RECORD: G. M. 1880. [Review of Power of movement]. Darwin über Pflanzenbewegung. Wiener Allgemeine Zeitung (5 December): 7.

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Wissenschaft, Kunst und Literatur.

Darwin über Pflanzenbewegung.

("The power of movements in plants" von Charles Darwin. London, 1880. Verlag von John Murray.)

Um den Namen des greisen Gelehrten, der seit Jahren auf seinem Gute Down, entfernt von dem hastigen Treiben der Weltstadt, den Studien obliegt und je zuweilen durch ein Buch, welches die Resultate langjähriger Forschung enthält, die wissenschaftliche Welt erfreut und in Bewegung setzt, hat sich ein ganzer Legendenkreis gebildet. Verlästert von den Einen, vergöttert von den Anderen, ist Charles Darwin als der leibhaftige Gottseibeiuns vervehmt, als dcrStifter einer neuen Religion gepriesen worden. Und doch ist ihm, dem ruhigen Denker, welcher die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, doch die ganze Wahrheit, zu erforschen strebt, nichts ferner gelegen, als etwa die religiösen Anschauungen seiner Mitbürger irgendwie beeinflussen zu wollen. Unbekümmert um derartige Folgen, hat er, als er das groß artige Gesetz der Wandelbarkeit der Arten erkannt und den bestimmenden Einfluß von Vererbung und Anpassung im Verhältniß zu einander begriffen hatte, die Descendenz-Theorie, welche vor ihm schon einzelne Naturforscher behauptet, durch das von ihm zuerst gefundene Gesetz der Selection wissenschaft lich begründet. Dem großen Publicum bedeutet der Name Darwin eine ganze Weltanschauung. Mit Recht. Denn durch ihn wurde zum erstenmal, was haltlose Träumerei eines Naturphilosophen wie Oncken, poetische Empfindung eines Dichters wie Goethe, geistreiche Speculation eines vereinzelt stehenden Naturforschers wie Lamarck gewesen, ein wissenschaftlich begründetes System, welches in seinem mit unerhörter Schnelligkeit zurückgelegten Siegeslauf fast alle ernsten Vertreter der Naturkunde gefangen nahm.

Das letzte Werk des nunmehr 71 jährigen Gelehrten, dessen Laufbahn als Naturforscher schon vor fünfzig Jahren mit der Weltreise des Beagle" begonnen hatte, behandelt die Bewegungsformen der Pflanzenwelt, die physiologische Thätigkeit derselben. Nebst den viel jährigen eigenen legt er die Beobachtungen hervorragender deutscher und österreichischer Gelehrter: Sachs, Fries, Wiesner, Pfeffer, Bine, Hofmeister, Frank, Richter, Brücke und Anderer mehr seinem Werke zu Grunde. Von der Thatsache ausgehend, daß die Pflanzentheile in beständiger Bewegung sich befinden, untersucht Darwin die Art, die Ursachen und den Zweck der letzteren. Er findet zuvörderst, daß die Rückschwankung", wie sie bisher con- statirt wurde, nicht die eigentliche Bewegungsform der Pflanzentheile sei, und gelangt durch fortgesetzte Beobachtungen, welche er durch viele hundert Beispiele und Zeichnungen erhärtet, zu den: Schluffe, daß die Bewegung eine unregel mäßig elliptische, fast ovale sei, und genügt der Hinweis auf das auch dem ungeübten Auge auffällige Wachsthum der Kletterpflanzen, seine Behauptung zu demonstriren.

Der Stamm, der sich nach Norden neigte, wendet sich allmälig ostwärts, bis er wirklich nach Osten gerichtet er scheint, von da aber nach Süden, dann nach Westen, schließlich nach Norden zurück. Geschähe dies ganz regelmäßig, so müßte die Bewegung eine runde, kreisförmige sein, oder vielmehr, da die Pflanze im Wachsthum begriffen ist, eine kreis förmige Spirale. Allein oftmals legt die Spitze ihren Weg im Zickzack zurück, in Dreiecken und Verschlingungen.

Darwin nennt diese Bewegung "ciroumnutation", wofür die Wissenschaft wohl bald den entsprechenden deutschen Ausdruck fixiren wird. Me wörtlichste Uebersetzung, Dreh wendung", ist wohl nicht im Stande, seinen Gedanken ganz klar wiederzugeben. Lange Zeit wurden diese Wachsthums-Krümmungen mehrzelliger Organe Klos durch das raschere Wachöthum der jeweilig convcxseitigen Zellen erklärt, allein dieses ist die Folge einer vorhergehenden Anschwellung der Zelten, welche zugleich den Grund der Circumnutation bildet, während die Ursache der Anschwellung selbst unerklärt geblieben ist. Alle im Wachsen begriffenen Theile der Pflanze sind in solcher kreisenden Bewegung, auch der treibende Same, schon ehe er an die Oberfläche gelangt, und der tief begrabene Wurzelkeim, der nach abwärts strebt, sowie die schlafsuchenden Blättchen, welche Nachts eine verticale Richtung annehmen, um ihre Ober fläche vor dem Erfrieren zu schützen. Die Bewegung der

Pflanzentheile gegen und zu dem Sonnenlichte find modificirte Circumnutatiouen, nicht minder das Streben des Gipfels zum Zenith, der Wurzel zum Erdinnern.

Die Abweichungen in der Bewegung sind Resultate innerer oder äußerer Reizmittel: Druck, Feuchtigkeit, Sonnenlicht, Gravitation, die auf einzelne Theile der Pflanze cinzuwirken vermögen, während andere diesem Einflüsse gegenüber unempfindlich verharren.

Die Wurzelzaser strebt abwärts; sie verfolgt diese Richtung in einer Spirale. Sie dnrchdringt den Grund, sei er weich oder zcrrciblich, die Circumnutation ermöglicht ihr Vordringen. Die feinen Härchen, welche die Zaser ans- scndct, klammern sich fest, wo sie Halt finden können, selbst an glatten Steinen, ja selbst an Glas, wie Experimente lehren; die Wurzel gewinnt dadurch an Kraft, die Zaser schraubt sich weiter und steigert ihre Gewalt derart, daß die Wurzeln einer Bohne das Gewicht mehrerer Kilo zu heben vermögen, folgen aber mit Vorliebe Spalten und Erdrisien und den von Larven getriebenen Hohlwegen. Die treibenden jungen Pflänzchen, welche an die Oberfläche gelangen, um den harten Kampf ums Dasein auszukämpsen, sind höchst empfindlich für Licht, Feuchtigkeit und Druck. Die Circumnutation gestattet ihnen, diesen entweder auszuweichen oder nachzugehen. Sie treiben Stamm, Blätter, Zweige; alle diese Theile circumnutiren beständig. Die Bewegung kann durch innere oder äußere Einflüsse modificirt werden. Alternde Blätter, die, in erster Jugendkraft ausgebreitet, in vcrticnler Richtung standen, neigen sich abwärts, Blumenstiele richten sich auf, wenn die Blüthe welkt, oder sinken nieder u. s. w. Dagegen ist der Schlaf oder die nyktitropischc Bewegung der Blätter durch den Wechsel von Hell und Dunkel bedingt. Manche SpecieS zeigt die Eigenthümlichkeit, daß wenn ihr tagsüber nicht genügend Licht geworden, sie gleichsam nicht ermüdet scheint und Nachts nicht schläft. Experimente haben aber bewiesen, daß z. B. Akazien künstlich einzuschläfern und zu wecken sind; Darwin hat eine Porliera blos dadurch, daß er sie vollkommen trocken hielt, auch über Tags schlafend erhalten. Der Heliotropismus ill lange schon beobachtet worden. Wenn das Licht trübe unV von einer Seite nur um Weniges stärker als von der an deren einfällt, sind die Bewegungen unsicher und schwankend elliptisch; steigt die Intensität des Lichtes, so findet sie im Zickzack statt; fällt das Licht ganz von einer Seite ein, wird sie geradlinig.

Die verschiedenen Pflanzentheile werden höchst ungleichafficirt. Bei der Wurzelzaser ist die Empfindlichkeit häufig in der Saugwarze concentrirt. Das Leben der Pflanze erreicht in derselben die höchste Steigerung, der Einfluß äußerer Umstände, störender oder fördernder Art, wird dort von ihr am lebhaftesten empfunden und reagirt durch den ganzen Organismus: Es ist kaum eine Uebertreibung, es so zu formuliren: die Saugwarze der Wurzelzaser mit der Fähigkeit, welche ihr innewohnt, die Bewegung Veränderen Theile zu leiten, hat die gleiche Function, wie das Gehirn der niederen Thiere; das Gehirn (der Pflanze) hat eben seinen Sitz am unteren Ende des Organismus, erhält Eindrücke durch Sinneswerkzeuge und beherrscht deren Bewegung." 6i. N.


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Citation: John van Wyhe, ed. 2002-. The Complete Work of Charles Darwin Online. (http://darwin-online.org.uk/)

File last updated 25 September, 2022