RECORD: Darwin, C. R. 1882. [Letters to Julius Wiesner, 1881]. Charles Darwin. Neue Freie Presse, Morgenblatt [Vienna] (22 April): 5.

REVISION HISTORY: Transcribed and edited by John van Wyhe 12.2019. RN2

NOTE: See record in the Freeman Bibliographical Database, enter its Identifier here. Darwin comments on Wiesner's Das Bewegungsvermögen der Pflanzen (1881) which was somewhat critical of Darwin's work. See Correspondence vol. 29.


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Charles Darwin.

Von zwei in Wien lebenden Gelehrten, die durch ihre wissenschaftlichen Studien theils in schriftlichen, theils auch in persönlichen Verkehr mit Darwin traten, sind uns Briefe des soeben verstorbenen großen Forschers mitgetheilt worden. Darwin hat diese Briefe an jene Wiener Gelehrten als Beantwortung ihrer ihm zugesendeten Arbeiten geschrieben. Wir veröffentlichen diese Briefe als Beiträge zur Charakteristik Darwin's, da aus denselben hervorgeht, welche bereitwillige Anerkennung er den Forschungen anderer Gelehrter entgegenbrachte und mit welcher Achtung vor fremder Ueberzeugung er auch solche Theorien aufnahm, welche seinen Hypothesen widersprachen

 Dr. Julius Wiesner, der bekanntlich Professor der Anatomie und Physiologie der Pflanzen und Vorstand des pflanzenphysiologischen Instituts an der Universität in Wien ist, hatte nach dem Erscheinen des Darwinschen Werkes über das Beivegungsvermögen der Pflanzen (The movement of plants. London, 1880) eine kritische Studie über jenes Buch, gestützt auf seine eigenen Untersuchungen und Experimente, veröffentlicht und dasselbe dem greisen englischen Naturforscher, dessen Theorien er theilweise bestritt, zugesendet. Diese wissenschastfiche Polemik zwischen Darwin und Professor Wiesner ist seinerzeit im Fachblatt der "Neuen Freien Presse" über Natur- und Völkerkunde ausführlich behandelt worden. Nachstehend lassen wir aus den Briefen, die Darwin damals an Professor Wiesner richtete, jene Stellen folgen, welche für Darwin's wissenschaftliches Rechtsgefühl, für seine Bereitwilligkeit, jeden ihm nachgewiesenen Irrthum einzugestehen, und für die Liebenswürdigkeit seines Charakters bezeichnend sind. Der erste Brief, den Darwin vor etwas mehr als einem halben Jahre noch mit eigener Hand, von seinem Landsitze aus, an Dr. Wiesner als Antwort aus die Zusendung der erwähnten Arbeit schrieb, lautet:

 Down, Beckenham, Kent, October 4. 1881.

 Mein werther Herr! Ich danke Ihnen aufrichtig für Ihr sehr freundliches Schreiben und für das Geschenk Ihres neuen Werkes. Mein Sohn Francis hätte, wenn er zu Hause gewesen wäre, gleichfalls seinen Dank gesendet. Ich werde unverzüglich beginnen, Ihr Buch zu lesen, und sobald ich damit fertig bin, werde ich wieder schreiben. Aber ich lese Deutsch so langsam, daß Ihr Buch mich eine beträchtlich lange Zeit in Anspruch nehmen wird, denn ich kann nicht länger als eine halbe Stunde täglich lesen. Ich habe auch in der letzten Zeit zu stark gearbeitet, aber mit sehr geringem Erfolge, so daß ich im Begriffe bin, für einige Zeit mein Heim zu verlassen und zu versuchen, die Wissenschaft zu vergessen. Ick bin ganz darauf gefaßt, daß Sie in meinem Werke einige grobe Irrtümer gefunden haben werden, denn Sie sind ein viel geschickterer und gründlicherer Experimentist als ich. Obwohl ich stets bemüht bin, vorsichtig zu sein und mir selbst zu mißtrauen, weiß ich doch wohl, wie leicht ich Schnitzer mache. Physiologie, sowol die animalische wie die vegetabilische, ist ein so schwieriger Gegenstand, daß es mir scheint, sie schreite hauptsächlich durch die Ausscheidung und Richtigstellung der stets unterlaufenden Irrthümer vor. Ich hoffe, daß Sie meinen Fundamentalsatz, daß verschiedene Arten der Bewegung sich aus der Abänderung einer allgemein gegenwärtigen Anhäufungsbewegnng ergeben, nicht umgestürzt haben. Ich bin sehr erfreut, daß Sie wieder die Ansicht von der Anschwellung der Zellen in Folge der Bewegung der Theile erörtern werden. Ich nahm De Vines' Meinungen an, da sie mir als die wahrscheinlichsten erschienen, aber zuletzt hegte ich doch inehrere Zweifel über dieses Capitel. Indem ich Ihnen nochmals herzlich für Ihr freundliches Schreiben danke, verbleibe ich, mein werther Herr, hochachtungsvoll Ihr sehr ergebener

Charles Darwin.

Drei Wochen später, nachdem Darwin Dr. Wiesner's Werk gelesen hatte, richtete er an denselben ein längeres Schreiben, das er seinem Secretär dictirt hatte. Dieses Schreiben begann mit folgender Einleitung:

 Down, Beckenham, Kent, October 25. 1881.

 Mein werther Herr! Ich bin nun mit Ihrem Buche zu Ende und habe das Ganze, mit Ausnahme sehr weniger Stellen, verstanden. Lassen Sie mich in erster Reihe Ihnen herzlich für die Art und Weise danken, in der Sie mich durchwegs behandelt haben. Sie haben gezeigt, wie ein Mann in der entschiedensten Weise von der Meinung eines andern abweichen und doch seinen Meinungsunterschied mit der vollendetsten Höflichkeit ausdrücken kann. Nicht wenige englische und deutsche Naturforscher könnten eine nützliche Lehre aus Ihrem Beispiele ziehen, denn die rohe Sprache, die oft von Männern der Wisienschaft gegen einander geführt wird, thut nicht gut und erniedrigt nur die Wissenschaft. Ich bin durch Ihr Buch aufs höchste angezogen worden, und einige Ihrer Experimente sind so schön, daß ich thatsächlich ein Vergnügen empfand, während ich vivisecirt wurde. Es würde zu viel Raum erfordern, alle wichtigen Punkte in Ihrem Buche zu erörtern. Ich fürchte, daß Sie die Erklärung, die ich von den Wirkungen des Abschneidens der Spigen horizontal ausgebreiteter Wurzeln und solcher, die seitlich der Nasse ausgesetzt sind, gegeben habe, ganz umgestürzt haben; aber ich kann mich selbst nicht überreden, daß die horizontale Stellung seitlicher Zweige und Wurzeln eine einfache Folge der verminderten Kraft ihres Wachsthums sei.

 Darwin verbreitete sich nun ausführlich über diese Frage und suchte seine Hypothesen zu rechtfertigen, worauf er fortfuhr:

Schließlich wünsche ich, daß ich Kraft und Geist hätte, um eine neue Folge von Experimenten zu beginnen und die Resultate derselben mit einem vollen Widerruf meiner Irrthümer zu veröfentlichen, wenn ich von denselben überzeugt bin. Aber ich bin zu alt für solch ein Unternehmen und kann nicht voraussetzen, daß ich im Stande wäre, viel zu leisten oder etwas Originales zu arbeiten. Ich glaube aber, möglicherweise eine Quelle des Irrthums in Ihrem schönen Experimente mit einer seitlichem Lichte ausgesetzten rotirendeir Pflanze zu erblicken. Hochachtungsvoll und mit aufrichtigem Danke für die liebenswürdige Art mit der Sie mich und meine Irrthümer behandelt haben, verbleibe ich, mein werther Herr, Ihr aufrichtiger

Charles Darwin.

 Seinen Namen hatte Darwin mit eigener Hand geschrieben und dann noch in zitternder, schwer lesbarer Schrift ein Post-scriptum beigefügt, worin er sein Bedauern darüber aussprach, daß Professor Wiesner im nächsten Jahre (1882) nicht in der Lage sein werde, Vorträge über Botanik zu halten, was er als einen großen Verlust für dessen Schüler bezeichnete.

(Fortsetzung folgt.)

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Citation: John van Wyhe, ed. 2002-. The Complete Work of Charles Darwin Online. (http://darwin-online.org.uk/)

File last updated 5 October, 2022