RECORD: Darwin, C. R. 1886. On the tendency of species to form varieties [in German]. In Ernst Krause ed., Gesammelte kleinere Schriften von Charles Darwin. Ein Supplement zu seinen grosseren Werken, pp. 3-8. Leipzig: E. Günther.
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Auszug aus einem unveröffentlichten Werke über den Artbegriff bestehend aus einem Theile des Kapitels: "Über das Variieren organischer Wesen im Naturzustande, über die natürlichen Mittel der Zuchtwahl, über die Vergleichung domestizierter Rassen und echter Arten"*).
De Candolle hat in einem beredten Passus auseinandergesetzt, dass die gesamte Natur im Kriege befindlich sei, ein Organismus mit dem andern oder mit der äussern Natur. Wenn man das zufriedne Antlitz der Natur betrachtet, mag dies zunächst bezweifelt werden, aber einiges Nachdenken wird unausweichlich beweisen, dass es wahr ist. Der Krieg ist indessen kein immerwährender, sondern ein solcher, welcher im mässigen Grade in kurzen, und schärfer als gewöhnlich in ausgedehnten Perioden wiederkehrt, und deshalb werden seine Wirkungen leicht übersehen. Es ist die in den meisten Fällen mit zehnfacher Kraft zur Anwendung gelangende Lehre von Malthus. Da es in jedem Klima für alle Bewohner Jahreszeiten von grösserem und geringerem Überflusse giebt, so vermehren sie sich in jedem Jahre, und der moralische Zwang, welcher in irgend einem geringen Grade die Vermehrung des
*) Journal of the Linnean Society. Vol. III (Zoology) 1858 p. 46. — Dieser Aufsatz schien uns, obwohl er nicht gerade als Ergänzung des Hauptwerks betrachtet werden kann, doch als historisches Dokument und erste Veröffentlichung der Zuchtwahltheorie an erster Stelle mitteilenswert. Darwin hat 1858 dazu bemerkt: "Dieses Manuskript war nicht zur Veröffentlichung bestimmt und wurde daher nicht mit Sorgfalt geschrieben".
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von Menschengeschlechts in Schranken hält, fällt hierbei gänzlich fort. Sogar das langsam sich vermehrende Menschengeschlecht hat sich in fünfundzwanzig Jahren verdoppelt, und wenn es seine Nahrung mit grösserer Leichtigkeit vermehren könnte, würde es sich in noch kürzerer Zeit verdoppeln. Aber für Tiere ohne künstliche Hilfsmittel muss die Futtermenge für jede Species im Durchschnitt konstant sein, während die Vermehrung aller Organismen dahin zielt, im geometrischen Verhältnisse und in der grossen Mehrzahl der Fälle, in einem ungeheuren Massstabe fortzuschreiten. Nehmen wir an, dass in einem bestimmten Bezirk acht Vogelpärchen vorhanden seien, und dass nur vier Paare denselben (die doppelten Bruten eingerechnet) in jedem Jahre bloss je vier Junge aufbringen und dass diese dahin gelangen, ihre Jungen in demselben Verhältnis gross zu ziehen, dann würden am Ende von sieben Jahren (wenn man gewaltsame Todesfälle ausschliesst, ein kurzes Lebensalter für einen Vogel!) daselbst an Stelle der ursprünglichen sechszehn : 2048 Vögel vorhanden sein. Da eine derartige Zunahme ganz unmöglich ist, so müssen wir schliessen, dass entweder die Vögel nicht die Hälfte ihrer Jungen aufbringen, oder dass die durchschnittliche Lebensdauer eines Vogels, in Folge von Unfällen, nicht nahezu sieben Jahre erreicht. Wahrscheinlich wirken beide Einschränkungen gemeinschaftlich. Dieselbe Berechnungsweise bringt bei ihrer Anwendung auf alle Tiere und Pflanzen mehr oder weniger überraschende Ergebnisse, aber nur in sehr wenigen Fällen schlagendere, als beim Menschen.
Es sind viele praktische Illustrationen zu dieser Tendenz, sich rapid zu vermehren, aufgezeichnet worden, darunter die ausserordentlichen Mengen bestimmter Tiere, während eigentümlicher Jahreszeiten; so zum Beispiel wimmelte während der Jahre 1826-1828 in La Plata, als durch Dürre einige Millionen Stück Vieh umkamen, thatsächlich das ganze Land von Mäusen. Nun denke ich, kann nicht bezweifelt werden, dass sich während der Paarungszeit alle Mäuse (mit Ausnahme einiger wenigen Männchen oder Weibchen) regelmässig paaren, und dass deshalb dieser erstaunliche Zuwachs innerhalb dreier Jahre dem Umstande zugeschrieben werden muss, dass im ersten Jahre eine grössere Anzahl als gewöhnlich überlebte, sich dann fortpflanzte und so fort bis zum
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dritten Jahre, in welchem ihre Zahl in Folge der Rückkehr von feuchtem Wetter auf ihre gewöhnlichen Grenzen herabgedrückt wurde. Wo immer der Mensch Pflanzen und Tiere in ein neues und günstiges Land eingeführt hat, giebt es viele Berichte darüber, in wie erstaunlich wenigen Jahren das ganze Land mit denselben besetzt worden ist. Diese Zunahme würde notwendig aufhören, sobald das Land vollständig besetzt ist, und doch haben wir nach dem, was von wilden Tieren bekannt ist, allen Grund zu glauben, dass sich alle im Frühjahr paaren. In der Mehrzahl der Fälle ist es sehr schwierig, sich vorzustellen, wo die Hindernisse eingreifen, obgleich ohne Zweifel im allgemeinen bei den Samen, Eiern und Jungen, aber wenn wir uns erinnern, wie unmöglich es selbst bei dem (doch so viel besser, als jedes andre Tier gekannten) Menschen ist, aus wiederholten Gelegenheits-Beobachtungen abzuleiten, welches die mittlere Dauer seines Lebens sei, oder den in verschiedenen Ländern ungleichen Prozentsatz der Todesfälle den Geburten gegenüber zu ermitteln, so können wir kein Erstaunen darüber empfinden, dass wir unfähig sind, zu entdecken, wohin das Hindernis bei irgend einem Tier oder einer Pflanze fällt. Es müsste stets in Gedanken behalten werden, dass die hindernden Einflüsse in den meisten Fällen in einem regelmässigen, geringen Grade jährlich wiederkehren und in einem äussersten Grade während ungewöhnlich kalter, heisser, trockner oder feuchter Jahre, gemäss der Konstitution des in Frage stehenden Wesens, eintreten. Wird irgend ein Hindernis im geringsten Grade gemildert, so werden die geometrischen Zuwachskräfte bei jedem Organismus fast augenblicklich die Durchschnittszahl der bezüglichen Species erhöhen. Die Natur mag einer Oberfläche verglichen werden, auf welcher zehntausend starke Keile ruhen, die einander berühren und durch unaufhörliches Drängen gegeneinander getrieben werden. Um diese Gesichtspunkte vollständig auf die Wirklichkeit zu übertragen, ist vieles Nachdenken erforderlich. Malthus' Werk über den Menschen müsste studiert werden, und alle solche Fälle, wie die der Mäuse in La Plata, des Rindviehs und der Pferde, als sie zuerst in Amerika ausgesetzt wurden, des Vogels nach unsrer Berechnung u. s. w. sollten genau betrachtet werden. Man denke nach über das eingeborne und alljährlich in Wirkung tretende ungeheure Vervielfältigungs-Vermögen aller Tiere, über die zahllosen Samen,
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die Jahr für Jahr durch hunderterlei sinnreiche Einrichtungen über die gesamte Oberfläche des Landes zerstreut werden! Dennoch haben wir allen Grund anzunehmen, dass die mittlere Prozentzahl von jeder Art der Bewohner eines Landes für gewöhnlich konstant bleibt. Schliesslich vergegenwärtige man sich, dass diese Durchschnittszahl der Individuen (während die äussern Bedingungen dieselben bleiben) durch wiederkehrende Kämpfe gegen andere Species oder gegen die umgebende Natur (wie an den Grenzen der arktischen Regionen, wo die Kälte das Leben einschränkt) aufrecht erhalten wird, und dass gewöhnlich jedes Individuum einer jeden Species seinen Platz entweder durch eigne Kämpfe und die Befähigung, Nahrung in jeder Periode seines Lebens vom Eizustande aufwärts zu erlangen, oder aber (wenn bei kurzlebigen Individuen die Hauptbedrängnis in längern Zwischenräumen eintritt) durch den Kampf seiner Vorfahren mit andern Individuen derselben oder verschiedener Species, behauptet.
Dagegen lasse man die äusseren Bedingungen eines Landes sich verändern. Wenn dies in einem geringen Grade geschieht, so werden die relativen Verhältniszahlen der Bewohner in den meisten Fällen bloss leicht abgeändert werden; aber angenommen, die Zahl der Bewohner sei klein, wie auf einer Insel, und ein freier Zugang zu ihr von andern Ländern verwehrt, und der Wechsel der Bedingungen fahre zunehmend (neue Stufen bildend) fort, so müssen in einem solchen Falle die ursprünglichen Bewohner aufhören, den veränderten Verhältnissen so vollkommen angepasst zu sein, wie sie es ursprünglich waren. Es ist in einem frühern Teil dieses Werkes*) gezeigt worden, dass solche Veränderungen der äussern Lebensbedingungen durch ihre Einwirkung auf das Fortpflanzungssystem die Organisation derjenigen Wesen, welche am meisten beeinflusst werden, wahrscheinlich dazu veranlassen würden, bildsam zu werden, wie unter der Hand des Züchters. Kann es nunmehr bezweifelt werden, dass nach dem Kampfe, den jedes Individuum zu bestehen hat, um seinen Unterhalt zu finden, jede noch so kleine Variation im Körperbau, in den Gewohnheiten oder Instinkten, die dieses Individuum den neuen Bedingungen besser anpasst, zu seiner Stärke und Gesundheit beitragen muss?
*) D. h. des ungedruckten Original-Entwurfs. Vergl. "Entstehung der Arten". Cap. 1.
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Es würde in dem Kampfe eine bessere Chance haben, zu überleben, und diejenigen seiner Nachkommen, welche die, wenn auch noch so geringe Variation erbten, würden ebenfalls eine bessere Chance haben. Alljährlich werden mehr geboren als am Leben bleiben können; das geringste Körnchen in der Wags chale muss im Laufe der Dinge entscheiden, welche dem Tode anheimfallen und welche überleben sollen. Wenn nun diese Thätigkeit der Zuchtwahl auf der einen Seite und das Sterben auf der andern tausend Generationen hindurch fortarbeiten, wer wollte zu versichern wagen, dass sie keine Wirkung hervorbringen sollten, wenn wir uns erinnern, was Bakewell durch dasselbe Princip der Zuchtwahl in wenigen Jahren beim Rindvieh und Western bei Schafen bewirkten?
Man nehme, um ein erfundenes Beispiel von fortschreitenden Veränderungen auf einer Insel zu geben, an, die Organisation eines zum Hundegeschlecht gehörigen Tieres, welches hauptsächlich auf Kaninchen, zuweilen auch auf Hasen jagt, werde im geringen Grade bildsam, so dass seine Veränderungen den Grund gäben, die Zahl der Kaninchen sehr langsam zu vermindern und die Zahl der Hasen zunehmen zu lassen, so würde die Wirkung davon sein, dass der Fuchs oder Hund veranlasst würden, zu versuchen, mehr Hasen zu fangen: da ihre Organisation indessen etwas biegsam geworden ist, würden diejenigen Individuen mit den leichtesten Formen, längsten Gliedmassen und bestem Gesicht, wenn der Unterschied auch noch so klein wäre, etwas begünstigt werden und dazu neigen, länger zu leben und jene Zeit des Jahres, in der das Futter am knappsten ist, zu überstehen. Sie würden auch mehr Junge aufbringen, welche dazu neigen würden, diese geringen Besonderheiten zu erben; die weniger flinken würden unerbittlich dem Untergange verfallen. Ich habe keinen grös Grund daran zu zweifeln, dass diese Ursachen in tausend Generationen einen bemerkenswerten Effekt hervorbringen und die Gestalt des Hundes oder Fuchses dem Hasenfang statt dem Kaninchenfange anpassen würden, als daran, dass Windhunde durch Auswahl und sorgfältige Zucht verbessert werden können. Ebenso würde es sich unter ähnlichen Umständen mit Pflanzen verhalten. Wenn die Individuenzahl einer Species mit gefiederten Samen durch stärkeres Aussäungs-Vermögen auf ihrem eigenen
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Gebiete vermehrt werden kann (d. h. wenn die Hindernisse der Vermehrung, hauptsächlich die Samen betrafen), so würden diejenigen Samen, welche mit etwas mehr Federhaar versehen wären, im Laufe der Zeit am meisten ausgesät werden; eine grössere Anzahl so gebildeter Samen würden daher keimen und dahin zielen, Pflanzen hervorzubringen, welche das im leichten Grade besser angepasste Samenhaar erbten.*)
Ausser diesem natürlichen Mittel der Zuchtwahl, durch welches diejenigen Tiere - sei es in ihrem Ei,- Larven- oder reifen Zustande - erhalten werden, die dem Platze, den sie in der Natur ausfüllen, am besten angepasst sind, ist bei den meisten eingeschlechtlichen Tieren ein zweites Agens in Wirksamkeit, welches dahin arbeitet, den nämlichen Effekt hervorzubringen, nämlich der Kampf der Männchen um die Weibchen. Diese Kämpfe werden in der Regel nach dem Kriegsrechte entschieden, aber bei den Vögeln anscheinend durch die Reize ihres Gesanges, durch ihre Schönheit oder durch ihre Kunst der Bewerbungen, wie bei dem tanzenden Felshuhn von Guiana. Die kräftigsten und gesündesten Männchen müssen, vollkommene Anpassung einbegriffen, im allgemeinen bei ihren Fehden den Sieg erringen. Diese Art der Zuchtwahl ist indessen weniger rigoros als die andere; sie fordert nicht den Tod des weniger Erfolgreichen, sondern gestattet ihm nur weniger Nachkommen. Der Kampf fällt überdies in eine Jahreszeit, in welcher im allgemeinen das Futter im Überflusse vorhanden ist, und die hauptsächlichste Wirkung würde vielleicht die Abänderung der sekundären geschlechtlichen Merkmale betreffen, die nicht mit dem Vermögen, Futter zu erlangen oder sich gegen Feinde zu verteidigen, in Beziehung stehen, sondern nur um mit andern Männchen zu kämpfen oder zu rivalisieren. Das Ergebnis dieses Kampfes unter den Männchen mag in mancher Hinsicht demjenigen verglichen werden, welches solche Landleute erzielen, die weniger Aufmerksamkeit auf die sorgfältige Auswahl aller ihrer jungen Tiere als viel mehr auf den gelegentlichen Nutzen eines auserlesenen Männchen richten.
*) Ich kann darin nicht mehr Schwierigkeit sehen, als bei dem Pflanzer, der seine Varietäten der Baumwollenpflanze verbessert.
C. D. 1858.
Citation: John van Wyhe, ed. 2002-. The Complete Work of Charles Darwin Online. (http://darwin-online.org.uk/)
File last updated 28 November, 2022