald die Farbe zu irgend einem speciellen Zwecke modificirt worden ist, so ist dies, und zwar bei Thieren aller Arten, soweit wir es bcurtheilen können, zum Zwecke des Schutzes oder zur Bildung eines Anziehungsmittels der Geschlechter an einander geschehen. Bei vielen Arten von Schmetterlingen sind die oberen Flächen der Flügel dunkel gefärbt, und dies befähigt sie aller Wahrscheinlichkeit nach dazu, der Beobachtung und der Gefahr zu entgehen. Aber Schmetterlinge sind vorzuglich, wenn sie ruhen, deii Angriffen ihrer Feinde ausgesetzt und fast alle Arten erheben beim Buhen ihre Flügel senkrecht über ihren Kücken, so dass nur die unteren Seiten dem Blicke ausgesetzt sind. Diese Seite ist es daher, welche in vielen Fällen in auffallender Weise so gefärbt ist, dass sie der Fläche gleicht, auf welcher diese Insecten sich am häufigsten niederlassen. Ich glaube, es war Dr. Eössler, welcher zuerst die Aehnlichkeit der geschlossenen Flügel gewisser Vanessae und anderer Schmetterlinge mit der Rinde von Bäumen bemerkte. Viele analoge auffallende Fälle könnten hier noch mitgetheilt werden. Der interessanteste Fall ist der, den Mr. Wallace 5 von, einem gewöhnlichen indischen und snmatraner Schmetterling (Kallima) berichtet hat, welcher wie durch einen Zauber verschwindet, wenn er sich in einem Gebüsche niederlässt. Denn er verbirgt seinen Kopf und seine Antennen zwischen den geschlossenen Flügeln und diese können in ihrer Form, Färbung und Aderung von einem verwelkten Blatte in Verbindung mit dessen Stiel nicht unterschieden werden. In einigen andern Fällen ist die untere Fläche der Flügel brillant gefärbt und doch dient sie als Schutzmittel. So sind die Flügel bei Thecla rubi, wenn sie geschlossen sind, smaragdgrün und gleichen den jungen Blättern des Himbeerstrauchs, auf welchen dieser Schmetterling im Frühjahr am häufigsten sitzend anzutreffen ist.

5 s. einen interessanten Artikel in der Westmiuster Review, July, 1867 p. 10. Ein Holzschnitt der Kallima ist von Mr. Wallace in Hardwieke's Science Gossip, Sept. 1867, p. 19G mitgetheilt worden.

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Obgleich die dunklen Färbungen der oberen oder unteren Flächen vieler Schmetterlinge ohne Zweifel dazu dienen, sie zu verbergen, so können wir doch unmöglich diese Ansicht auch auf die brillanten und auffallenden Färbungen vieler anderen Arten ausdehnen, wie z. B. auf unsern Admiral und unser Pfauenauge, die Wanessae, nnsern weissen Kohlschmetterling CPievis) oder den grossen schwalbenschwänzigen Pa-püio, welcher auf offenen Gründen schwärmt. Denn es' sind diese Schmetterlinge durch jene Farben sichtbar für jedes lebende Wesen gemacht worden. Bei diesen Species sind beide Geschlechter einander gleich, aber bei dem gemeinen Citronenvogel (Gonepteryx rkamni) ist das Männchen intensiv gelb, während das AVeibchen viel blässer ist, und bei dem Aurorafalter (Antliocharis cardamlnes) haben nur die Männchen die glänzenden orangenen Spitzen an ihren Flügeln. In vielen Fällen sind die Männchen und Weibchen gleichmässig in die Augen fallend und es ist nicht glaubhaft, dass ihre Verschiedenheit in der Färbung in irgend einer Beziehung zu gewöhnlichen Schutzmitteln steht. Nichtsdestoweniger ist es möglich, dass die auffallenden Farben vieler Species in einer indirecten Weise wohlthätig sind und zwar, wie hernach noch gezeigt werden wird, dadurch, dass dieselben den Feindon ihrer Art es sofort zu erkennen geben, dass sie ungenicssbar sind. Selbst in diesem Falle ist der Schluss noch nicht mit Sicherheit zu ziehen, dass die glänzenden Farben und schönen Zeichnungen zu diesem specialen Zwecke erlangt worden sind. In einigen andern merkwürdigen Fällen ist die Schönheit zum Zwecke eines Schutzes durch die Nachahmung anderer schöner Species erreicht worden, welche denselben Bezirk bewohnen nnd vor Angriffen dadurch sicher geworden sind, dass sie in irgendwelcher Weise den Feinden offensiv sind.

Das Weibchen unseres Aurorafalters, welcher oben erwähnt wurde, und einer amerikanischen Species CAnlhocharis gemdia) bietet uns, wie Mr. Walsh gegen mich geäussert hat, wahrscheinlich die ursprünglichen Farben der elterlichen Art der ganzen Gattung dar, denn beide Geschlechter von vier oderx fünf sehr weit verbreiteten Arten sind in nahezu derselben Art und Weise gefärbt. Wir können hier schliessen, wie in mehreren der vorhergehenden Fälle, dass es die Männchen von Antliocharis cardamines und genulia sind, welche von dein gewöhnlichen Typus der Färbung ihrer Gattung abgewichen sind. Bei der Anth. sara von Californien sind die orangenen Spitzen beim AVeibchen zum Theil entwickelt worden, denn ihre Flügel sind mit einem Röthlich-

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Cap. 11.                                 Insecten: Lepidoptera.                                      351

Orange getupft, aber blässer als beim Männchen und in einigen andern Beziehungen unbedeutend verschieden. Bei einer verwandten indischen Form, der Iphias ghutcippe, sind die orangenen Spitzen in beiden Geschlechtern völlig entwickelt. Bei dieser Iphins gleicht die untere Fläche der Flügel, worauf mich Mr. A. Butler aufmerksam gemacht hat, in merkwürdiger Weise einem blassgefärbten Blatte und bei unserem englischen Aurorafalter gleicht die obere Fläche dem Blüthen-kopfe der wilden Petersilie, auf welcher man denselben sich zur Nachtruhe niederlassen sehen kann 6. Dieselbe Beweiskraft, welche uns dazu zwingt zu glauben, dass die untere Fläche in diesen Fällen zum Zwecke des Schutzes gefärbt worden ist, veranlasst uns aber auch es zu läug-nen, dass in den Fällen, wo die Flügel mit hellem Orange an der Spitze versehen worden ist, und besonders wenn dieser Character auf das Männchen beschränkt ist, dies zu demselben Zwecke geschehen ist.

Wenden wir uns nun zu den Motten. Die meisten dieser Thiere ruhen während des ganzen Tages oder des grösseren Theils desselben bewegungslos mit herabhängenden Flügeln, und die oberen Flächen der Flügel sind oft, wie Mr. Wallace bemerkt hat, in einer wunderbaren Weise schattirt und gefärbt, um der Entdeckung zu entgehen. Bei den meisten Bombyciden und Noctuiden7 bedecken im Kuhezn-stande die Vorderflügel die Hinterflügel und verbergen dieselben, so dass die letzteren ohne grosse Gefahr glänzend gefärbt sein können; und so sind sie in vielen Species beider Familien wirklich gefärbt. Während des Flugs selbst sind die Motten oft im Stande, ihren Feinden zu entgehen; nichtsdestoweniger müssen, da die Hinterflügel beim Fliegen dem Blicke vollständig ausgesetzt sind, die glänzenden Farben derselben allgemein auf Kosten einer gewissen Gefahr erlangt worden sein. Aber die folgende Thatsache zeigt uns, wie vorsichtig wir sein müssen beim Ziehen von Schlüssen üb'er einen derartigen Gegenstand. Die gemeinen Gelbbandeulen (Triphaena) fliegen oft während des Tags oder des frühen Abends herum und sind dann wegen der Farbe ihrer Hinterflügel sehr auffallend. Man würde natürlich hier denken, dass dies eine Quelle der Gefahr sei; aber Mr. Jenner Weir glaubt, dass dies factisch ein Mittel zur Sicherung ist. Denn die Vögel stossen

8 s. die interessanten Beobachtungen von Mr. T. W. Wood, „The Student", Sept. 1868, p. 81.

' Mr. Wallace in Hardwicke's Science Gossip, Sept. 18U7, p. l'J3.

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Tlieil.

auf diese glänzend gefärbten und zerbrechlichen Flächen statt auf den Körper. So that z. B. Mr. Weir ein kräftiges Exemplar von Triphaena pronuba in seine Voliere, welches, sofort von einem llothkehlclien verfolgt wurde, da aber die Aufmerksamkeit des Vogels sich auf die gefärbten Flügel richtete, so wurde die Motte nicht eher als nach ungefähr fünfzig Versuchen gefangen und nachdem kleine Partieeu der Flügel wiederholt abgebrochen worden waren. Er versuchte dasselbe Experiment in freier Luft mit einer Triphaena funbria und einer Schwalbe, aber die bedeutende Grösse dieser Motte verhinderte wahrscheinlich ihre Gefangennahme 8. Wir werden hierdurch an eine von Mr. Wal-lace 9 gemachte Angabe erinnert, nämlich dass in den brasilianischen Wäldern und auf den malayischen Inseln viele häufige und auffallend decorirte Schmetterlinge nur schwache Flieger sind, trotzdem sie in ihren Flügeln eine grosse Fläche darbieten; und „oft werden sie mit „durchbohrten und gebrochenen Flügeln gefangen, als wenn sie von „Vögeln ergriffen worden wären, denen sie dann wieder entgangen wä-„ren. Wären die Flügel im Verhältnisse zum Körper viel kleiner ge-„wesen, so würde das Insect, wie es scheint, wahrscheinlich häufiger „an einem wichtigen Theile getroffen oder durchbohrt worden sein, und „deshalb kann wohl die Zunahme der Flächenausdehnung der Flügel „indirect eine Wohlthat für das Insect gewesen sein".

Entfaltung der Reize. — Die hellen Farben der Schmetterlinge und einiger Motten sind besonders zur Entfaltung angeordnet worden, mögen sie ausserdem noch als Schutzmittel dienen oder nicht. Helle Farben werden zur Nachtzeit nicht sichtbar sein; und es lässt sich nicht zweifeln, dass Motten im Ganzen genommen viel weniger lebhaft gefärbt sind als Schmetterlinge, von denen alle ihrer Lebensweise nach Tag-thiere sind. Aber die Motten gewisser Familien, so z. B. der Zygaeniden, mehrere Sphingiden, Uraniiden, einige Arctiiden und Saturniiden fliegen während des Tags oder des frühen Abends herum, und viele dieser Arten sind ausserordentlich schön und viel glänzender gefärbt als die' im strengen Sinne Nachts lebenden Arten. Einige wenige Ausnahmsfälle von glänzend gefärbten Nachtfliegern sind indessen mitgetheilt worden lü.

8  s. auch Aber diesen Gegenstand Mr. Weir's Aufsatz in den Transact. En-tomolog. Soc. 1869, p. 23.

9  Westminster Review, July, 1807, p. Iß.

10  so z. B. Litliosia; Prof. Westwood scheint aber (Modern Classific. of Insects, Vol. II, p. 390) über diesen Fall überrascht "gewesen zu sein. Ueber die

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Cap. 11.

Tnsectpn: Tjppidoptera.

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Wir haben auch noch einen Beweis anderer Art in Bezug auf diese Entfaltung. Wie vorhin erwähnt erlieben die Schmetterlinge ihre Flügel im Ruhezustände; und während sie im Sonnenscheine ausruhen, erheben sie oft abwechselnd die Flügel und lassen sie wieder sinken, wodnrch sie beide Oberflächen vollständig dem Blicke aussetzen; obschon nun die untere Fläche oft als Schutzmittel in einer dunklen Weise se-färbt ist, so ist sie doch in vielen Species ebenso glänzend gefärbt als die Oberfläche, zuweilen auch in einer sehr verschiedenen Weise. In einigen tropischen Species ist die untere Flache selbst noch brillanter gefärbt als die obere11. Bei dem grossen Perlnmtterfalter, der Argynnis aylaia. ist nur die untere Fläche mit glänzenden Silbertlecken verziert. Nichtsdestoweniger ist der allgemeinen Regel nach die obere Fläche, welche wahrscheinlich die meist vollständig exponirte ist, glänzender und in einer verschiedenartigeren Weise gefärbt als die untere. Es bietet daher die untere Fläche im Allgemeinen den Entomologen die nützlichsten Merkmale dar zum Nachweis der Verwandtschaften der verschiedenen Arten.

Wenn wir uns nun zu der enormen Gruppe der Motten wenden, welche gewöhnlich die untere Fläche ihrer Flügel nicht vollständig dem Blicke aussetzen, so finden wir, wie ich von Mr. Stainton höre, dass diese Seite sehr selten glänzender gefärbt ist als die obere oder auch mir mit gleichem Glänze. Einige Ausnahmen von dieser Regel, entweder wirkliche oder scheinbare, müssen angeführt werden, so die lly-popyra, die Mr. Wormald l2 angeführt hat. Mr. R. Trimkn theilt mir mit, dass in Guenee's grossem Werke drei Motten abgebildet sind, bei denen die untere Fläche weitaus die brillanteste ist. So ist z. B. bei der australischen Gastrophora die obere Fläche der Vorderflügel blass gräulich-ockergelb, während die untere Fläche prachtvoll mit einem Au-gonflecke von Kobaltblau verziert ist, welcher in der Mitte eines schwarzen, von Orangegelb und nach aussen von Bläulichweiss geränderton Fleckes sich befindet. Aber die Lebensweise dieser drei Motten ist unbekannt,* so dass für diese ungewöhnliche Art der Färbung keine Erklärung gegeben werden kann. Auch theilt mir Mr. Trimen mit, dass

relativen Färbungen der Tag- uml Nachtscbmetterlinge s. ebenda p. 333 und 392; auch Harris, Treatise on the Insccts of New England. 1842, p. 315.

1' Derartige Verschiedenheiten zwischen den oberen nnd unteren Flächen der Flügel bei mehreren Species von Papilio kann man auf den schönen Tafeln sehen zn Mr. Wallace's Abhandlung on the Papilionidae of the Malayan Region, in: Transact. Linncan Soc. Vol. XXV. Part. I. 18G5.

12 Proceed. Entomolog. Soc, 2. iMarch, 18G8.

DARWIN, Ab.stammui]g. 1. Zweite Autkigü.                                                            23

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

die untere Fläche der Flügel gewisser anderer Geometrae13 und viertheiliger Nocluae entweder bunter oder glänzender gefärbt ist als die obere Fläche; aber einige dieser Species haben die Gewohnheit, „ihre „Flügel vollständig aufrecht über ihren Rücken zu halten und in dieser „Stellung eine beträchtliche Zeit zu bleiben", Avobei sie die untere Fläche dem Blicke aussetzen. Andere Species haben, wenn sie sich auf den Boden oder auf Pflanzen niederlassen, die Gewohnheit, ihre Flügel dann und wann plötzlich leicht zu erheben. Es ist daher die Thatsache, dass die untere Fläche der Flügel bei manchen Motten glänzender gefärbt ist als die obere, kein so anomaler Umstand, als es auf den ersten Blick erscheint. Die Saturniiden enthalten einige der schönsten unter allen Motten, ihre Flügel sind wie beim kleinen Nachtpfauenauge mit schönen Augenflecken verziert, und Mr. T. W. Woon '* macht die Bemerkung, dass sie in manchen ihrer Bewegungen Schmetterlingen gleichen, „z. B. in dem sanften Auf- und Abschwingen ihrer „Flügel, als wenn es auf eine Entfaltung ihrer Schönheit ankäme, welches für die Tagschmetterlinge characteristischer ist als für Motten". Es ist eine eigenthümliche Thatsache, dass bei keiner britischen Motte, ebensowenig bei irgendwelchen ausländischen Arten, soweit ich es wenigstens nachweisen kann, sobald sie brillant gefärbt sind, die Geschlechter in Bezug auf die Färbung bedeutend von einander verschieden sind, trotzdem dies bei vielen glänzend gefärbten Schmetterlingen der Fall ist. Indess wird eine amerikanische Motte, die Saturnia Ja, beschrieben als im Besitze tiefgelber und merkwürdig mit purpurrothen Flecken gezeichneter Vorderflügel, während die Flügel des Weibchens purpurbraun und mit grauen Linien gezeichnet sind 13. Die britischen Motten, welche in ihrer Färbung dem Geschlechte nach verschieden sind, sind alle braun oder haben verschiedene Farbennuancen von Schmutzig-gelb oder fast Weiss. Bei mehreren Species sind die Männchen viel dunkler als die Weibchen lö, und diese gehören Gruppen an, welche meistens während des Nachmittags fliegen. -Auf

ls s. auch eine Beschreibung der süd-amerikaniseben Gattung Erateina (einer der Geometern) in : Transact. Entomolog. Soc. New Series, Vol. V, pl. XV und XVI. " Proceed. Entomolog. Soc. of London, July fi, 1808, p. XXVII.

15  Harris, Treatise on the Insects of New England, edited by Fl int. 1862, p. 395.

16  Ich beobachtete z. B. in der Sammlung meines Sohnes, dass bei Lasiocampa quercus. Oäonentis potatoria, Hypogymna tlispar, Dasyclüra puäihimäa und Ci/c-nia mendica die Männchen dunkler sind als die Weibchen. Bei der zuletzt ge-

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Cap. 11.                                 Insecten: Lepidoptera.                                      355

der anderen Seite haben- bei vielen Gattungen, wie mir Mr. Stainton mittheilt, die Männchen weissere Unterflügel als die Weibchen, für welche Thatsache Agrolis exdamatinnts ein gutes Beispiel darbietet. Hierdurch werden die Männchen viel auffallender als die Weibchen, wenn sie in der Dämmerung umherfliegen. Bei dem Hopfenspinner (Hepialiis humuli) ist die Verschiedenheit schärfer ausgesprochen, die Männchen sind weiss und die Weibchen gelb mit dunkleren Zeichnungen. Es ist schwer eine Vermuthung auszusprechen, was die Bedeutung dieser Verschiedenheiten zwischen den Geschlechtern in den Schattirungsgraden von dunkler und heller sein mag; wir können aber kaum annehmen, dass sie nur das Resultat blosser Variabilität mit geschlechtlich beschränkter Vererbung unabhängig von einem daraus fliessenden Vortheile sein sollten. Nach den vorstehenden Angaben ist es unmöglich zuzugeben, dass die brillanten Farben von Schmetterlingen und einigen wenigen Motten im Allgemeinen zum Zwecke des Schutzes erlangt worden seien. Wir haben gesehen, dass ihre Färbungen und eleganten Zeichnungen so, als wenn es auf eine Entfaltung derselben abgesehen sei, angeordnet sind und dem Anblicke dargeboten werden. Ich werde daher zu der Vermuthung geleitet, dass die Weibchen im Allgemeinen die brillanter gefärbten Männchen vorziehen oder von diesen am meisten angeregt werden: denn nach jeder andern Annahme würden die Männchen, so weit wir sehen können, zu gar keinem Zwecke geschmückt sein. Wir wissen, dass Ameisen und gewisse lamellicorne Käfer eines Gefühls der Zuneigung für einander fähig sind und dass Ameisen ihre Genossen nach einem Verlaufe von mehreren Monaten wiedererkennen. Es liegt daher keine abstracte Unmöglichkeit vor, dass die Lepidoptern, welche in der Stufenleiter wahrscheinlich nahezu oder vollständig so hoch stehen wie jene Insecten, hinreichende geistige Fähigkeiten haben sollten, hellere Färbungen zu bewundern. Sie finden sicher Blüthen durch

nannten Species ist die Verschiedenheit in der Farbe zwischen den beiden Geschlechtern scharf ausgesprochen; auch theilt mir Mr. Wallace mit, dass wir liier, wie er meint, einen Fall von protectiver Xachäffung vor mis haben, welche auf das eine Geschlecht beschränkt ist, wie später noch ausführlich auseinandergesetzt werden wird. Das weisse Weibchen von (,'ycnia gleicht dem sehr gemeinen Spiloüoma menthastri, bei welchem beide Geschlechter weiss sind; und Mr. Stainton hat die Beobachtung gemacht, dass die letztere Motte mit äusserstem Widerwillen von einer ganzen Brut junger Truthühner verschmäht wurde, welche andere Motten sehr gern fressen. Wenn daher die l'ycnia von britischen Vögeln gewöhnlich für ein SjiiJoaovm gehalten würde, so würde sie dem Gefressenwerden entgehen und ihre weisse Farbe wäre daher eine ausserordentliche Wohlthat für sie.

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356                                   Geschlechtliche Zuchtwahl.                            II. Theil.

deren Färbungen und, wie ich an einem andern Orte gezeigt habe, haben diejenigen Pflanzen, welche ausschliesslich durch den Wind befruchtet werden, niemals eine auffallend gefärbte Bliithenkrone. Der Taubenschwanz (Macroglossa slellalarum) stürzt sich, wie oft beobachtet werden kann, ans einer ziemlichen Entfernung auf eine Gruppe Bliithen in der Mitte von grünem Laube, und ein Freund hat mir versichert, dass im Süden von Frankreich diese Motte wiederholt an den Wänden eines Zimmers gemalte Blumen aufsuchte. Der gemeine weisse Schmetterling fliegt oft, wie ich von Mr. Doubletiay höre, auf ein Stück Papier auf der Erde hinunter, indem er dasselbe ohne Zweifel für ein Insect seiner Art hält. Mr. Collinowood n erzählt von der Schwierigkeit, gewisse Schmetterlinge in dem malayischen Archipel zu sammeln und gibt an, dass „ein auf einen auffallend vorspringenden Zweig „ gestecktes todtes Exemplar oft ein Insect derselben Species in seinem „stürmischen Fluge aufhält und in den Bereich des Netzes herabbringt, „besonders wenn es dem andern Geschlechte angehört".

Die Werbung der beiden Geschlechter bei Schmetterlingen ist eine langwierige Angelegenheit. Die Männchen kämpfen zuweilen aus Eifersucht mit einander und man sieht oft, wie viele um ein und dasselbe Weibchen herumjagen oder sich um dasselbe versammeln. Wenn nun die Weibchen nicht ein Männchen dem andern vorziehen, so muss die Paarung dem blossen Zufalle überlassen sein, und dies scheint mir durchaus nicht der wahrscheinliche Ausgang zu sein. Wenn auf der andern Seite die Weibchen gewöhnlich, oder selbst nur gelegentlich, die schöneren Männchen vorziehen, so werden die Farben der letzteren gradweise glänzender geworden sein und werden auf beide Geschlechter oder nur auf ein Geschlecht vererbt worden sein je nach dem gerade vorherrschenden Gesetze der Vererbung. Sind die Schlussfolgerungen, zu denen wir aus verschiedenen Arten von Belegen in dem Anhange zum neunten Capitel gelangt sind, zuverlässig, so wird der Process der geschlechtlichen Zuchtwahl durch einen Umstand sehr erleichtert worden sein, nämlich dadurch dass die Männchen vieler Lepidoptern. wenigstens im Imagozustande, die Weibchen bedeutend an Zahl übertreffen.

Einige Thatsachen stehen indessen der Annahme, dass weibliche Schmetterlinge die schöneren Männchen vorziehen, entgegen. So ist mir von mehreren Beobachtern versichert worden, dass frische Weib-

" Ramhles of a Naturalist in the Chinese Seas. 1868, p. 182.

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Cap. 11.                                 Insecteii: LcpMoptera.                                      357

chen häufig in der Paarung mit abgeflogenen, abgoblassten oder schmutzigen Männchen zu sehen sind. Doch ist dies ein Umstand, welcher in vielen Fällen kaum ausbleiben kann, da die Männchen zeitiger aus ihren Puppeuhiillen ausschlüpfen als die Weibchen. Bei Motten aus der Familie der Bombj'ciden paaren sich die Geschlechter unmittelbar nachdem sie die Form des Imago angenommen haben; denn wegen des rudimentären Zustands ihrer Mundorgane können sie sich nicht ernähren. Wie mir mehrere Entomologen bemerkt haben, befinden sich die Weibchen in einem fast torpiden Zustande und scheinen auch nicht die mindeste Wahl in Bezug auf ihre Genossen zu äussern. Dies ist mit dem gemeinen Seidenschmetterling (_Bombyx mori) der Fall, wie mir mehrere Züchter vom Continente und in England gesagt haben. Dr. AVal-lace, welcher in Bezug auf die Züchtung von Bombyx Cynthia so ungeheure Erfahrung hat, ist der Ueberzeugung, dass die Weibchen keine Wahl oder keine Vorliebe zeigen. Er hat über dreihundert von diesen Motten lebend zusammengehalten und hat oft die kräftigsten AVeibehen mit verstümmelten Männchen sich paaren sehen. Wie es scheint, kommt das Umgekehrte selten vor. Denn wie er glaubt gehen die kräftigen Männchen bei den schwächlichen Weibchen vorüber und werden mehr von denen angezogen, welche die, meiste Lebenskraft darbieten. Obgleich wir iudirect zu der Annahme geführt worden sind, dass die Weibchen vieler Species die schöneren Männchen vorziehen, so ist doch kein Grund vorhanden zu vermutheii, weder bei Motten noch bei Schmetterlingen, dass die Männchen von der Schönheit der Weibchen angezogen werden. Wären die schöneren Weibchen beständig vorgezogen worden, so ist es fast sicher, da die Farben bei Schmetterlingen so häufig nur auf ein Geschlecht vererbt werden, dass die AVeibehen auch oft schöner als ihre männlichen Genossen gemacht worden wären. Dies kommt aber mit Ausnahme einiger weniger Beispiele uicht vor, und diese können, wie wir sofort sehen werden, aus dem Principe der Nachahmung und des Schutzes erklärt werden.

Da geschlechtliche Zuchtwahl ursprünglich und an erster Stelle von Variabilität abhängt, so müssen ein paar Worte über diesen Gegenstand noch hinzugefügt werden. In Bezug auf die Farbe bestellt hier keine Schwierigkeit, da äusserst variable Lepidoptern in beliebiger Zahl angeführt werden können. Ein einziges gutes Beispiel wird hier genügen. Mr. Bates zeigte mir eine ganze Reihe von Exemplaren von

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Geschlechtliche Zuchtwahl.

II. Theil.

Papilio Sesostris nnd Childrenae. Bei der letzteren Art variirten die Männchen sehr in der Grösse des schön emaillirten grünen Fleckes auf den Vorderflügeln und in der Grösse sowohl des weissen Flecks als des glänzenden carmoisinrotlien Streifens auf den Hinterfliigeln, so dass zwischen den am meisten und am wenigsten glänzend gefärbten Männchen ein grosser Unterschied bestand. Das Männchen von Papilio Sesostris ist, wenn auch ein schönes Iusect, viel weniger schön als Papilio Childrenae, Auch dieses variirt etwas in der Grösse des grünen Flecks auf den Vorderliiigeln und in dem gelegentlichen Auftreten eines kleinen carmoisinrotlien Streifens auf den Hinterflügeln, der, wie es" scheinen möchte, von dem Weibchen seiner eigenen Species entlehnt ist. Denn die Weibchen dieser und vieler anderen Species der /(eseas-Grnppc besitzen diesen carmoisiuen Streifen. Es fand sich daher zwischen den glänzendsten Exemplaren von P. Sesostris und den wenigst glänzenden von P. Childrenae nur eine kleine Lücke; nnd es war offenbar, dass, soweit blosse Variabilität in Betracht kam, keine Schwierigkeit vorlag, mittelst der Zuchtwahl die Schönheit der Species beständig zu erhöhen. Hier ist die Variabilität fast ganz auf das männliche Geschlecht beschränkt; aber Mr.,Wallack und Mr. Bates haben gezeigt l8, dass die Weibchen einiger andern Species ausserordentlich variabel sind, während die Männchen nahezu constant bleiben. Da ich vorhin den Hopfenschwärmer (üepiulus liumuli) als eines der besten Beispiele in Grossbritannien für die Verschiedenheit in der Färbung zwischen den Geschlechtern bei Motten erwähnt habe, so dürfte es der Mühe werth sein, noch hinzuzufügen19, dass auf den Shetland-lnseln häufig Männchen gefunden werden, welche den Weibchen sehr ähnlich sind. In einem späteren Gapitel werde ich Gelegenheit haben zu zeigen, dass die schönen augenartigen Flecken, oder Ocellen, die auf den Flügeln vieler Lepidoptern so häufig sind, ausserordentlich variabel sind.

Obgleich viele ernstliche Einwürfe erhoben werden können, so scheint es doch im Ganzen wahrscheinlich, dass die meisten derjenigen

ls Wallace, ou the Fapiliouklac of the Malayan Region in: Transact. Lin-nean Soc. Vol. XXV. 1S05, p. R, 30. Ein auffallendes Vorkommen einer seltenen, ganz streng zwischen zwei andern schwach niarkirteu Varietäten intermediären Varietät ist von Mr. Wallace beschrieben worden, s. auch Mr. Bates in: Proceed. Entomolog. Soc, Nov. 11), ISCß, p. XL.

10 Mr. R. Mac Lachlan, Transact. Entomolog. Soc. S. Series. Vol. II. Part. 6. I8CG, p. 459.

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C'ap. 11.                                Insecteu: Lepicloptera.                                      359

Species von Lepidoptern, welclie brillant gefärbt sind, ihre Farben geschlechtlicher Zuchtwahl verdanken, ausgenommen gewisse, sofort zu erwähnende Fälle, bei denen die auffallende Färbung als ein Schutzmittel eine Wohlthat für die Art ist. In Folge der heftigeren Begierde des Männchens durch das ganze Thierreieh hindurch ist dasselbe allgemein bereit, jedes Weibchen anzunehmen, und es ist gewöhnlich das Weibchen, welches eine Wahl ausübt. Wenn daher hier geschlechtliche Zuchtwahl eingewirkt hat, so müsstc, wenn die Geschlechter verschieden sind, das Männchen das am brillantesten gefärbte sein, und dies ist unzweifelhaft die gewöhnliche Regel. Wenn die Geschlechter brillant gefärbt sind und einander gleichen, so scheinen die von den Männchen erlangten Charactere auf beide Geschlechter überliefert worden zu sein. Wird aber diese Erklärung der Aehnlichkeit und Unähn-lichkeit der Färbung beider Geschlechter genügen?

Es ist bekannt -°, dass die Männchen und Weibchen einer und" derselben Species von Schmetterlingen in mehreren Fällen verschiedene Localitäten bewohnen, dass erstere meist im Sonnenscheine sich herumfummeln, während letztere düstere Wälder aufsuchen. Es ist daher möglich, dass verschiedene Lebensbedingungen direct auf die beiden Geschlechter eingewirkt haben; doch ist dies nicht wahrscheinlich21, da sie im erwachsenen Zustande nur während einer sehr kurzen Zeit verschiedenen Bedingungen ausgesetzt sind und die Larven beider den nämlichen Bedingungen unterliegen. Mr. Wällace glaubt, dass die weniger brillanten Farben des Weibchens in allen oder fast allen Fällen zum Zwecke des Schutzes specicll erlangt worden sind. Mir scheint es im Gegentheil wahrscheinlicher, dass in der grossen Majorität der Fälle nur die Männchen ihre glänzenden Färbungen durch geschlechtliche Zuchtwahl erlangt haben, während die Weibchen mir wenig modificirt worden sind. In Folge dessen müssten die Weibchen verschiedener aber verwandter Species einander viel mehr ähnlich sein als die Männchen der nämlichen Species, und dies ist die allgemeine Regel. Es zeigen uns daher die Weibchen annähernd die ursprüngliche Färbung der elterlichen Species der Gruppe, zu welcher sie gehören. Indessen sind sie beinahe immer in einer gewissen Ausdehnung durch einige der

'i0 II. W. Bates, Tbc Katuralist on tlic Amazons. Vol. II. 1863, p. 228. A. R. Wallace,in: Transact. Linnean Soc. Vol. XXV. 1865, p. 10.

21 lieber diesen ganzen Gegenstand s. Ueber das Yariircn der Thiere und Pflanzen im Zustande der Domestication. Bd. 2. 1868. Cap. 23.