RECORD: Zacharias, Otto. 1882. Charles Darwin. Vom Fels zum Meer. Spemann's illustrirte Zeitschrift für das deutsche Haus 2: 348-53.

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Charles Darwin †.

Eben als der letzte Bogen dieses Heftes in die Maschine sollte, um gedruckt zu werden, erhielten wir auf telegraphischem Wege die schmerzliche Kunde von dem Ableben Charles Darwins, des grossen Naturforschers, der der Menschheit neue, ungeahnte Blicke in die Tiefen der Natur erschloss. Einer der genialsten Forscher nicht nur unserer, sondern aller Zeiten hat mit ihm die Augen geschlossen für immer, und sein Name wird leben dauernd und ewig. Es ist heute nicht möglich, an dieser Stelle eingehender Darwins Wirksamkeit zu gedenken, es muss dem nächsten Hefte vorbehalten bleiben, sein geistiges Porträt zu entwerfen. Dagegen können mir schon heute unseren Lesern eines der besten und wohl das letzte Bildnis des berühmten Gelehrten mit seiner Unterschrift vorführen, das er selbft als the newest and the best vor nunmehr einem Jahre bezeichnete. Wir verdanken dasselbe unserem geschätzten Mitarbeiter Dr. Otto Zacharias, der uns auch einen Artikel über den Dahingeschiedenen zugesagt hat. In einem Brief, den Darwin an Zacharias richtete und den dieser in der, "Gegenwart" veröffentlichte, erzählt D., wie ihm die ersten Anregungen über den späteren Grundgedanken seiner Theorie über die Veränderlichkeiten der Arten kamen: "Als ich an Bord des "Beagle" war, glaubte ich noch an die Permanenz der Arten, aber soviel ich mich erinnern kann, gingen mir schon damals gelegentliche Zweifel durch den Kopf. Nach meiner Rüchkehr in die Heimat (im Herbste 1836) bereitete ich sogleich mein Tagebuch für die Herausgabe vor, und dabei gewahrte ich, wie viele Thatsachen auf den gemeinsamen Ursprung der Arten hinwiefen. Zufolge deffen legte ich mir im Juli 1837 ein Notizenbuch an, in welches ich Alles, was sich auf diese Frage bezog, eintrug. Aber ich denke doch, dass es noch zwei bis drei Jahre gedauert hat, ehe ich mich vollstänbig davon überzeugte,dass die Arten veränderlich seien."

Der gestirnte Himmel im Monat Juni.

In d. M. steht gegen 10 Uhr abends das Sternbild der Krone am Südhimmel nahe dem Scheitelpunkte. Zieht man von seinem hellsten Stern Gemma in Gedanken eine Linie südwärts, so trifft dieselbe auf einen hellen Stern, der zum Bilde der Schlange gehört. Tief am Südhimmel glänzt Antares. Nordöftlich davon steht das Sternbild des Ophiuchus und noch mehr gegen Osten stehen Adler, Leier und Schwan den Glanz der Milchstrasse eine besondere Pracht erhält. Am Nordhimmel kommt die Kassiopeia wieder höher herauf, während sich im Nordweften der grosse Bär senkt und das Sternbild des Löwen im Untergehen begriffen ist.

1) Geboren am 12. Februar 1809 zu Shrewsbury, studirte Darwin seit 1825 in Edinburgh, seit 1828 in Cambridge und erlangte hier 1831 den akademischen Grad. In demselben Jahre beteiligte er sich als Naturforscher an der Wettumsegelung des Schiffes "Beagle" und liess, zurückgekehrt, 1836 fein bekanntes Tagebuch "Voyage of a naturalist round the world" erscheinen. Von seinen Schriften ist die berühmteste "On the origin of species by means of natural selection".

Verantwortl. Herausgeber: W. Spemann in Stuttgart. Redakteur: Joseph Kürschner ebenda. Nachbruck, auch im Einzelnem, wird strafrechtlich verfolgt. — Uebersetzungsrecht vorbehalten. Druck von Gebrüder Kröner in Stuttgart

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Charles Darwin.

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Der berühmte Forschher, von dem die Entwickelungsgeschtliche Richtung in der heutigen Naturwissenschaft ihren Ursprung und ihre umfassende Begründung ableitet, ist am 19. April d. J. auf seinem Landgute in Down (in der Graffschaft Kent) gestorben. Er ist reichlich 72 jahr alt geworden. Nicht bloss England, sondern die ganze kultivierte Welt betrauert den Hingang dieses Grossen im Reiche des Geistes, dessen durchdringender Blick den geheimnisvollen Zusammenhang erkannte, der zwischen den Lebensformen der Urzeit und den noch heute aus unserem Planeten vorhandenen Organismen besteht. Der Name Darwins ist in jener hochwichtigen Theorie verewigt, die unserem und noch manchem der kommenden Geschlechter als Leitstern auf dem Gebiete der biologischen Forschung dienen wird. England hat seinem berühmten Sohne die grösste Ehre zu teil werden lassen, die es überhaupt zu erweisen im Stande ist: Darwin, der auf dem stillen Friedhofe zu Down beerdigt sein wollte, ist in der Westminster-Abtei beigesetzt morden und sein Grab befindet sich neben den Rubestätten Newtons und Herschels.

Mit inniger, wehmütiger Teilnahme empfindet auch die deutsche Forscherwelt die Grösse des Verlustes, den England in seinem hochherzigen und tiefdenkenden Charles Darwin erlitten hat, und beide Nationen find einig darüber: dass eine Leuchte des Jahrhunderts, eine Zierde der Gelehrtenwelt, ein edler, feinfühlender Mensch auf ewig dahingegangen ist. Ruhm und Ehre seinem Andenken! —

Charles Darwin wurde am 12. Februar 1809 in dem Städtchen Shrewsbury geboren. Sein Vater, Dr. Waring Darwin, war ein geachteter Arzt, und sein Grossvater, Dr. Erasmus Darwin, ein berühmter Physiologe und Dichter. Der Verstorbene entstammte somit einer Gelehrtenfamilie und die Annahme dass ihm der Drang zum Forscher angeboren war, ist gewiss die allernatürlichtste, die man machen kann. Dennoch war Charles Darwin in seiner Jugend kein sogenanntes "Wunderkind". Wie er selbst gelegentlich erzählte, gehörte das regelrechte Lernen und Studieren nicht zu den Passionen seines Kindesalters. Er war ein kräftiger, stubenscheuer Knabe, der das Herumstreifen in Wald und Feld mehr liebte als das Stillesitzen im Elternhause. Das einzige, wofür er Sinn hatte, war die Botanik. Im Winter 1825 bezog er die Universität Edinburgh und zwei Jahre später kam er auf das Christ College zu Cambridge, wo er im Jahre 1831 den Grad eines Bachelor of Arts erwarb, eine akademische Würde, die ungefähr der unseres philosophiae doctor entspricht.

Im Herbst desselben Jahres trat ein entscheidender Wendepunkt in Darwins Leben ein. Kapitän Fitzroy, der Kommandant des englischen Kriegsschiffes "Beagle", erbot sich nämlich einem Naturforscher, welcher an der mit dem genannten Schiffe auszuführenden Vermessungsexpedition teilnehmen wolle, seine Kabine zur Jälfte zur Verfügung zu stellen und ihm freie Fahrt und Verflegung zu gewähren. Der damals 22 jährige Charles Darwin meldete sich zur Mitreise und stellte nur die Bedingung, frei über die von ihm zu machenden Funde und Sammlungen verfügen zu dürfen. Diese Bedingung wurde ihm zugestanden und so verliess der junge Naturforscher seine englische Heimat am 27. Dezember 1831 auf fünf Jahre. Er besuchte in dieser Zeit die Inseln des grünen Vorgebirges, den Südamerikanischen Kontinent in allen seinen Teilen, die Falklandsinseln, den Chiloe und Galapagos Archipel, Otahaiti, Australien, Van Diemensland, Mauritius, St. Helena und die Azoren. Er machte überall umfassende Beobachtungen, entdeckte viele neue Thatsachen und brachte eine reiche Sammiung mit nach Hause. Am 22.October 1836 setzte er zu Falmouth seinen Fuss wieder auf englischen Boden und seitdem hat er die Heimat nicht mehr verlassen. Die ersten drei Jahre nach seiner Rückkehr lebte er zu London. Hier ordnete er seine reichen Sammlungen, redigierte die aus der Reise geführten Tagebücher und war zugleich eifriges Mitglied der geologischen Gesellschaft, die ihn zu ihrem Ehrenschriftführer erwählt hatte. Er bekam aber, wie es scheint, das Junggesellenleben in dieser Zeit überdrüssig; denn bald nach dieser Londoner Thätigleit begab er sich nach Maer Hall in das Haus seines Onkels Wedgewood und vermählte sich noch im Jahre 1839 mit seiner Kousine E. Wedgewood. Aus dieser Ehe stammen fünf Söhne und zwei Töchter, die sämtlich am Leben find. Auch Darwins Gattin, eine stattliche und gebildete Dame in den sechziger Jahren, lebt noch, und bildet jetzt, nach bem Dahinscheiden ihres berühmten Gatten,

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den Mittelpunkt ber behaglich-stillen Häuslichkeit zu Down-House. Jahre werden freilich erst vergehen müssen, ehe sich der herbe Schmerz um den Verlust des teuren Gatten, des liebevollen Vaters, des bewährten Wohlthäters und Menschenfreundes Charles Darwin sindern kann. Nicht bloss in der Wissenschaft, sondern auch in seiner Familie hat der Verstorbene eine Lücke hinterlassen, die niemand auszufüllen vermag. Eine unsägliche Leere, das Gefühl der Oede und Vereinsamung — eine solche, nicht näher beschreibbare Empfindung ist es, welche die Angehörigen und die Freunde Darwins beschleicht, wenn sie sich wieder und immer wieder sagen müssen: Er ist tot, er kehrt nie in den Kreis derer, die ihn verehrten und liebten, zurück.

Seit 1842 hat Darwin in Down, einem Dorfe von etwa 500 Einwohnern (nahe der Eisenbahnstation Beckenham), in fast völliger Zurückgezogenheit gelebt. Hier machte er seine ausgedehnten Züchtungsversuche an Tieren und Pflanzen, seine Beobachtungen über Fortpflanzung, Veränderlichfeit und Lebensweise der verschiedensten Organismen, um auf diese Weise Material für die Begründung der Selektionstheorie und des Prinzips "vom Ueberleben des Passendsten" zu erhalten. Vorzugsweise benutzte Darwin Tauben und Kaninchen zu seinen Züchtungsversuchen. Letztere hielt er in einem hinter seinem Landhause gelegenen Park, der eine grosse Ausdehnung und waldähnliche Beschaffenheit besitzt. In den Gängen dieses Parkes machte er auch allmorgendlich seine Spaziergänge und hing seinen Gedanken nach, bevor er an die Arbeit ging.

Zwanzig Jahre lang forschte und züchtete Darwin in der Stille seines Landaufenthalts, bevor er ein Wort von der neuen Theorie, die nach seinem Namen benannt ist, veröffentlichte. Am 1. Juli 1858 machte er in der Linnéan Society zu London die erste Mitteilung davon, und im darauffolgenden Jahre (1859) erschien das epochemachende, umfangreiche Werk "On the origin of species", in welchem das Problem der Arten Entstehung mit einem Scharfsinn, einer Erfahrung und einer Bescheidenheit ohnegleichen diskutiert, und seiner Lösung nahe gebracht wurde. Dieses Buch, welches in England allein sieben grosse Auflagen erlebt hat, ist noch heute als das Hauptwerk Darwins zu bezeichnen, wiewohl er nach demselben noch zahlreiche andere, hochinteressante Schriften verfasst und herausgegeben hat. Erst im vergangenen Jahre noch erschien aus der Feder des greisen Forschers eine Monographie über die Rolle, welche die Thätigfeit der Regenwürmer bei der Bildung der sog. Dammerde (mould) spielt. Die auf denselben Gegenstand bezüglichen Arbeiten des deutschen Zoologen, Prof. Hensen (Kiel), werden durch Darwins umfassende Beobachtungen bestätigt und vielfach ergänzt. Ganz besonders ist es ein Verdienft des Verstorbenen, gezeigt zu haben, dass die Regenwürner eine sehr wichtige Thätigfeit in der Vorbereitung des felsigen und sandigen Erdbodens zur Ausnahme einer Pflanzenwelt entfaltet haben. Die von Darwin angestellten Berechnungen haben ergeben, dass viele tausend Tonnen Erde alljährlich von den Regenwürnern aus den unteren Erdschichten herauf an das Licht und die Luft befördert werden. Die Nützlichkeit dieser Tiere ist damit auf das unzweifelhafteste dargethan.

Was nun das Problem der Arten-Entstehung betrifft, welches Darwin in seinem Hauptwerke behandelt, so ist dasselbe schon im Jahre 1809 von dem französischen Zoologen Lamarck (in dessen Philosophie zoologique) eingehend erörtert, aber nicht der richtigen Lösung entgegengeführt worden. Lamarck schrieb dem Gebrauch und Nichtgebrauch einzelner Organe und dem Einfluss der Lebensbedingungen einen zu grossen und direkten Einfluss auf die Organisation zu. Anderseits war er aber nicht im stande zu zeigen, durch welche Kräfte und Ursachen die Arten sich mit Notwendigkeit verändern müssen, wenn sich die Lebensbedingungen modifizieren. Infolge dieser unleugbaren Mängel wurde Lamarcks Schrift fast gänzlich ignoriert und beinahe ein halbes Jahrhundert lang totgeschwiegen. Es ist nun das grosse Verdienst Charles Darwins gemesen, gerade die Lücke, die Lamarck gelassen hatte, ausgefüllt und die Kräfte namhaft gemacht zu haben, durch welche die Entwickelung neuer Lebensformen mit zwingender Notwendigteit erfolgen muss. Durch diese wissenschaftliche That hat er die Deszendenzhypothese, d. h. die Annahme, dass die gegenwärtigen Tier und Pflanzenarten von den in früheren Erdgründen lebenden organischen Formen abstammen, zur höchsten Wahrscheinlichkeit gebracht und diese Hypothese somit zum Range einer wirklichen Theorie erhoben.

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Dass dieser Umstand in den meisten populären Darstellungen der Darwinschen Lehre viel zu wenig betont wird, ist ein unleugbarer Mangel. Denn gerade in diesem vielfach ausser acht gelassenem Punkte liegt die grosse kulturgeschichtliche Bedeutung des Darwinismus. Erst mit Nachweisung der zu Abänderung treibenden Ursache wurde die Deszendenztheorie eine Macht, welche auf die Geister wirkte und ihren Einfluss in den weitesten Kreisen (inner und ausserhalb der Wissenschaft) geltend machte.

Darwin brachte zur unwiderleglichen Evidenz, dass die grosse und rasche Vermehrung aller Geschöpfe dazu führen müsse: jeden Platz im Haushalt der Natur zu besetzen. Er zeigte, wie diese allgemeine Uebervölkerung die Ursache eines permanenten und harten "Kampfes ums Dasein" werden müsse, in welchem nur der Stärkere überlebe, der Schwache jedoch untergehe und erliege; mit genialem Blick erkannte er, dass — weil nur der Sieger seine Art fortpflanze — die miteinander um die Existenz ringenden Geschöpfe sich mit Notwendigkeit verändern, resp. höher entwickeln müssen, bis sie Formen und Eigenschaften angenommen haben, die mit den Erfordernissen, welche die Aussenwelt und die Beziehungen zu andern Organismen an sie stellen, in Einklang stehen. Es findet also gleichsam eine Auslese derjenigen Individuen einer Art statt, welche den neuen Existenzbedingungen besser angepasst sind, als die ursprüngliche Stammform. Aus diesem Grunde bezeichnet man die Darwinische Theorie von der Arten-Entstehung auch mit dem Namen "Selektionstheorie". Aber diese Auslese ist keine bewusste und mit Absicht ins Werk gesetzte — wie etwa ein Gärtner oder ein Tierzüchter die tauglichen Individuen von den weniger brauchbaren sondert, sondern eine unbewusste, aber nichtsdestoweniger sehr wirksame Selektion. So vermag eine Frostnacht die schwachen Pflanzen aus einer Baumschule ebenso unfehlbar auszulesen, als ob der intelligenteste Gärtner die einzelnen Exemplare geprüft und weggeschnitten hätte. Der Darwinismus kann somit als eine Uebertragung der Malthusischen Lehre von der Uebervölkerung (und den repressiven Tendenzen) auf die Zoologie und Biologie angesehen werden. Mr. Darwin hat sich wieberholt selbst in diesem Sinne ausgesprochen. Nur darum, weil im Tier- und Pflanzenreiche eine beständige Uebervölkerung, ein unaufhörliches Drängen gegen die Grenze der Unterhaltsmittel stattfindet, kommt es zu einem Kampfe ums Dasein, in welchem die zarteren Organismen unterliegen und die stärkeren (ober den neuen Lebensbedingungen besser angepassten) das Feld behaupten. Ohne den Existenzkampf würde keine Nötigung zum Fortschritt in der Organisation vorhanden sein, und somit die Triebfeder fehlen, welche den Prozess der Artenbildung einleitet, reguliert und zum Abschluss bringt. Diese Triebfeder aufgefunden, ihre Wirksamkeit durch Hunderte von Beispielen klargestellt zu haben: das ist — wie bereits betont — die grosse Geistesthat des dahingeschiebenen Forschers.

In Summa ist das Ergebnis von Darwins Untersuchungen folgendes: Alle existierenden Organismenarten sind die Nachkommen von vorher existierenden Arten, und diese stammen wieder von solchen ab, welche aus noch früheren (vermöge des Vehikels der Varietäten und Rassenbildung) kontinuierlich hervorgingen. Es gibt keine Sprengung, keine Unterbrechung des durch Zeugung und Fortpflanzung bedingten Zusammenhanges in den aufsteigenden Generationen der Lebewesen und alle die mannigfaltigen Tier- und Pflanzenarten, die wir vor uns sehen, oder deren Ueberreste wir in den übereinander gelagerten Erdschichten vorfinden, sind als auf natürlichem Wege, nicht durch einen Schöpfungstat, entstanden zu denken. Ob freilich alle Organismen von einer einzigen Stammform herzuleiten sind, oder ob eine Mehrheit von Urkeimen anzunehmen ist: das ist eine noch offene Frage, welche erst durch die fortschreitende Wissenschaft wird beantwortet werden können. Wie diese Frage nun aber auch künftig gelöst werden wird, soviel ist schon heute sicher: dass wir nicht im stande sein werden, jemals zu begreifen, wie die erste empfindende Faser entstand und wo die Willenskraft, der mir allen Fortschritt in dieser Welt verdanken, ihren ersten Ursprung nahm. Hier tritt das Ignorabimus in aeternum in Kraft, weil diese Fragen nicht bloss unsere gegenwärtige Kraft, sondern überhaupt die unsere Geiste von der Natur gezogenen Grenzen übersteigen. Der Darwinismus ist demnach mit jeder positiven Religion verträglich; er widerspricht dem Glauben, dass der Schöpfer den Keim des

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Lebens am Anfange der Dinge durch sein allmächtiges "Werde" erschuf, in seiner Weise. Bigotterie und Pietismus haben somit ganz umsonst ein Geschrei darüber erhoben, dass die Darwinsche Lehre dem christlichen Glauben gefährlich werden müsse. Dies ist um so weniger der Fall, als die Theorie der allmählichen Entwickelung der Lebensformen vielmehr dazu anleitet, die unbegreiflich grosse Güte und Weisheit einer so oder so zu denkenden Weltenregierung demutsvoll zu bewundern.

Vergessen dürfen wir aber bei dieser religiösen Bewunderung nicht, dass die Bezeichnungen "gütig" und "weise", die wir der höchsten Ursache beilegen, nur bildliche Ausdrücke sind, die lediglich unser subjektives Empfinden wiedergehen, aber nichts über die wahre Natur der Ursache aussagen, durch welche solche Empfindungen in uns erregt werden. Dass aber eine solche Ursache existiert, steht ausser allem Zweifel. Höchstwahrscheinlich ist dieselbe aber ebenso hoch über Intelligenz und Willen erhaben, als letztere über mechanischer Bewegung. Wir können darum keinen adäquaten Ausdruck finden, um ihre Eigenschaften zu bezeichnen. Wer diese Sachlage richtig begreift, wird sich nie in theologische Streitigkeiten einlassen. Es ist nicht überflüssig, diesen Punkt gerade in einer Lebensskizze Darwins zu betonen, denn der Verstorbene war ein Feind aller Polemik.

Die zahlreichen und inhaltsvollen Werke Darwins an dieser Stelle namhaft zu machen und durchzugehen, liegt uns in dieser Würdigung der allgemeinen wissenschaftichen Thätigkeit des grossen Forschers fern. Hier kommt es uns hauptsächlich darauf an, die menschlich tüchtige und liebenswürdige Persönlichkeit des Dahingeschiedenen zu illustrieren.

Darwin war körperlich gross und stark. Aber ein Magenübel plagte ihn schon seit 1840. Er hatte sich dasselbe auf seinen grossen Reisen zugezogen, und später gefellte sich noch ein Herzleiden dazu. Mit den Jahren wurde der Gesundheitszustand des alten, sonst so rüstigen Herrn immer schlechter und schliesslich konnte er nur noch in der Nähe seines Hauses spazieren gehen. Weitere Gänge waren ihm zu erschöpfend. Seine Kräfte nahmen zusehends ab.

Während seines ganzen Lebens war Darwin die Freundlichkeit und Güte selbest. Nichts lag ihm ferner als irgendwelches Strebertum. Sein Gesicht hatte stets einen weichen und milden Ausdruck, sein Wort war stets wohlwollend und ausmunternd, seine Kritik niemals verletzend. Kinder hatte er über alle Massen gern und wenn er über Land spazieren ging, unterhielt er sich gern mit den munteren Dorfknaben, die ihm begegnete. Und diese erwiderten seine Liebe aufrichtig, indem sie ihn schon von weitem grüssten und zuwinkten, wenn sie ihn kommen sahen: Es ist erquickend, einen grossen Mann zu sehen, der ein so rührend gutes Herz und so liebenswürdige Manieren besisst. Darwin plauderte gern im Freundes- und Familienkreise, fand auch Vergnügen am Lesen von Romanen und liebte vor allem die Musik. In seinem Hause wurde viel Klavier gespielt und gesungen. So floss sein Leben hell und klar dahin wie ein Bach zur Sommerszeit. Es war das Leben eines Weisen, der fern vom Tageslärm der Erkenntnis des höchsten Geheimnisses, der Frage nach der Entstehung der Lebensformen, seine ganze geistige Kraft widmete. In den Armen seines treuen Sohnes Francis, der in den letzten Jahren sein Sekretär und Forschungsgenosse war, hauchte dieser edle Greis sein reiches Leben am 19. April d. J., Nachmittags ½ 4 Uhr aus. Die Wissenschaft wird den Tag und die Stunde dieses Hinscheidens niemals vergessen. Requiscat in pace! 1)

Otto Zacharias.

1) Wir reprobuzieren auf der ersten Seite dieses Heftes die erste Seite eines Originalbriefes von Darwin, der uns von Herrn Dr. Otto Zacharias freundlichst zur Verfügung gestellt worden ist. Der Inhalt des Schreibens bezieht sich auf eine osteologische Abnormität, welche Adressat an einem Schweinsfusse wahrnahm. Der vollständige Brief lautet:

"My dear Sir! I am sorry to say that I have not osteological knowledge enough for my opinion to be of any value with respect to the anomalous foot of the pig, which you have been so good as to send me. — I do not know whether it has arrived at Down, for I am at present away from home; but when it arrives I will send it to Prof. Flower at the Royal College of Surgeons, who has made a special study of the limbs of the Ungulate and who is a most careful and (die zwei folgenden Worte kann ich nicht entziffern; möglicherweisse: advised knower = bedachtsamer Kenner. Z.). I have asked him to send me a note, if the foot presents any remarkable pecularity, and (unklar) I receive any such note, I will forward it to you. I remain, Dear Sir, Your faithfully Charles Darwin."


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Citation: John van Wyhe, ed. 2002-. The Complete Work of Charles Darwin Online. (http://darwin-online.org.uk/)

File last updated 21 October, 2022