RECORD: Darwin, C. R. 1885. [Letters to Fritz Müller, Hermann Müller, J. V. Carus and Ernst Haeckel]. In E. Krause, Charles Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland. Leipzig: E. Günther, pp. 124-233.

REVISION HISTORY: Transcribed and edited by John van Wyhe 5.2022. RN1

NOTE: See record in the Freeman Bibliographical Database, enter its Identifier here. The letters here had not been previously published in 1885. Note Krause's comments on A. R. Wallace's attempts to counter some arguments of Darwin on sexual selection, p. 145.


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"Ihr Brief vom 22. April hat mich sehr interessiert. Ich bin entzückt, dass Sie mein Buch beifällig aufnehmen, denn ich schätze Ihre Meinung mehr als diejenige von beinahe allen andern. Ich habe jedoch Hoffnungen, dass Sie über die Pangenesis günstig denken werden.Ich fühle mit Sicherheit, dass unsere Geister (minds) einigermassen ähnlich sind und ich empfinde es als eine grosse Erleichterung, irgend eine bestimmte, wenn auch hypothetische Anschauungsweise zu haben, wenn ich über die wunderbaren Verwandlungen der Tiere — das Wiederwachstum von Teilen die monströse Stellung von Organen — und besonders über die direkte Einwirkung des Pollens auf die

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Mutterform u. s. w. nachdenke. Es scheint mir oft fast gewiss, dass die Charaktere der Vorfahren einzig vermittelst materieller Atome, die von jeder Zelle beider Eltern herstammen und im Kinde sich entwickeln, 'photographiert' werden."

Allein Fritz Müller vermochte es ebensowenig, wie Haeckel, sich mit dieser Hypothese näher zu befreunden, und Darwin schrieb am 9. October desselben Jahres an Hermann Müller:

"Ich bin erfreut, dass Sie einige gute Worte für die Pangenesis sagen, denn diese Hypothese hat wenig Freunde gefunden, Ihr Bruder, der einer der besten Beurteiler von der Welt ist, schrieb sehr im Zweifel. Sie hat sicherlich meine Gedanken geklärt und mir den Zusammenhang gewisser zahlreicher Klassen von Thatsachen in einer überraschenden und befriedigenden Weise gezeigt."

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Indessen hielt Darwin an seiner Hypothese fest und es lässt sich nicht verkennen, dass die Pangenesis-Hypothese für manche Erscheinungen eine sehr plausible Erklärung bietet, namentlich für jene häufigen Fälle von Missgeburten, bei denen Glieder verdoppelt oder in falscher Stellung erscheinen, sowie für das Reproduktionsvermögen verlorener Glieder bei niederen Tieren. In dieser Richtung hatte Fritz Müller im Jahre 1880 eine höchst auffallende Beobachtung an einer Garneele des Jtajahy gemacht. Wenn die Krebse verlorene Glieder neu ergänzen, so erscheinen dieselben bei diesen und andern Arten nicht sogleich in der definitiven Form, sondern zeigen erst eine Gestalt dieser Gliedmassen, wie sie bei einigen verwandten Arten vorkommen und offenbar einer Ahnenform angehört haben, worauf sie erst nach mehreren Häutungen die der jetzt lebenden Art zukommende Gestalt erlangen. Die betreffende Beobachtung wurde im "Kosmos") veröffentlicht, aber da ich wusste, wie sehr sie Darwin im Sinne seiner Pangenesis-Hypothese interessieren würde, sandte ich ihm schon vor der Veröffentlichung eine Abschrift und er erwiederte darauf unter dem 28. November 1880:

Ich weiss nicht, zu welcher Zeit ich so sehr erstaunt gewesen bin, wie durch Ihren Bericht über die Krebsart, welche ihre Beine durch diejenigen einer Ahnenform ersetzt. Wenn ich den Fall verstehe, muss es eine Art von lokalisiertem Rückschlag sein! Dies scheint mir die Pangenesis-Hypothese zu unterstützen, welche in dieser Welt kaum irgend welche Freunde besitzt. Ich kann begreifen, dass eine kleine Ansammlung von Molekülen (d. h. eins meiner imaginären Keimchen) in einem Organismus für eine fast beliebige Zeitdauer schlummernd bleibt; aber ich denke, es müsste für Haeckel schwierig sein, jemand zu überzeugen, dass gewisse Moleküle, aus denen der Körper aufgebaut ist, begonnen haben, für zahllose Generationen in einer eigentümlichen Weise zu vibrieren, um, wenn die Gelegenheit sich bietet, ein ahnenäbnliches Glied zu bilden. Wenn ich mich recht erinnere, so weicht auch der reproducierte Schwanz einer Eidechse von ihrem normalen Schwanze ab. Ich habe einen in leichtem Grade analogen Fall mitgeteilt, nämlich denjenigen einer Henne, welche, als sie unfruchtbar geworden war, das männliche Gefieder einer Ahnen-Generation annahm und nicht dasjenige ihrer eigenen Generation."

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[To Fritz Müller [before 10 December 1866]]

"Ich habe Ihre Abhandlung über Martha erhalten; sie ist so wunderbar,wie die wunderbarsten Orchideen: Ernst Haeckel überbrachte mir den Aufsatz und brachte einen Tag mit mir zu. Ich habe selten einen angenehmeren, herzlicheren und freimütigeren Mann gesehen. Er ist jetzt in Madeira, wohin er, hauptsächlich um über Medusen zu arbeiten, geganen ist…."

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Auch diese That sachen waren in den Schriften der älteren Embryologen, namentlich E. von Baers deutlich enthalten, aber erst indem Haeckel sie von neuem in der Entwicklung zahlreicher Tiere der verschieden sten Klassen studierte und die zahlreichen Ausnahmen als nach trägliche Veränderungen der Entwicklungsgeschichte erklärte, trat das Gesetzmässige in diesen Entwicklungsvorgängen in das volle Licht. Wie schon F. Müller deutlich nachgewiesen hatte, wird die in der individuellen Entwicklungsgeschichte erhaltene geschicht liche Urkunde allmählich verwischt, indem die Entwicklung einen immer graderen Weg vom Ei zum fertigen Tiere einschlägt. Indem Haeckel diese Thatsachen zum Gesetz der abgekürzten (oder gefälschten ) Entwicklung (Cenogenesis) erhob, fügte er seiner ersteren Verallgemeinerung das notwendige Korrelativ hinzu, um mögliche Missverständnisse zu verhüten. Seine damit gewonnene Abrundung der allgemeineren Entwicklungsgeschichte hat ihm viel Widerspruch und Anfeindung zugezogen, aber der beste Beweis für die Tragweite seiner Abstraktionen bleibt, dass selbst die Gegner heute nicht mehr ohne die von ihm aufgestellten Gesichtspunkte und Kunstausdrücke auskommen können. Diese Klarheit der Haeckelschen Folgerungen war es, die Darwin von Anfang an fesselten, so dass er ihm nach Empfang eines Probebogens der "Generellen Morphologie" am 18. August 1866 schrieb:

"Ich empfing vor wenigen Tagen einen Probebogen Ihres neuen Werkes und habe ihn mit grossem Interesse gelesen. Sie häufen auf mein Buch über die Entstehung der Arten das grossartigste Lob, welches es jemals empfangen hat, und ich bin dafür aufrichtig dank bar, aber ich fürchte, dass, wenn dieser Teil Ihres Werkes einmal kritisiert werden wird, Ihr Beurteiler sagen wird, dass Sie sich zu stark ausgedrückt haben. Ihr Auszug scheint mir wundervoll deutlich und gut, und ein kleiner Umstand zeigt mir, wie klar Sie meine Ansichten verstehen, nämlich, dass Sie die Thatsache und Ursache der Divergenz des Charakters in den Vordergrund stellen, wie es keiner von allen

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gethan hat. Es erscheint mir jetzt seltsam genug, dass ich seit vielen Jahren klar die Notwendigkeit einsah, eine Tendenz zur Divergenz des Charakters anzunehmen, bis ich vor einigen Jahren die Erklärung finden konnte. Ich habe mit vielem Interesse Ihre Besprechung der Vererbung gelesen, um so mehr, als ich in meinem nächsten Werke, welches nicht vor einem halben Jahre veröffentlicht werden wird, einige Kapitel über diese und andre verwandte Gegenstände gebe und deshalb sehr viel Neugier empfinde, Ihre ferneren Kapitel, sobald sie veröffentlicht sind, zu lesen. Aber es ist ein schrecklicher Übelstand für mich, dass ich nicht mehr als ein oder zwei Seiten Deutsch lesen kann, sogar wenn es so klar, wie in Ihrem Buche geschrieben ist ..."

Nachdem er trotz alledem einen grössern Teil des Werkes gelesen hatte, drückte er seine Anerkennung von neuem aus, ohne dabei zu verhehlen, was ihm an dem Buche Bedenken erregt habe. Der Brief ist so charakteristisch für die Offenheit im Verkehre der beiden Naturforscher und für die Herzlichkeit der gegenseitigen Beziehungen, dass ich Haeckel besonders dankbar bin für seine Erlaubnis, gerade diesen Brief ungekürzt mitteilen zu dürfen:

"Ich hoffe," schreibt Darwin am 12. April 1867, "dass Sie in guter Gesundheit zurückgekehrt sind und dass Sie eine reiche Ernte auf naturwissenschaftlichem Gebiete gemacht haben. Schon seit einiger Zeit beabsichtigte ich, Ihnen über Ihr grosses Werk zu schreiben, von welchem ich kürzlich einen guten Teil gelesen habe. Aber es macht mich fast wütend, dass ich auf einmal bloss zwei bis drei Seiten unvollkommen lesen kann. Das Ganze würde unendlich interessant und nützlich für mich sein. Was mich am meisten überrascht hat, ist die besondere Klarheit, mit welcher selbst die weniger wichtigen Principien und die allgemeine Philosophie des Gegenstandes von Ihnen ausgedacht und methodisch angeordnet worden sind. Ihre Kritik des Kampfes ums Dasein bietet ein gutes Beispiel davon, wie viel klarer Ihre Gedanken sind, als die meinigen. Ihre gesamte Diskussion über Dysteleologie hat mich als besonders gut in Erstaunen gesetzt. Aber es ist aussichtslos, das eine oder andre besonders hervorzuheben, denn das Ganze scheint mir ausgezeichnet. Es ist ebenso aussichtslos, den Versuch zu machen, Ihnen für alle die Ehren zu danken, mit denen Sie mich immer von neuem überschütten. Ich hoffe, dass Sie mich

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nicht für unverschämt halten werden, wenn ich eine kritische Bemerkung mache: Einige Ihrer Bemerkungen über verschiedene Autoren erscheinen mir zu streng, obwohl ich kein gutes Urteil über diesen Gegenstand habe, da ich ein so kümmerlicher Schulknabe im Deutsch lesen bin. Ich habe indessen von verschiedenen ausgezeichneten Autoritäten und Bewunderern Ihres Werkes Klagen über die Härte Ihrer Kritiken vernommen. Dies scheint mir recht unglücklich, denn ich habe seit lange beobachtet, dass grosse Strenge die Leser verführt, die Partei der angegriffenen Person zu ergreifen. Ich kann mich bestimmter Fälle erinnern, in denen Herbigkeit direkt das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung hervorbrachte. Mit Sicherheit empfinde ich, dass unser guter Freund Huxley, obgleich er viel Einfluss besitzt, noch weit grösseren haben würde, wenn er gemässigter gewesen und weniger häufig zu Angriffen übergegangen wäre. Da Sie sicherlich eine grosse Rolle in der Wissenschaft spielen werden, so erlauben Sie mir, als älterem Mann, Sie ernstlich zu bitten, über das nachzudenken, was ich zu sagen gewagt habe. Ich weiss, dass es leicht ist zu predigen und scheue mich nicht, zu sagen, dass, wenn ich das Vermögen besässe, mit treffender Schärfe zu schreiben, ich meinen Triumph darin setzen würde, den armen Teufeln das Innere nach aussen zu kehren und ihre ganze Albernheit blosszustellen. Nichtsdestoweniger bin ich überzeugt, dass dies Vermögen nicht gut thut, sondern einzig Schmerz verursacht. Ich möchte hinzufügen, dass es mir, da wir täglich Männer von den selben Voraussetzungen zu entgegengesetzten Schlüssen kommen sehen, als eine zweifelhafte Vorsicht erscheint, zu positiv über irgend einen komplizierten Gegenstand zu sprechen, wie sehr sich auch ein Mensch von der Wahrheit seiner eigenen Schlüsse überzeugt fühlen mag. Und nun, können Sie mir meine Freimütigkeit vergeben? Obgleich wir ein ander nur ein einziges mal begegnet sind, schreibe ich Ihnen, wie einem alten Freunde, denn das sind meine Empfindungen Ihnen gegenüber.

"Hinsichtlich meines eigenen Buches über das Variieren im Zustande der Domestikation mache ich langsame, aber stetige Fortschritte im Korrigieren der Probebogen. Ich fürchte, dass es Sie nur wenig interessieren wird und Sie werden überrascht sein, wie schlecht ich einige der von Ihnen besprochenen Gegenstände angeordnet habe. Der hauptsächlichste Nutzen meines Buches wird in der reichlichen Anhäufung von Thatsachen beruhen, durch welche gewisse Sätze, wie ich glaube, festgestellt werden. Ich habe mich zu einer langen Hypothese verleiten lassen, aber ob dieselbe Sie oder irgendwen sonst interessieren wird, kann ich mir nicht einmal vorstellen. Ich hoffe, Sie werden mir binnen kurzem schreiben und mitteilen, wie Sie sich befinden und was Sie jetzt thun. Betrachten Sie mich, mein lieber Haeckel, ganz aufrichtig als den Ihrigen.

Ch. Darwin

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Über die "Schöpfungsgeschichte" schrieb Darwin wieder einen Brief, der hier mitgeteilt zu werden verdient, zu dessen Verständ nis aber vorher bemerkt werden muss, dass Haeckel ihm vorher von seinem in demselben Jahre geborenen Sohne Walther einige Mitteilungen gemacht hatte, die von physiologischem Interesse sind. Derselbe entwickelte nämlich, und vielleicht in noch höherem Grade als die meisten Säuglinge (obwohl dergleichen von den meisten Eltern übersehen wird), eine bedeutende Geschicklichkeit, mit der grossen Zehe an beiden Füssen zu greifen, so dass er z. B. einen Löffel auch mit dem Fusse ganz geschickt hielt. Unzählige Menschen haben das gesehen, und die Maler des Cinquecento haben die freie Beweglichkeit der grossen Zehe bei Kindern sogar manchmal auf ihren "heiligen Familien" dargestellt, aber niemand dachte darüber nach. Auf diese Mitteilung bezieht sich der Eingang des Darwin schen Briefes, der vom 19. November 1868 datiert ist.

Mein lieber Haeckel! "schrieb Darwin, "Ich muss Ihnen wiederum schreiben und zwar aus zwei Gründen. Erstens um Ihnen für Ihren Brief über Ihren Jungen zu danken, der sowohl mich als meine Frau völlig bezaubert hat. Ich beglückwünsche Sie herzlich zu seiner Geburt. Wie ich mich aus meinem eigenen Falle erinnere, war ich erstaunt, wie schnell die väterlichen Instinkte entwickelt werden, und in dem Ihrigen scheinen sie ungewöhnlich stark zu sein. Ich kenne sehr wohl den Blick auf eines Babys "Hinterbeine", aber ich möchte glauben, dass Sie der erste Vater waren, welcher jemals über die Ähnlichkeit in ihrem Verhalten mit denen eines Äffchens triumphierte. Was sagt denn Frau Haeckel zu solchen entsetzlichen Lehren?

"Ich hoffe die grossen blauen Augen und die Principien der Vererbung werden Ihr Kind gleich Ihnen zu einem Naturforscher machen, aber nach meiner eigenen Erfahrung zu urteilen, werden Sie erstaunt sein, zu finden, wie die gesamte geistige Anlage unserer Kinder mit

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den fortschreitenden Jahren wechselt. Ein junges Kind und dasselbe im nahezu erwachsenen Alter differieren manchmal fast so stark, wie eine Raupe und ein Schmetterling.

"Der zweite Punkt ist, Sie zu der beabsichtigten Übersetzung Ihres grossen Werkes, wovon ich letzten Sonntag durch Huxley erfuhr, zu beglückwünschen. . Ich habe einen guten Teil Ihres letzten Werkes gelesen, und der Stil ist schön, klar und leicht für mich. Den ersten Teil habe ich noch nicht gelesen, sondern begann mit dem Kapitel über Lyell und Darwin, welches mir, wie Sie leicht denken können, im hohen Grade gefiel. Ich denke, Lyell, der anscheinend über Ihre Übersendung des Buches sehr erfreut war, wird Ihnen ebenfalls für dieses Kapitel sehr dankbar sein (Vgl. S. 60). Ihre Kapitel über die Verwandtschaften und Genealogie des Tierreichs über raschen mich als bewunderungswürdig und voller originaler Gedanken. Manchmal indessen erregt mir Ihre Kühnheit Zittern, aber wie Huxley bemerkt, muss irgend einer kühn genug sein, um einen Anfang im Entwerfen von Stammbäumen zu machen.

"Obgleich Sie völlig die Unvollständigkeit der geologischen Über lieferung anerkennen, stimmt doch Huxley mit mir darin überein, zu denken, dass Sie manchmal etwas kühn sind, indem Sie zu sagen wagen, in welchen Perioden die einzelnen Gruppen zuerst erschienen seien. Ich habe diesen Vorteil vor Ihnen voraus, dass ich mich erinnern kann, wie wunderbar verschieden irgend eine in dieser Richtung vor zwanzig Jahren gemachte Aufstellung von der jetzigen sein würde, und ich erwarte, dass die nächsten zwanzig Jahre einen ganz ebenso grossen Unterschied machen werden. Betrachten Sie die monokotylischen Pflanzen, die soeben in der schwedischen Primordial - Formation ent deckt worden sind!

"Ich wiederhole, wie froh ich über die Aussicht der Übersetzung bin, denn ich glaube durchaus, dass dieses Werk und alle Ihre Werke einen grossen Einfluss auf den Fortschritt der Wissenschaft haben werden. Halten Sie mich, mein lieber Haeckel, für Ihren aufrichtigen Freund.

Charles Darwin.

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Nach Ausbruch des französisch - deutschen Krieges stellte sich Darwin natürlich wie die meisten seiner Lands leute, aber mit grösserem Herzensanteil, auf die Seite Deutschlands und schrieb am 28. August 1870 an Fritz Müller:

".. . Dieser höchst schreckliche Krieg wird alle wissenschaftlichen Bestrebungen in Frankreich und Deutschland für eine lange Zeit zum Stillstand bringen: Ich habe von niemanden in Deutschland etwas gehört, und weiss nicht, ob Ihr Bruder, Haeckel, Gegenbaur, Victor Carus oder meine andern Freunde in der Armee dienen. Dohrn ist zu einem Kavallerie-Regiment gegangen. Ich bin noch nicht einer einzigen Seele in England begegnet, die sich nicht über den glän zenden Triumph Deutschlands über Frankreich freuete: es ist eine höchst gerechte Wiedervergeltung dieser ruhmredigen, kriegliebenden Nation gegenüber. Als nach dem Erscheinen seines Werkes über die Abstammung des Menschen (Februar 1871) seine Gegner in England von neuem und mit der alten Schonungslosigkeit über ihn hergefallen waren, schrieb er am 2. August 1871 an Fritz Müller:

"…..Zunächst lassen Sie mich sagen, dass ich durch dasjenige, was Sie über mein Buch bemerken, sehr erfreut worden bin. Es hat einen sehr starken Absatz gefunden, aber ich bin sehr viel deshalb geschmäht worden, namentlich wegen des Kapitels über die moralischen Fähigkeiten, und die meisten meiner Recensenten betrachten das Buch als ein jämmerliches Machwerk. Gott weiss, was seine Verdienste

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in Wirklichkeit sein mögen, alles was ich weiss, ist, dass ich mein Bestes daran gethan habe. Im Vertrauen gesagt, glaube ich, dass Naturforscher die geschlechtliche Zuchtwahl in einem grössern Massstabe annehmen werden, als sie jetzt zu thun geneigt zu sein scheinen."

Darwin durfte sich auch diesmal mit der so viel anstän digeren Aufnahme seines Buches in Deutschland trösten. Aller dings waren ja, wie er selbst in der Vorrede mit seinem einzig dastehenden Gerechtigkeitssinn sagt, die meisten und wichtigsten seiner Schlüsse bereits von Haeckel gezogen worden; es blieb dem deutschen Leser mithin nur noch zu bewundern, bis in wie feine Beziehungen hinein Darwin die körperliche und geistige Ver wandtschaft des Menschen mit den Tieren verfolgt hatte. Dennoch scheint er damals der immer erneuten Schmähungen des Pöbels und der Vexationen seitens solcher Forscher, wie Mivarts, satt und müde gewesen zu sein, denn er fühlte sich den Sommer über sehr abgespannt und war monatelang nicht imstande, etwas zu thun. Nur das Interesse an der Fertigstellung seines Buches über den Ausdruck der Gemütsbewegungen, und an den ihrem Ab schluss entgegengehenden Beobachtungen über den Nutzen der Kreuzbefruchtung hielten ihn damals aufrecht. Am 27. De zember 1871 schrieb er an Haeckel die rührenden Worte:

"….Ich zweifle, ob meine Kräfte noch für viele schwierigen Werke ausreichen werden. Ich hoffe indessen nächsten Sommer die Ergebnisse meiner lang fortgesetzten Experimente über die wunderbaren, aus der Kreuzung entspringenden Vorteile zu veröffentlichen. Ich werde fortfahren zu arbeiten, so lange wie ich kann, aber es bedeutet nicht viel, wenn ich aufhöre, da so viele gute, vollständig ebenso tüchtige und vielleicht noch tüchtigere Männer, als ich es bin, vorbanden sind, um unser Werk weiter zu führen, und unter diesen ran gieren Sie als der erste…."

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Ich habe zwei Briefe Darwins an Haeckel aus dem Anfang des Jahres 1879 vor mir liegen, in denen er sich mit einer ihm ganz fremden Herbigkeit über den Mann ausspricht, "dem er früher eine besondere Verehrung gewidmet habe. So oft er auch sonst Haeckel gebeten hatte, in seinen

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Streitschriften die mildesten Worte zu wählen, diesmal fand er dessen scharfe Erwiderung, nachdem er sie genau durchgelesen, völlig am Platze und erklärte: "Ich stimme mit allem überein, was darin steht". Persönliche Angriffe konnte er in jeder beliebigen Höhe ertragen, aber dass ein Mann von solcher Autorität sich hin stellen und die freiwillige Unterdrückung von Überzeugungen verlangen konnte, zu denen jemand durch die freie Forschung geführt wird, das brachte ihn in Erregung, und er hoffte, "dass Virchow eines Tages selbst Scham über das, was er gethan, empfinden werde".

[…] Darwin begrüsste es mit lebhafter Freude, als er im Jahre 1876 die Nachricht erhielt, dass in Deutschland eine neue Zeitschrift, der "Kosmos" begründet worden sei, welche sich gänzlich der Ausbildung seiner Lehre widmen wollte. Er gab bereit willig seine Einwilligung, dass sein Name — "wenn er der Sache nützen könne"

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Wir haben über dieses wichtige und wiederum eine grosse Arbeitssumme einschliessende Werk bereits oben (S. 109) im Zusammenhange mit den verwandten Arbeiten gesprochen und wollen hier nur einige Zeilen aus dem Schlusse eines Briefes an Haeckel mitteilen, der vom 13. November 1875 datiert ist, und in welchem auch von der Fertigstellung dieses Buches die Rede ist:

"Ich babe wenig über mich selbst zu sagen. Meine Gesundbeit ist sicherlich besser als sie war, aber ich verliere noch immer, infolge täglichen Ubelbefindens, viele Zeit; doch ist alles vergessen, sobald ich bei der Arbeit bin. Ich bin jetzt damit beschäftigt, einen Bericht der zehnjährigen Versuche über das Wachstum und die Fruchtbarkeit von Pflanzen, die von gekreuzten und selbstbefruchteten Pflanzen entsprungen sind, aufzuzeichnen. Es ist wirklich wundervoll, welch' eine Wirkung Blumenstaub von einem andern Pflanzensämling, der abweichenden Lebensbedingungen ausgesetzt gewesen ist, im Vergleich zu Blumenstaub von derselben Blume oder von einem verschiede nen Individuum, welches aber lange denselben Bedingungen aus gesetzt gewesen ist, auf den Nachkommen hat. Der Gegenstand leitet auf das wahre Princip des Lebens, welches Wechsel in den Bedin gungen beinahe zu fordern scheint. Ich hatte auch eine neue und revidierte Ausgabe meiner "Variation unter Domestikation" vorzubereiten und habe versucht, das Kapitel über Pangenesis zu verbessern. Was ich in Zukunft thun werde, weiss der Himmel allein: ich sollte viel leicht allgemeine und grosse Gegenstände als zu schwierig für mich, mit meinen zunehmenden Jahren und meinem, wie ich annehme, geschwächten Denkorgan vermeiden…."

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F. Müller schrieb an Darwin, bald nachdem dieser seine Untersuchungen über windende Pflanzen abgeschlossen hatte, dass auch an den Stengeln nicht win dender Pflanzen eigentümliche Kreisbewegungen der Stengelspitze vorkämen, und dass seine (damals elfjährige) Tochter solche Be wegungen an der gemeinen Leinpflanze wahrgenommen habe. Darwin antwortete ihm damals (9. Dezember 1865):

"Das ist eine merkwürdige Beobachtung Ihrer Tochter, über die Bewegung der Stengelspitze von Linum, und sie würde, wie ich glaube, wert sein, weiter verfolgt zu werden; ich vermute, viele Pflanzen be wegen sich, der Sonne folgend, ein wenig, aber alle thun dies nicht, denn ich habe einige hübsch sorgfältig überwacht".

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"Ein Würzelchen", sagt Darwin, "kann mit einem grabenden Tiere, wie beispielsweise einem Maulwürfe verglichen werden, welches strebt, senkrecht in den Boden hinabzudringen. Durch beständige Bewegung seines Kopfes von der einen Seite zur andern, oder durch Circumnutieren wird es jeden Stein oder jedes andre Hindernis im Boden, ebenso wie jede Verschiedenheit in der Härte des Bodens fühlen und wird sich von dieser Seite wegwenden. Wenn die Erde auf einer Seite feuchter ist, als auf der andern, wird es sich dahin als nach einem bessern Jagdgrunde wenden. Trotzdem wird es nach jeder Untersuchung durch das Gefühl der Schwerkraft imstande sein, seinen Lauf abwärts wieder aufzunehmen und sich in eine grössere Tiefe ein zugraben."

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Ein anderer Grübler, den ich hier nicht namhaft machen will, hatte die nicht viel wahrscheinlichere Ansicht ausgesprochen, dass die Sinnpflanzen vielleicht durch ihre hastigen Bewegungen die Tiere, welche sich ihnen nähern, um sie abzuweiden, in Schrecken setzen und ver scheuchen möchten. Alle diese Vermutungen hatten sicher auch das Nachdenken Darwins bereits gekreuzt, aber sie hatten seinen eigenen Einwendungen nicht standhalten können und er verfolgte eine andre, mehr verheissende Gedankenreihe, über die er in der letzten Zeit mit Fritz Müller verhandelte, da dieser Gelegenheit hatte, die Mimosen und andere Sinnpflanzen in der Natur zu studie Da er mit dem ebengenannten Naturforscher wie gewöhnlich auch über seine zuletzt in Angriff genommenen Arbeiten eifrig ver handelte, so wird es alle seine Verehrer erfreuen, aus einigen an denselben gerichteten Briefen wenigstens einige Andeutungen über seine letzten Arbeiten zu erhalten. Am 20. März 1881 schrieb er unter anderm:

"…nunmehr, da ich mich sehr alt fühle, bedarf ich des Reizes irgend einer Neuigkeit, um mich zur Arbeit zu veranlassen. Diesen Stimulus haben Sie mir im weiten Massstabe in Ihrer schätzenswerten Ansicht über die Bedeutung der verschiedenfarbigen Staubgefässe in vielen Blumen gegeben. 12. April 1881:

"Ich schrieb nach Kew, um Pflanzen mit ver schiedengefärbten Antheren zu erhalten, aber ich erlangte nur sehr geringe Auskunft, da Systematiker, welche getrocknete Pflanzen beschreiben, wenig auf solche Punkte achten ……Im Laufe des nächsten Herbstes oder Winters denke ich meine Notizen über den Nutzen oder die Bedeutung des "Reifs- oder der wachsartigen Ausscheidung, welche manche Blätter blaugrün macht (falls sie der Veröffentlichung wert erscheinen) zusammenzustellen. Ich glaube Ihnen schon mitgeteilt zu haben, dass mich meine Experimente zu der Vermutung geführt haben, die Bewegung der Blätter von Mimosa, Desmodium und Cassia beim Erschüttern oder Bespritzen geschehe, um die Wassertropfen abzuschütteln. Wenn Sie einmal im schweren Regen gefangen sitzen, würde ich Ihnen höchlichst verbunden sein, wenn Sie diese Bemerkung in Ihrem Gedächtnis bewahren und auf die Stellung solcher Blätter acht geben wollten..."

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Sehr bald konnte Fritz Müller an verschiedenen in seinem Garten gezogenen Sinnpflanzen die gewünschten Beobachtungen machen, und auf seine Mitteilungen darüber antwortete Darwin, der damals eine kleine Erholungsreise gemacht hatte, am 4. Juli 1881:

"Ihre Freundlichkeit ist ohne Grenzen und ich kann Ihnen nicht sagen, wie sehr Ibr letzter Brief vom 31. Mai mich interessiert hat. Ich habe Stösse von Noten über die Wirkungen des auf Blättern bleiben den Wassers und ihrer Bewegungen, um (wie ich annehme) die Tropfen abzuschütteln. Aber ich habe seit langer Zeit diese Notizen nicht durch gesehen und war dazu gelangt, zu denken, dass meine Bemerkung viel leicht nur auf Einbildung beruhe, aber ich hatte mir vorgenommen, mit Experimenten anzufangen, sobald ich in mein Heim zurückgekehrt sein würde. Nunmehr aber mit Ihrem unschätzbaren Briefe über die Stellung verschiedener Pflanzen während des Regens (ich habe einen entsprechenden Fall von einer Acacia aus Süd-Afrika) werde ich den Antrieb haben, im Ernst zu arbeiten.

13. November 1881:… "Ich habe Ihnen wenig oder nichts über mich selbst zu erzählen. Seit ein paar Monaten bin ich beschäftigt gewesen, die Wirkungen des kohlensauren Ammoniaks auf Chlorophyll und auf die Wurzeln verschiedener Pflanzen zu beobachten; aber der Gegenstand ist zu schwierig für mich und ich kann die Bedeutung einiger Thatsachen, die ich beobachtet habe, nicht verstehen. Das blosse Niederschreiben von neuen Thatsachen ist aber eine langweilige Arbeit (dull work).—

Der nächste Brief Darwins bezieht sich grösstenteils wieder auf den Schutz der Blätter gegen Feuchtigkeit. Fritz Müller hatte ihm mehrere Beispiele niedrig wachsender Pflanzen mitgeteilt, deren Blätter auf der Unterseite mit einer Wachsschicht bedeckt sind, und dabei die Frage aufgeworfen, ob dies ein Schutzmittel gegen das Bespritzen mit Feuchtigkeit und Schlamm von unten her sein könne? Darwin antwortete auf die von Proben derartiger Blätter begleitete Mitteilung unter dem 19. Dezember 1881:

"….Vielen Dank für die Thatsachen betreffs der Wirkungen von Regen und Schlamm in Bezug auf die Wachsausscheidung. Ich habe viele Fälle, bei denen die Unterseite besser als die Oberseite beschützt war, so viel ich glaube, bei Sträuchern und Bäumen beobachtet, so dass der Vorteil bei niedrigwachsenden Pflanzen wahrscheinlich nur ein zufälliger ist. Da ich diesen Brief entfernt von meinem Hause schreibe, 80 war ich nicht geneigt, mehr als ein Blatt der Passiflora zu pro bieren, und dies kam auf der Unterseite ganz trocken und auf der

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Oberseite ganz nass aus dem Wasser. Ich habe noch nicht ange fangen, meine Notizen über diesen Gegenstand zusammenzustellen, und weiss im ganzen noch nicht, ob ich imstande sein werde, viel daraus zu machen. Die wunderlichste kleine Thatsache, welche ich beobachtet babe, ist, dass bei Trifolium resupinatum eine Hälfte des Blattes (ich denke die der rechten Seite, wenn das Blatt vom Scheitel betrachtet wird) durch Wachsausscheidung beschützt ist und die andere Hälfte nicht, so dass, wenn das Blatt ins Wasser getaucht wird, genau eine Hälfte des Blattes trocken und die andre Hälfte nass herauskommt. Was die Bedeutung davon sein kann, vermag ich nicht einmal zu vermuten

"Ich las in der letzten Nacht Ihren sehr interessanten Artikel über die Blätter der Crotalaria im Kosmos und war mithin sehr froh, die von ihnen gesandten trocknen Blätter zu sehen: es scheint mir ein sehr merkwürdiger Fall. Ich zweifle einigermassen, ob er sich auf Lupinus anwenden lassen wird, denn wenn mein Gedächtnis mich nicht täuscht, verhalten sich alle Blätter derselben Pflanze manchmal in der selben Weise. Aber ich will versuchen, einige Samen derselben Lupinen- Art zu erlangen, um sie im Frühjahr auszusäen. Das Alter in dessen meldet sich bei mir und es verwirrt mich, zur Zeit mehr als einen Gegenstand in der Hand zu haben. Der Kosmos scheint mir ein sehr interessantes Journal, und ich sehe, da ist ein Artikel über geschlechtliche Zuchtwahl (in demselben Hefte), den ich lesen muss, da er alle meine Schlüsse umzustossen scheint..."

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Die Vollendung des "Handbuchs der ver gleichenden Embryologie" von Francis Balfour, und die endliche Fertigstellung der Übersetzung von Hermann Müllers "Befruch tung der Pflanzen", zu der er noch am 6. Februar 1882 eine warm empfundene Vorrede schrieb, gehörten zu den letzten Freuden Darwins in dieser Richtung. Er konnte glücklicherweise nicht ahnen, wie bald ihm gerade diese beiden Forscher, auf deren Ar beiten er mit besonderer Hoffnung blickte, im Tode folgen würden. Über das Buch des ersteren schrieb er am 4. Januar 1882 an Fritz Müller:

"Ich muss einige wenige Zeilen schreiben, um Ihnen für Ihren Brief vom 2. Dezember zu danken, obwol ich nichts Besonderes zu

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sagen habe. Ihre Anerkennung des Balfourschen Buches hat mich ausserordentlich erfreut, denn obgleich ich eigentlich nicht darüber urteilen kann, schien es mir doch eines der wertvollsten Bücher unter denen, die seit beträchtlicher Zeit veröffentlicht worden sind. Balfour ist ein ganz junger Mann, und wenn er seine Gesundheit behält, wird er glänzende Arbeiten leisten. Er ist der jüngere Bruder eines Schotten, des immens reichen Parlaments-Mitgliedes A. Balfour und Neffe eines sehr bedeutenden Edelmanns, des Marquis von Salisbury. Er selbst besitzt ein schönes Vermögen, so dass er seine ganze Zeit der Biologie widmen kann. Er ist sehr bescheiden und sehr angenehm, besucht uns hier oft und wir lieben ihn sehr..."

Fritz Müller hatte damals den interessanten Fall einer schönen, zu den Pontederiaceen gehörigen Wasserpflanze, der trimorphen Eichhornia crassipes beobachtet, die sich, obwohl nur in einem Exemplar der mittelgriffligen Form eingeführt, im Itajahy-Fluss bald dermassen verbreitete, dass sie, unter Verdrängung der vor handenen Eichhornia - Arten, prachtvoll blühende, schimmernde Wiesen längs der Ufer bildete. Ihre Samen werden von den sich niederbiegenden Fruchtkapseln in den Schlamm gesät, keimen aber, wie es scheint, nicht eher, als bis sie einmal trocken gewesen sind, was wahrscheinlich die Verbreitung der Samen durch Sumpf vögel erleichtert. Auf diese Darwin mitgeteilten Einzelheiten bezieht sich die Fortsetzung des obigen Briefes:

"Ihr Pontederiaceen-Fall ist sehr merkwürdig: Was für ein schönes Beispiel von Verdrängung einer Art durch die andere (selbst unter dem anscheinenden Nachteil, dass bloss die mittelgrifflige Form eingeführt war) würde das für mich gewesen sein, als ich den "Ursprung der Arten" schrieb. Ich habe über die Wirkungen des Ammoniumkarbonats auf die Wurzeln weiter gearbeitet; das Hauptergebnis war, dass bei gewissen Pflanzen die Wurzelzellen, obgleich sie in frischen, dünnen Schnitten dem Anschein nach durchaus nicht von einander verschieden sind, sich dennoch in der Natur ihres Inhalts bedeutend verschieden erweisen, wenn sie für einige Stunden in eine schwache Auflösung von Ammonium-Karbonat getaucht werden". (Am Rande des Briefes:) "Wie ich mich erinnere, riet ich Ihnen einst, ein "Journal eines Naturforschers in Brasilien" oder ein Werk unter einem der-

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artigen Titel zu schreiben und in demselben eine Zusammenstellung Ihrer zahllosen und höchst interessanten Beobachtungen zu geben; ich wünschte, dass meine Anregung Frucht tragen möchte."

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So angestrengt Darwin sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, ohne von einem anderen Antrieb, als dem der Erkenntnis begierde, dazu angestachelt zu werden, so verriet er doch stets eine ausgesprochene Neigung, die Arbeiten anderer Naturforscher für viel mühevoller und ausgedehnter zu halten, als die seinigen und letztere zu ermahnen, ihre Kräfte zu schonen und Mass zu halten. So schrieb er am 20. Januar 1873 an Haeckel, als ihm dieser sein mit vielen sorgsam ausgeführten Tafeln ausgestattetes Werk über die "Kalkschwämme" gesandt hatte:

"Mein lieber Haeckel! Ich empfing vor ungefähr zehn Tagen Ihr prachtvolles Werk und bin aufrichtig erstaunt über die Summe der Arbeit, die es Ihnen gekostet haben muss. Die schönen Illustrationen müssen, wie ich mir denke, allein Monate auf Monate harter Arbeit erfordert haben. Ich habe mit grossem Interesse die Teile, welche sie angestrichen haben, wie auch einige andere durchgelesen. Alles was ich gelesen habe, ist äusserst reich an philosophischen Diskussionen über viele Punkte. Ich wünsche Ihnen zu der Vollendung dieses grossen Unternehmens herzlich Glück und zweifle nicht, dass es bei denjenigen (ach! in diesem Lande an Zahl wenigen) Naturforschern, die imstande sind, es zu schätzen, Beachtung finden wird. Sie sind ein wunderbarer Mann, aber nun erweisen Sie sich auch als ein weiser Mann, indem Sie sich einige Ruhe gönnen! Ihr bewundernder, Freund

Charles Darwin."

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Sechs Jahre später, als Haeckel mit der Bearbeitung der auf der Challenger-Expedition gefangenen Radiolarien ein ungeheures Arbeitsmaterial übernommen hatte, schrieb Darwin: "Ums Himmelswillen überbürden Sie Ihr Gehirn nicht, und denken Sie stets daran, was für ein zartes Organ es ist."

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Die Antwort auf diese Mitteilung war ein am Morgen des Empfangtages an Dr. Hermann Müller in Lipp stadt gerichteter Brief, aus welchem ich das Folgende wörtlich mitteile:

"….Mit derselben Post erhielt ich auch einen Brief von Dr. Ernst, welcher mir von der schrecklichen Gefahr bei einer Überschwemmung erzählt, aus der Ihr bewunderungswürdiger Bruder Fritz knapp sein Leben rettete. Ich freue mich, dass niemand aus seiner Familie verloren ging. Hat er viel von seinen Büchern, Mikroskopen, Instrumenten und anderem Eigentum verloren? Sollte er in dieser Beziehung gelitten haben, so könnte mir nichts grössere Freude bereiten, als die Erlaubnis, ibm fünfzig oder hundert £ senden zu dürfen. Glauben Sie, dass er mir gestatten würde, dies zu thun? Die Summe würde einzig im Interesse der Wissenschaft gesandt werden, damit die Wissenschaft nicht unter seinem Eigentumsverlust zu leiden hätte. Ich bitte, haben Sie die grosse Freundlichkeit, mir bald zu raten. Nichts würde mir schmerzlicher sein, als Ihren Bruder zu beleidigen, und nichts würde mich mehr befriedigen, als imstande zu sein, ihm nach irgend einer Richtung in leichter Weise (slightly) beizustehen. Bitte lassen Sie mich baldig wissen .

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Aber seine Auffassung war weit entfernt von derjenigen jener reaktionären Parteien, die unter dem Deckmantel der Barmherzigkeit, der physiologischen und medizinischen Forschung die Hauptader unterbinden möchten, und als ihn Professor Holm gren in Upsala brieflich ersuchte, durch ein offenes Wort den Missbrauch seines Namens in dieser Richtung zu verhindern, ant wortete er demselben unumwunden am 14. April 1880 das Folgende:

Werter Herr! In Beantwortung Ihres freundlichen Briefes vom 4. April bin ich nicht abgeneigt, meine Meinung hinsichtlich des Rechts, mit welchem Versuche am lebenden Tier angestellt werden, zu äussern. Ich gebrauche diesen letzteren Ausdruck, weil er korrekter und um fassender ist, als derjenige der Vivisektion. Sie haben die Freiheit, jeden beliebigen Gebrauch, welcher Ihnen geeignet dünken mag, von diesem Briefe zu machen, aber wenn er veröffentlicht wird, würde ich wünschen, dass er vollständig erscheint. Ich bin mein ganzes Leben hindurch ein entschiedener Anwalt der Menschlichkeit den Tieren gegenüber gewesen und habe in meinen Schriften, was ich konnte, gethan, diese Pflicht zu beweisen. Als vor einigen Jahren die Agitation gegen die Physiologen in England begann, wurde versichert, dass unmenschlich verfahren und den Tieren nutzloses Leid verursacht werde, und ich sah mich veranlasst, zu denken, dass es rätlich sein möchte, einen Parlaments-Beschluss über den Gegenstand zu haben. Ich nahm deshalb einen thätigen Anteil an dem Versuch, ein Gesetz durchgebracht zu erhalten, von der Art, dass es alle gerechte Ursache zur Klage be seitigt und den Physiologen Freiheit zur Verfolgung ibrer Untersuchung gegeben hätte, — eine Bill, sehr verschieden von dem Beschluss, welcher inzwischen durchgebracht worden ist. Es ist gerecht hinzuzufügen, dass die Untersuchung des Gegenstandes durch eine königliche Kommission bewies, dass die gegen unsere englischen Physiologen erhobenen Anklagen falsch waren. Nach allem, was ich gehört habe, fürchte ich indessen, dass in einigen Teilen Europas den Leiden der Tiere wenig Rücksicht geschenkt wird, und wenn dies der Fall ist, würde ich froh sein, wenn die Gesetzgebung gegen Unmenschlichkeit in einem solchen Lande vorginge. Auf der andern Seite weiss ich, dass die Physiologie möglicherweise nicht vorwärts schreiten kann, ausgenommen mit Hülfe von Experimenten an lebenden Tieren, und ich empfinde die tiefste Überzeugung, dass derjenige, welcher den Fortschritt der Physiologie verzögert, ein Verbrechen gegen die Menschheit begeht. Wer irgend sich des Standes dieser Wissenschaft vor einem halben Jahrhundert erinnert, wie ich es kann, muss zugeben, dass sie ungeheure Fort schritte gemacht hat, und jetzt in einem immer zunehmenden Masse voranschreitet.

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"Welche Verbesserungen in der medizinischen Praxis direkt der physiologischen Untersuchung zuzuschreiben sind, das ist eine Frage, welche in gehöriger Weise einzig durch solche Physiologen und ärztliche Praktiker erörtert werden kann, welche die Geschichte ihrer Grundbegriffe (subjects) studiert haben; aber so viel ich verstehen kann, sind die Wohlthaten bereits gross. Mag sich dies indessen verhalten, wie es will, niemand, der nicht gröblich unwissend hinsichtlich dessen ist, was die Wissenschaft für das menschliche Geschlecht geleistet hat, kann irgend einen Zweifel an den unberechenbaren Wohlthaten, die von der Physiologie in Zukunft nicht allein für den Menschen, dern auch für die niedriger stehenden Tiere ausgehen werden, auf recht erhalten. Betrachten wir zum Beispiel die Ergebnisse Pasteurs in der Modifikation der Keime der bösartigsten Krankheiten, denen, wenn es glückt, die Tiere erster Stelle mehr Er leichterung, als der Mensch empfangen werden. Es mag daran erinnert werden, wie viele Leben und welch eine furchtbare Summe von Leiden durch die mittelst der Experimente Virchows und anderer an lebenden Tieren gewonnene Kenntnis parasitischer Würmer erspart worden sind. In der Zukunft wird jeder über die diesen Wohlthätern der Mensch heit, wenigstens in England, bezeigte Undankbarkeit erstaunt sein. Was mich selbst anbetrifft, so erlauben Sie mir zu versichern, dass ich jeden, der die edle Wissenschaft der Physiologie befördert, ebre und immer in Ehren halten werde. Werter Herr, treulich der Ihrige

Charles Darwin."

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Man ersieht aus diesem lehrreichen Berichte, dass die Herren Freidenker den grossen Wahrheitssucher mit ihrer Kritik nicht geschont haben, während er die Pflichten der Gastfreundschaft soweit trieb, dieselbe ohne Widerspruch über sich ergehen zu lassen. Denn sonst hätte er ihnen wohl erwidern können, dass der Glaube an die bisher unerwiesene Möglichkeit einer Urzeugung oder an die Ewigkeit des Lebens ihm vor der Hand nicht gesicherter oder besser erscheine, als der an die anfängliche Er schaffung des Lebens. Aber so fest Darwin in seinen wissen schaftlichen Überzeugungen war, auf dem Gebiete des Glaubens liess er jedem seine Meinung und gestand, wie wir oben (S. 218) gesehen haben, bereitwillig zu, dass über diese Fragen seine Mei nung schwankend gewesen sei. Dass ihm die Idee der Urzeugung

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—für den Fall, dass ihre Möglichkeit bewiesen werden könnte,— in keiner Weise unsympathisch war, beweist ein Brief an Haeckel vom 2. September 1872, in welchem er mit Bezugnahme auf das damals erschienene Buch von Charlton Bastian "The beginnings of life", London 1872 sagt:

"...Unser englischer Dr. Bastian hat kürzlich ein Buch über sogenannte "freiwillige Entstehung" veröffentlicht, welches mich recht sehr in Verwirrung gesetzt hat. Er hat die Beobachtungen gesammelt, die von verschiedenen Naturforschern, von denen einige gute Beobachter waren, über das in lebende Organismen verwandelte Protoplasma aus den Zellen absterbender Pflanzen und Tiere gemacht worden sind. Er hat auch viele Experimente mit abgekochten Auf güssen in verschlossenen Flaschen angestellt, aber ich glaube, er ist kein sehr sorgfältiger Beobachter. Nichtsdestoweniger scheint mir das Haupt-Argument zu Gunsten der jetzt unter günstigen Umständen hervorgebrachten lebenden Wesen gewichtig (strong) zu sein; aber ich kann keinen endgültigen Schluss fassen..."

[page] 229

"Mein Herr!" erwiderte Darwin dem Veranstalter der Ovation, "Ihr prachtvolles Album ist soeben angelangt, und ich kann nicht Worte finden, meine Gefühle tiefer Dankbarkeit für diese ausserordent liche Ehre auszudrücken. Ich hoffe, dass Sie die hundert vier und fünfzig Männer der Wissenschaft, unter denen sich mehrere der am meisten verehrten Namen der Welt befinden, in Kenntnis setzen werden, wie dankbar ich für ihre Güte und edelmütige Sympathie, mir ihre Photographien zu meinem Geburtstage gesendet zu haben, bin. Erlauben Sie mir, Ihnen ferner auf das wärmste für die beigeschlossenen Briefe und Gedichte, die mich alle so hoch beglücken, zu danken. Die Ehre, welche Sie auf mich geleitet haben, ist gänzlich über meine Verdienste, denn ich weiss wohl, dass beinahe mein ganzes Werk auf Materialien basiert ist, die von vielen ausgezeichneten Beobachtern gesammelt wurden. Dieses für alle Zeit denkwürdige Zeugnis wird mich, so lange ich zu irgend einer Arbeit fähig bin, zu erneueten Anstrengungen reizen und bei meinem Tode wird es meinen Kindern ein höchst kostbares Erbe sein. Ich habe meine Gefühle ganz unangemessen ausgedrückt und werde stets bleiben

mein Herr

Ihr verbundener und dankbarer Diener

Charles R. Darwin.

[page] 233

Um dem Buche eine Probe von Darwins Handschrift bei fügen zu können, ist, weil kein anderer gleich kurzer, selbst geschriebener Brief zur Verfügung stand, das Dankschreiben, welches Darwin an seinem siebenzigsten Geburtstage nach Empfang des Gratulationsheftes an den Verfasser dieses Buches gerichtet hat, durch Lichtdruck wiedergegeben worden, und folgt deshalb, da die Entzifferung einzelner Worte manchem Leser Schwierigkeiten bereiten könnte, der Wortlaut hier zur Vergleichung:

Feb. 12. 1879.

Dear Sir!

I must write a line to thank you for your extremely kind letter. The Editors of Kosmos have done me a quite unprecedented honour by the publication of the last number, much of which, I can see, will interest me greatly. With cordial thanks

Yours faithfully

Charles Darwin.


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Citation: John van Wyhe, ed. 2002-. The Complete Work of Charles Darwin Online. (http://darwin-online.org.uk/)

File last updated 17 November, 2022